Unfassbar traurig. Ute Dombrowski

Unfassbar traurig - Ute Dombrowski


Скачать книгу
aß nicht, schlief nicht und sprach nicht.

      Nach einem halben Jahr in der Klinik war sie nach Hause zurückgekehrt und ein weiteres halbes Jahr später hatte sie begonnen, im Archiv zu arbeiten, nur um nicht mehr unter Menschen gehen zu müssen. Hier, in der Abgeschiedenheit des Kellers, zwischen endlosen Regalen, saß sie tagtäglich über den ungeklärten Fällen und durchsuchte die Akten nach brauchbaren Hinweisen. Aktuelle Fälle waren für Bianca genauso weit weg wie ein aktives Leben.

      Im Präsidium in Eltville hatte man ihren Posten neu besetzt und im alten Büro von Michael und Benedikt saßen zwei neue Kommissare, denen sie noch nicht ein einziges Mal begegnet war. Und das vor allem deswegen, weil sie es nicht wollte. Der Name Bianca Verskoff und ihr Schicksal waren jedoch allgemein bekannt und die Kommissarin mit ihrem hochsensiblen Spürsinn fehlte an allen Ecken und Enden.

      Jeden Abend ging Bianca heim in die leere Wohnung und schloss die Tür zwischen sich und der Welt da draußen zweimal zu. Seit dem Tag im Sommer war sie auch nicht mehr an den Rhein gegangen, nein, sie war überhaupt nicht mehr rausgegangen. Den Einkauf erledigte sie auf dem Heimweg in der Stadt, damit sie in Eltville niemandem begegnen konnte, den sie kannte, der sie womöglich ansprechen und sein Mitleid ausdrücken konnte.

      „Vielleicht sollte ich wegziehen.“

      Ihre Stimme klang fremd und sie begriff nicht, was sie eben laut gesagt hatte. Das kleine Mädchen auf dem Foto lächelte immer noch.

      „Weit weg. Ans Meer.“

      Das Mädchen sah aus, als würde sie die Idee für großartig halten. Bianca starrte in die blauen Augen und die Träne lief jetzt über die rechte Wange. Sie wischte sie weg und schaltete den Computer aus. Feierabend, dachte sie, aber wozu eigentlich? Mit hängenden Schultern stieg sie die Treppe hinauf und ging mit gesenktem Blick über den Parkplatz. Die Kollegen im Foyer hatten ihr traurig hinterhergeschaut. Niemand wagte es, die Kommissarin anzusprechen und sie selbst ging auch auf keinen anderen Menschen zu. Jeder wusste, was geschehen war, aber es war ein Tabu, über das man nicht redete, schon gar nicht mit Bianca.

      Im Auto merkte sie, dass es schon fast dunkel war. Sie startete den Motor und rollte langsam durch das große Tor. Hinter ihr schloss sich die Schranke. Dass der junge Kollege im kleinen Häuschen am Ausgang nickte, nahm Bianca gar nicht wahr. Daheim angekommen duschte sie heiß und stand lange vor dem Spiegel. Ihre Haare waren länger geworden, denn sie war nicht mehr zum Frisör gegangen, weil man sie immer gefragt hatte, wie es den Lieben ging und was es für Neuigkeiten gab.

      Bianca aber hatte die Leitungen zu ihrem alten Leben gekappt und sich vollkommen zurückgezogen. Im Bademantel, mit einem Handtuch um den Kopf gewickelt, legte sie sich auf die Couch und schaltete den Fernseher ein. Irgendwann aß sie eine Scheibe Brot und trank eine Tasse Tee. Danach ging sie wie jeden Abend um elf Uhr ins Bett, um nach wie vor mehrmals in der Nacht hochzuschrecken.

      Am Anfang hatten Jürgen und seine Frau noch nach ihr geschaut, aber Bianca hatte sie so lange abgewiesen, bis sie nicht mehr kamen. Die beiden genossen jetzt ihren Ruhestand, besuchten oft ihre Enkelin und deren Eltern in Erbach und ab und an kam eine Postkarte mit Strandmotiv von ihren viele Reisen.

      Heute schlief Bianca nicht sofort ein, sondern sprang noch einmal aus dem Bett, um sich ihren Laptop zu holen. Sie ließ sich Bilder von der Ostsee und Nordsee zeigen. Es gab herrliche kleine Orte, wo die Häuser mit ihren Schilfdächern vor einem wunderbar blauen Meer standen und einluden sich zu verkriechen. Es gab endlose Strände, an denen man bis zum Horizont laufen konnte. Es gab das unendliche Wasser, türkisblau und kühl, darüber spannte sich ein leuchtendblauer Himmel. Bianca hatte beim Betrachten der einladenden Fotos den Geruch von Meer in der Nase und den Geschmack von Räucherfisch auf der Zunge.

