Die Bestie im Menschen. Emile Zola

Die Bestie im Menschen - Emile Zola


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Herz schlug zum Springen, seine lüsterne Mordlust machte ihn angesichts dieses tragischen Todes rasend Ein Schritt brachte ihn näher an die Leiche heran; er glich jetzt einem nervösen Kinde, das sich die Furcht abgewöhnen will. –Ja, er würde es wagen, auch er würde es wagen!

      Ein Schnauben hinter seinem Rücken zwang ihn, zur Seite zu springen. Von seinen Gedanken gepackt, hatte er das Kommen eines Zuges überhört. Fast wäre er zermalmt worden. Der heiße Athem, das fürchterliche Keuchen der Maschine warnten ihn noch rechtzeitig. Der Zug schoß in einem Orkan von Lärm, Rauch und Flammen vorüber. Er war ebenfalls sehr besetzt. Der Strom von Reisenden nach Havre zu dem Feste am nächsten Tage fluthete noch immer. Ein Kind hatte sein Näschen gegen die Scheibe gedrückt und blickte in die dunkle Landschaft hinaus. Profile von Männern hoben sich ab und eine junge Frau ließ eine Fensterscheibe hinunter, um ein mit Butter und Zucker beschmiertes Stück Papier hinauszuwerfen. Lustig fuhr der Zug in die Ferne; er ahnte nicht, daß seine Räder fast einen Leichnam berührt hatten. Und der Körper ruhte noch immer auf dem Gesicht, umflackert von dem unsteten Licht der Laterne inmitten dieses überwältigenden Friedens der Nacht.

      Jacques verlangte es, die Wunde zu sehen, so lange er noch allein war. Aber die Furcht, man könnte vielleicht bemerken, daß er den Kopf berührt habe, hemmte sein Vorhaben. Er hatte sich ausgerechnet, daß Misard nicht vor dreiviertel Stunden mit dem Stationsvorsteher zurück sein könnte. Er zählte die Minuten, er dachte an Misard, diesen schleichenden, stillen Jammermenschen, der mit der ruhigsten Miene von der Welt mit kleinen Dosen Giftes ebenfalls mordete. Der Mord war also weiter kein Kunststück? Denn alle Welt mordete ja. Von Neuem beugte er sich über den Todten, das Verlangen kitzelte ihn so, daß ihm der ganze Körper juckte. Er wollte gar zu gern sehen, wie das gemacht worden, was da eigentlich ausgeflossen war, vor allem das rothe Loch! Wenn er den Kopf vorsichtig anfaßte, konnte kein Mensch etwas merken. Aber etwas anderes, eine sich selbst nicht eingestandene Furcht hielt ihn zurück, die Furcht vor dem Blut. Immer und überall gesellte sich in ihm zu dem Verlangen die Angst. Nur noch eine Viertelstunde mußte er allein aushalten und trotz seiner Furcht würde er sein Vorhaben vielleicht gewagt haben, wenn nicht ein Rascheln an seiner Seite ihn hätte erschrecken lassen.

      Es war Flore. Sie stand neben dem Leichnam und betrachtete ihn wie er. Sie mußte überall sein, wo es ein Unglück gab; wenn man meldete, daß ein Thier von einem Zuge zermalmt oder ein Mensch überfahren worden sei, sah man sie sicher herbeigelaufen kommen. Sie hatte sich wieder angezogen, sie wollte den Todten sehen, von welchem ihr Vater gesprochen. Nachdem sie einen Blick darauf geworfen, zögerte sie keinen Augenblick. Sie bückte sich, hob mit der einen Hand die Laterne auf und mit der anderen drehte sie den Kopf herum.

      »Achtsam, es ist verboten,« mahnte Jacques leise.

      Sie zuckte mit den Schultern. Der Kopf zeigte sich jetzt in dem gelblichen Lichte, das Gesicht eines Greises mit einer großen Nase und den blauen Augen eines ehemals blonden Menschen, die weit offen standen. Unter dem Kinn klaffte die entsetzliche Wunde, ein tiefer und erweiterter Schnitt durch die Kehle, als wäre mit dem Messer suchend darin herumgewühlt worden. Die rechte Seite der Brust war vollständig mit Blut begossen. Auf der linken Seite schimmerte in dem Knopfloche des Ueberziehers die Rosette der Ehrenlegion wie ein vereinzelter, dorthin verirrter Blutstropfen.

      Flore stieß einen leisen Schrei der Ueberraschung aus.

      »Bei Gott, der Alte!«

      Jacques beugte sich noch weiter hinunter, um besser sehen zu können, wobei sein Haar das ihrige streifte. Sein Athem ging ihm fast aus, so weidete er sich an dem Schauspiel.

      »Der Alte, der Alte!« wiederholte er, ohne zu wissen, was er sagte.

      »Ja doch, der alte Grandmorin –der Präsident.«

      Einen Augenblick noch sah sie prüfend in das bleiche Antlitz mit den zusammengebissenen Lippen und den unheimlich blickenden Augen. Schon begann die Todesstarre den Körper steif zu machen. Sie ließ den Kopf fallen, der auf den Boden aufschlug und die Wunde verdeckte.

