Mord im Cockpit. Wolf Heichele
war.
Plötzlich aber fuhr Nora wieder herum. Der Motor der Maschine heulte wieder auf!
Doppelt so laut wie vorhin!
Er schrie förmlich!
Enzo hatte kehrtgemacht und flog in einem steilen Sturzflug direkt zurück. Dies geschah in einem solchen Höllentempo, dass das Flugzeug im Erdboden einschlug, noch ehe Nora begriff, was geschah.
Kapitel 2
»Hallo? Signore di Grassi?«
Der Chef vom Morddezernat, Franco di Grassi, lugte mit seinem rundlichen Kahlkopf hinter einem der Aktenstapel hervor, die sich auf seinem Schreibtisch türmten. »Ja, bitte? Wer verlangt nach mir?«
Dem vielbeschäftigten Polizeipräsidenten stand der Sinn im Moment nicht nach Gesellschaft, doch die Stimme der Person, die an seine angelehnte Bürotüre geklopft hatte, hatte charmant genug geklungen, um sein Interesse zu wecken. Die meisten Stimmen, die di Grassi im Polizeialltag zu hören bekam, klangen langweilig. Es fehlte ihnen an Melodie und Charme, wie er fand. Dabei war die Sprechmelodie doch die Grundlage einer guten Unterhaltung. Das wusste er als ehemaliger Schauspieler nur zu gut, und so pflegte er seinen Kolleginnen und Kollegen gelegentlich die Leviten zu lesen, wenn sie sich allzu mundfaul gaben.
»Wem gehört diese angenehme Stimme?«, säuselte er deshalb zufrieden.
Alessandra Zarro steckte ihren Kopf in sein Büro und konnte sich ein spontanes Lächeln nicht verkneifen. Der Polizeipräsident wirkte wie ein neugieriger Maulwurf hinter seinen Aktenstapeln.
»Hallo, ich bin Alessandra Zarro«, stellte sich die junge Dame vor und versuchte, ernst zu bleiben.
»Ich sollte mich doch heute bei Ihnen melden.«
»Ah ja, die Neue!«
Di Grassi schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Entschuldigen Sie bitte. Ich habe heute furchtbar viel zu tun. Da hätte ich Ihren Arbeitsbeginn fast vergessen.«
Er musterte sie. Vor ihm stand eine Frau Ende dreißig, athletisch gebaut und von beachtlicher Körpergröße. Ihre Größe musste einem kleinwüchsigen Mann wie ihm umso mehr auffallen, da er selbst kaum eins fünfundfünfzig maß. Genau diese geringe Körpergröße hatte einst seine Karriere als Schauspieler verhindert, weil er nur Nischenrollen bekam. Deshalb hatte er seine Karriere aufgegeben und war zur Polizei gewechselt.
»Sie sind eine große Frau, Alessandra«, ließ er nun recht plump verlauten und schob noch ein Wie groß sind Sie denn genau? hinterher – bevor ihm einfiel, dass sich diese indiskrete Fragerei einer Frau gegenüber nicht gehörte. Aber Alessandra lachte nur. Sie war solche Fragen offenbar gewohnt.
»Ich weiß selbst, dass ich groß bin«, antwortete sie keck. »Und Sie sind bei Weitem nicht der erste Mann, dem dies auffällt.«
Di Grassi schämte sich.
»Es tut mir leid, Signora. Es ist mir so rausgerutscht ...«
»Schon gut, Signore di Grassi. Ich bin einen Meter neunundachtzig, wenn Sie es genau wissen möchten.«
Dann ließ sie eine freche Gegenfrage folgen, die sie immer zu stellen pflegte, wenn sie von Männern nach ihrer Größe gefragt wurde:
»Und wie groß sind Sie denn?«
Wie hätte Alessandra ahnen sollen, in welch prekäre Lage sie ihren neuen Boss damit bringen würde? Wie hätte sie ahnen können, dass er unterdurchschnittlich klein war?
Di Grassi aber nahm es ebenso gelassen wie Alessandra selbst. Er schob zwei Aktenstapel auseinander, sodass sie ihn gut sehen konnte, und stand auf.
»Ich bin keine eins neunundachtzig, wie Sie sehen können!«, lachte er glucksend.
Genau wie Alessandra hatte auch er gelernt, mit seiner ungewöhnlichen Körpergröße umzugehen.
Nun war es Alessandra, die im Erdboden versinken wollte. Zudem handelte es sich um den Mann, der ihrer neuer Vorgesetzter beim Morddezernat sein würde.
Doch di Grassi zwinkerte ihr wohlwollend zu.
