Die Bestie im Menschen. Emile Zola

Die Bestie im Menschen - Emile Zola


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schöne Erfindung, darüber ist weiter kein Wort zu verlieren. Man reist schnell, man ist weiser geworden ... Aber wilde Thiere bleiben wilde Thiere und wenn man selbst noch bessere Maschinen erfinden würde, wilde Thiere würde es immer geben.«

      Jacques nickte bejahend mit dem Kopfe. Er sah soeben, daß Flore einem Karren, der zwei mächtige Steinblöcke führte, die Barriere öffnete. Die Landstraße wurde fast ausschließlich vor den Kärrnern aus Bécourt benutzt; es kam daher höchst selten vor, das Flore des Nachts aufstehen mußte, um die mit einem Vorlegeschloß versehene Barriere zu öffnen. Als er das Mädchen vertraut mit dem Kärrner, einem jungen gebräunten Manne, plaudern sah, rief er aus:

      »Oho! Cabuche ist wohl krank, sein Vetter Louis fährt ja sein Gespann? ... Der arme Cabuche, sehen Sie ihn oft, Pathe?«

      Sie hob die Hände ohne zu antworten und seufzte tief auf. Es hatte sich im vergangenen Herbst hier ein Drama abgespielt, das gewiß nicht geeignet war, ihr die Gesundheit wiederzugeben: ihre jüngere Tochter Louisette, welche als Hausmädchen bei Frau Bonnehon in Doinville diente, hatte sich eines Abends, halb wahnsinnig, zu ihrem guten Freunde Cabuche geflüchtet, der mitten im Walde ein Häuschen besaß, und war in seinen Armen gestorben. Es liefen Gerüchte umher, die den Präsident Grandmorin eines Verbrechens gegen die Sittlichkeit beschuldigten, aber man wagte nicht, sie sich laut zu wiederholen. Die Mutter selbst, die wohl genau wußte, wie die Sache lag, vermied es, auf diesen dunklen Punkt zurückzukommen. Heute aber sagte sie doch:

      »Nein, er kehrt nicht mehr bei uns ein. Er wird immer mehr zum bissigen Wolf ... Die arme Louisette, dieses liebe, zarte, sanfte Geschöpf! Sie würde mich gewiß geliebt und gepflegt haben, während Flore ... Du lieber Gott, ich will mich gewiß nicht beklagen, aber sie hat so etwas Störendes an sich, es muß alles nach ihrem Kopf gehen, hoch hinaus ist sie und heftig, und manchesmal bleibt sie stundenlang fort ... Alles das ist so traurig, so sehr traurig!«

      Jacques Blicke folgten dem Wagen, der jetzt über die Schienen rollte, während er aufmerksam zuhörte. Die Räder blieben oft an den Geleisen hängen und der Fuhrmann mußte mit der Peitsche knallen, während Flore durch Schreien die Pferde anfeuerte.

      »Teufel auch,« meinte Jacques, »wenn jetzt ein Zug käme, das gebe einen netten Brei!«

      »Keine Furcht,« antwortete Tante Phasie. »Flore ist mitunter höchst eigenthümlich, aber sie kennt ihr Geschäft und ist sehr umsichtig ... Gott sei Dank, in den letzten fünf Jahren ist hier nichts vorgekommen. Vordem wurde ein Mann gerädert. Wir haben es nur mit einer Kuh zu thun gehabt, die beinahe den ganzen Zug zur Entgleisung brachte. Man hatte den Körper des armen Thieres hier und den Kopf dort unten, dicht beim Tunnel, gefunden ... Wenn Flore wacht, kann man auf beiden Ohren schlafen.«

      Der Karren war glücklich hinüber, man hörte das Knirschen der Räder in den Geleisen ferner und ferner. Phasie's Gedanken kehrten zu ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Kapitel des körperlichen Wohlbefindens von sich und anderen, zurück.

      »Und Dir geht es jetzt ganz gut? Erinnerst Du Dich noch an die Krankheit, an welcher Du bei uns littest und für die selbst der Arzt keinen Namen fand?

      Sein Blick flimmerte unstät.

      »Mir geht es sehr gut, Pathe.«

      »Wirklich? Also der Schmerz hinter den Ohren, der Dir das Gehirn zu durchbohren schien, die plötzlichen Fieberanfälle und die jähe Schwermuth, die Dich wie ein Thier in einen einsamen Winkel niederzukauern zwang, alles das hat aufgehört?«

      Je mehr sie sprach, desto heftiger wurde in ihm das Gefühl der Uebelkeit, so daß er sie schließlich kurz angebunden unterbrechen mußte.

      »Ich versichere Sie, es geht mir ausgezeichnet ... Mir fehlt gar nichts mehr.«

      »Desto besser, mein Junge, desto besser ... Wenn es Dir auch schlecht ginge, mit mir stände es deshalb doch nicht anders. In Deinem Alter ist man auch immer gesund. Ach, die Gesundheit, es giebt nichts Schöneres .. Es ist jedenfalls hübsch von Dir, daß Du mich besuchst, anstatt Dich sonstwo besser zu unterhalten. Du issest bei uns und schläfst oben in der Vorrathskammer, neben Flore's Zimmerchen.«

      Noch einmal schnitt ihr das Signalhorn das Wort ab. Die Nacht war nun vollständig hereingebrochen. Als Beide zum Fenster hinausblickten, unterschieden sie nur undeutlich die Umrisse von Misard und einem zweiten Manne. Es hatte soeben sechs geschlagen und Misard übergab den Dienst seinem Stellvertreter, der die Nachtwache hatte. Jetzt war er endlich frei, nachdem er zwölf Stunden in dieser nur mit einem Tische unter der Apparatplatte, einem niedrigen Stuhle und einem Ofen ausgestatteten Bude zugebracht hatte, dessen zu starke Gluth ein forwährendes Offenhalten der Thür verlangte.