      »Nun hört das Gescherze mit jungen Mädchen auf,« begann sie etwas leiser. »Das ist gewiß wegen Einer so gekommen ... O meine arme Louisette! O dieses Schwein, so hat man es recht gemacht!«

      Ein langes Schweigen trat ein. Flore hatte die Laterne wieder hingestellt und wartete. Verstohlene Blicke wanderten zu Jacques hinüber, der, durch den Todten von ihr getrennt, kaum noch athmete und wie kopflos von dem soeben Gesehenen, wie ohnmächtig dastand. Es mußte bald elf Uhr sein. Sie geduldete sich noch einige Augenblicke, sie schien überrascht von seinem Schweigen. Eine nach den Vorgängen des Abends natürliche Verlegenheit hinderte sie, zuerst zu sprechen. Jetzt ließen sich aber Stimmen vernehmen, es war der Vater, der den Bahnhofsinspector geholt hatte. Sie wollte nicht gesehen werden und entschloß sich daher, ihn anzureden.

      »Du willst nicht bei uns schlafen?«

      Er zitterte, ein innerer Kampf schien ihn erbeben zu lassen.

      »Nein, nein!« stieß er endlich mit der letzten Kraft der Verzweiflung hervor.

      Sie rührte sich nicht, aber die glatt herniederfallende Linie ihrer kräftigen Mädchenarme drückte deutlich genug ihren Kummer aus. Sie wollte, daß er ihr ihr Widersetzen nicht nachtrage und fragte nochmals demüthig:

      »Du wirst also nicht zu uns kommen, ich soll Dich nicht wiedersehen?«

      »Nein, nein!«

      Die Stimmen kamen näher. Ohne nach seiner Hand zu haschen, denn er schien absichtlich den Todten zwischen sich und ihr zu lassen, ja selbst ohne ihm das kameradschaftliche Lebewohl aus ihren Kindertagen zugerufen zu haben, ging sie davon und verlor sich in der Finsterniß. Ihr Athem ging rauh, als unterdrückte sie ein Schluchzen.

      Gleich darauf war der Bahnhofsinspector mit Misard und zwei Arbeitern zur Stelle. Er konstatirte ebenfalls sofort die Identität: es war in der That der Präsident Grandmorin. Er kannte ihn sehr gut, denn er sah ihn oft genug auf seiner Station den Zug verlassen, wenn er sich nach Doinville zu seiner Schwester, Frau Bonnehon, begab. Der Körper konnte auf dem Platze bleiben, wo er lag, nur ließ er ihn mit einem von einem seiner Leute mitgebrachten Mantel bedecken. Ein Beamter sollte mit dem elf Uhr Zuge von Barentin abreisen, um den kaiserlichen Prokurator in Rouen von dem Geschehenen zu benachrichtigen. Doch war auf das Erscheinen desselben vor fünf oder sechs Uhr Morgens nicht zu rechnen, denn er mußte gemeinsam mit dem Untersuchungsrichter, dem Gerichtsschreiber und einem Arzt an die Unglücksstätte kommen. Der Bahnhofsvorsteher ließ also einen Mann, der sich während des übrigen Theiles der Nacht mit einem zweiten abzulösen hatte, mit der Laterne als Wache bei dem Todten zurück.

      Ehe Jacques sich entschloß, in irgend einem Schuppen der Station Barentin, von wo aus er erst um sieben Uhr zwanzig Minuten nach Havre zurückkehren konnte, seine müden Glieder auszustrecken, stand er dort noch lange unbeweglich, wie besessen. Der Gedanke, daß man den Untersuchungsrichter erwarte, verwirrte ihn, als wäre er selbst ein Mitschuldiger. Sollte er sagen, was er beim Vorüberjagen des Schnellzuges gesehen hatte? Er entschloß sich zunächst, es sagen zu wollen, denn was hatte er zu fürchten? Uebrigens war es zweifellos seine Pflicht. Dann aber überlegte er sich, wozu würde das gut sein? Er konnte kein einziges thatsächliches Factum melden, er konnte keine einzige genaue Einzelheit von dem Mörder angeben. Er wäre ein Thor, sich da hineinzumischen, seine Zeit zu vergeuden und sich aufzuregen, ohne Nutzen für irgend Jemand. Nein, nein, er wollte lieber nichts sagen! Er ging endlich davon, sah sich aber noch zweimal nach der düsteren Masse um, welche der vom gelblichen Scheine der Laterne beleuchtete Körper am Boden bildete. Eine empfindlichere Kälte sank vom nebligen Himmel auf die Trostlosigkeit dieser Einöde mit ihren dürren Anhöhen hernieder. Zug folgte noch immer auf Zug. Ein sehr langer ging nach Paris. Die unerbittliche mechanische Kraft trieb sie an einander vorüber ihren fernen Zielen, der Zukunft entgegen. Sie achteten nicht darauf, daß sie das halb abgeschnittene Haupt dieses Menschen streiften, den ein andrer Mensch umgebracht hatte.

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