»Damit wären die Formalitäten wohl erledigt«, meinte er lächelnd und bot ihr einen Sitzplatz an.
»Danke, Signore di Grassi.«
Alessandra nahm Platz und di Grassi sah sie sich genauer an. Sie gefiel ihm. Ihre Gesichtszüge wirkten energisch, ihr Kinn war kräftig und ihr Blick strahlte Ruhe und Wachsamkeit aus. Ihr dunkles Haar war kurz geschnitten und mit Gel nach hinten gekämmt. Das gab ihr das Antlitz einer Kämpferin, ja, ließ sie fast arrogant wirken. Doch sobald man sie sprechen hörte, verflog dieser Eindruck schnell, denn Alessandra sprach langsam und unaufgeregt, und ihre Stimme klang warm und kraftvoll. Außerdem verfügte sie über eine tadellose Personalakte, wie di Grassi wusste, und ihm lagen zusätzlich zwei Empfehlungsschreiben ihrer früheren Vorgesetzten vor, in denen sie förmlich angepriesen wurde. Es sei an der Zeit, dass dieses Naturtalent zum Morddezernat stoße, hieß es in einem der Schreiben.
Di Grassi orderte zwei Tassen Kaffee bei seiner Sekretärin und begann mit dem Einführungsgespräch. Hierbei setzte er Alessandra unter anderem darüber in Kenntnis, dass sie von einem gewissen Commissario Montebello eingearbeitet werden würde, der zu den besten seines Faches gehören würde.
»Ich habe schon von ihm gehört«, antwortete Alessandra.
Kapitel 3
Das Gespräch zwischen Alessandra und di Grassi war abrupt unterbrochen worden, als die Meldung über einen tödlichen Flugzeugabsturz eingegangen war. Da es sich um einen erfahrenen Piloten gehandelt hatte, sei ein Mord nicht auszuschließen, hatte es geheißen, und so befand sich Alessandra kaum zwanzig Minuten nach ihrem offiziellen Dienstbeginn auf dem Weg zu ihrem ersten Mordfall – neben Commissario Montebello sitzend, der seine feuerrote Alfa Giulietta mit Vollgas in Richtung Tatort steuerte.
Montebellos Laune war allerdings nicht die beste an diesem Vormittag. Er war es gewohnt, alleine zu arbeiten, und das Einarbeiten neuer KollegInnen gehörte nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen – nicht zuletzt deswegen, weil ihn dies jedes Mal an einen früheren Fall erinnerte, in dem sich ein neuer Mitarbeiter als Triebtäter herausgestellt hatte. Montebello dachte nicht gern an diese Episode zurück, die er gern als »Verrat in Venedig« bezeichnete.
Dennoch versuchte er, ein erstes Kennenlerngespräch mit seiner neuen Kollegin zu führen. Immerhin würde sie ihn die nächsten drei Monate begleiten, und sie wirkte interessant und außergewöhnlich genug, um ihn neugierig zu machen.
»Sie heißen Alessandra, richtig?«, begann er.
»Das ist korrekt, Commissario. Alessandra Zarro.«
»Ihre Akte liest sich beeindruckend. Ich konnte gestern einen Blick darauf werfen. Sie haben die letzten zehn Jahre für die Sitte gearbeitet, verfügen über eine Nahkampfausbildung und haben sogar Martial-Arts-Kämpfe bestritten. Das allein klingt schon äußerst spannend. Was ich aber am Interessantesten fand, war die Bemerkung Ihres früheren Vorgesetzten, dass Sie eine begabte Profilerin sein sollen. Dies ist der Punkt, der mir besonders gut gefällt, denn eine solche Begabung findet man nicht oft. Woher rührt diese Fähigkeit? Sie scheinen eine Art Superwoman zu sein, wenn man den Vorschusslorbeeren ihrer früheren Bosse Glauben schenken kann.«
Alessandra grinste. So viel Humor hatte sie Montebello nicht zugetraut. Nicht, nachdem er sie während der ersten fünf Minuten seit Fahrtbeginn nur stoisch angeschwiegen hatte. Offenbar hatte er ein paar Minuten gebraucht, um richtig wach zu werden.
»Nein, Superwoman bin ich sicherlich nicht«, antwortete sie, »ich denke, dass es an meiner harten Jugend liegt. Ich wuchs in einem Vorort von Rom auf, verbrachte viel Zeit in Gangs, trieb mich in einschlägigen Vierteln herum – das hat mich geprägt. Deshalb kann ich mich wohl gut in die Denkweise von Kriminellen hineinversetzen.«
»Hm, klingt logisch. Aber