      »Aha, da ist er, er wird gleich kommen,« murmelte Tante Phasie, von Furcht ergriffen, vor sich hin.

      Der signalisirte Zug kam mit dem von Sekunde zu Sekunde lauter werdenden Getöse wuchtig näher. Der junge Mann mußte, gerührt von dem elenden Zustande, in welchem er sie sah und bemüht, sie zu trösten, sich vorbeugen, um verständlich zu werden.

      »Hören Sie, Pathe, sollte er wirklich schlechte Gedanken haben, so läßt er sie vielleicht fallen, wenn er weiß, daß ich mich hineinmische ... Sie thaten gut, mir die tausend Franken anzuvertrauen.«

      »Meine tausend Franken?« rief sie empört. »Weder Dir noch ihm ... Lieber krepire ich, sage ich Dir!«

      In diesem Augenblick sauste der Zug mit orkanartiger Gewalt vorüber, als hätte er alles, was ihm im Wege stand, zerschmettert. Vom Winde gefaßt erbebte das Haus. Dieser nach Havre bestimmte Zug war sehr besetzt, denn am kommenden Sonntage sollte dort ein Fest, der Stappellauf eines Schiffes, gefeiert werden. Trotz der Schnelligkeit des Zuges hatte man das Gefühl, daß hinter den erleuchteten Scheiben die Koupees voller Menschen steckten, die Vision einer Reihe dicht gedrängter Köpfe, deren Profil man genau erkannte. Sie folgten sich und verschwanden. Welch eine Welt! Menge auf Menge, schier endlos inmitten des Rollens der Wagen, des Keuchens der Lokomotiven, des Anschlagens des Telegraphen und des Läutens der Glocken. Das Eisenbahnnetz, ein niedergekauertes riesenhaftes Wesen schien es zu sein, mit dem Kopfe in Paris, den Wirbelbeinen längs der ganzen Strecke der Linie, den Füßen und Händen in Havre und den andern Endpunkten. Und das zog und zog vorüber, mechanisch, triumphirend, der Zukunft entgegen mit einer mathematischen Genauigkeit, freiwillig verkennend, was ihm zu beiden Seiten, verborgen und doch lebendig im Menschen zurückgeblieben ist: die ewige Leidenschaft und das ewige Verbrechen.

      Flore war die erste, welche die Küche betrat. Sie zündete eine kleine Petroleumlampe an, die keinen Lichtschirm hatte, und stellte sie auf den Tisch. Kein Wort wurde gewechselt, kaum ein Blick glitt zu Jacques hinüber, der den Rücken ihr zugekehrt, am Fenster stand. Auf dem Herde hielt sich eine Kohlsuppe warm. Sie servirte sie gerade, als auch Misard erschien. Er bezeugte keine weitere Ueberraschung, den jungen Mann hier zu erblicken. Er hatte ihn vielleicht kommen gesehen, aber er fragte ihn nicht, er kannte eben keine Neugierde. Ein Händedruck, drei kurze Worte, nichts weiter. Jacques mußte aus sich heraus die Geschichte von der gebrochenen Treibstange, seiner Absicht, seine Pathe zu umarmen und hier zu übernachten nochmals wiederholen. Misard hatte durch ein sanftes Neigen des Hauptes sein Einverständniß mit alledem zu erkennen gegeben, man setzte sich und aß ohne Hast, zunächst schweigsam. Phasie, die schon seit dem Morgen den Napf nicht außer Acht gelassen hatte, in welchem die Krautsuppe kochte, ließ sich auch einen Teller voll reichen. Aber als sich ihr Mann erhoben hatte, um ihr das von Flore vergessene Eisenwasser zu reichen, eine Karaffe, in welcher Nägel schwammen, nahm sie nichts. Er, demüthig und dienstbar, mit einem krankhaften Husten behaftet, sah nicht so aus, als ob er die ängstlichen Blicke bemerkte, mit denen sie seine geringsten Bewegungen verfolgte. Als sie Salz verlangte, welches auf dem Tische nicht zu sehen war, sagte er zu ihr, sie würde es noch einmal bereuen, so viel Salz zu essen, das mache sie gerade krank. Er erhob sich, um es zu holen und brachte ihr in einem Löffel ein paar Finger voll. Das Salz nahm sie voll Vertrauen; es reinige Alles, meinte sie. Dann sprach man von der seit einigen Tagen eingetretenen wirklich warmen Witterung, von einem in Maromme vorgekommenen Unglücksfall. Jacques mußte schließlich glauben, daß seine sonst so aufgeweckte Pathe an Alpdrücken leiden müsse, denn er konnte nichts in dem Benehmen des gefälligen Männchens mit den farblosen Augen entdecken, was zum


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