      „Da will ich leben. Ganz allein. Ach Michael, könnte ich dich doch mitnehmen. Wir würden den ganzen Tag durch den Sand und das seichte Wasser laufen und Muscheln sammeln. Du würdest kleine flache Steine für mich über die Wellen flippen lassen, so, wie du es immer am Rhein getan hast.“

      Sehnsüchtig klappte sie den Laptop zu, stellte ihn neben das Bett auf den Boden und rollte sich unter der Decke zusammen. Es war Sommer, aber sie zitterte vor Kälte. Bald fielen ihr die Augen zu. Am nächsten Morgen wachte sie auf und reckte sich. Ihr Blick fiel auf den Laptop und sie entschloss sich, am Wochenende ans Meer zu fahren, um sich dort davon zu überzeugen, dass ein Neuanfang möglich war. Denn eines war sicher: Es musste etwas passieren. Instinktiv spürte Bianca, dass sie etwas unternehmen musste, um nicht bei lebendigem Leibe zu sterben.

      Sie griff zum Telefon.

      „Warum nicht sofort losfahren?“, rief sie sich zu und wählte die Nummer ihres Vorgesetzten.

      Zehn Minuten später hatte sie Urlaub und suchte nach ihrer Reisetasche. Als sie sie von Schrank zog und den Staub weggepustet hatte, zuckte sie zu­sammen. Ein Prospekt fiel vor ihre Füße. Ein Prospekt vom einem Hotel, dem Hotel, in dem sie geheiratet und die Hochzeitsnacht verbracht hatten. Bianca saß wie gelähmt auf der Bettkante, während ihre Hochzeit wie ein Film noch einmal vor ihr ablief. Endlich ging ein Ruck durch ihren Körper und sie nahm das bunte Heftchen in die Hand. Sanft strich sie über die Hochglanzseiten und lächelte.

      „Das war so schön dort“, flüsterte sie.

      Am liebsten hätte sie geweint, aber die meisten Tränen waren verbraucht, einzig eine unendliche Leere machte sich breit. Sie kämpfte dagegen an, indem sie jetzt schnell die Tasche packte. Im Bad schob sie die Kosmetikartikel in den Kulturbeutel und legte ein großes Strandtuch oben auf in die Reisetasche. Sie überlegte, ob sie ein Zimmer buchen sollte, entschloss sich aber, spontan loszufahren und erst dort eine Unterkunft zu suchen.

      „So!“, sagte sie laut, denn Selbstgespräche gehörten seit längerer Zeit zu ihrem Leben.

      Sie sah sich noch einmal in der Wohnung um, die voller Erinnerungen war und seufzte.

      „Sorry, aber ich muss einen Weg finden, um ohne dich weiterzuleben.“

      Sie schloss die Tür, setzte sich ins Auto und fuhr los.

      2

      Das Mädchen war etwa sechzehn Jahre alt. Sie lag auf dem Rücken. Ihr Rock war hochgeschoben, die Strumpfhose zerrissen und der Slip fehlte. Ihre offenen blauen Augen starrten in die weißen Wolken, die in raschem Tempo über den Weinberg flogen.

      „Sie sieht so friedlich aus“, murmelte Christine Flitzker, die von allen nur Tine genannt wurde und ein einjähriges Praktikum bei der Spurensicherung machte.

      „Manchmal sehen sie aus, als würden sie nur schlafen, aber lass mal, Tine, es gibt auch Fälle, da schaust du in ihre Gesichter und weißt, welche Qualen sie durchlitten haben.“

      Die sanfte tiefe Stimme gehörte zu Falk Pern, dem neuen Leiter der Spurensicherung. Er hatte die Stelle von Jürgen übernommen, der seine ehemaligen Kollegen ab und zu besuchte, um ein bisschen zu fachsimpeln. Falk war Mitte vierzig und verheiratet. Seine zwei Jungs, neun und elf Jahre alt, hielten ihn an den Wochenenden auf Trab, aber oft war er traurig, nicht mehr Zeit mit ihnen verbringen zu können.

      Er war ein guter Lehrmeister für Tine, die sich vom ersten Tag an in ihre Arbeit gekniet hatte und den Kollegen manchmal mit ihrer grenzenlosen Neugier aus dem Konzept brachte.

      Nachdem die Fotos gemacht waren, schob Tine dem Opfer den Rock herunter und fühlte sich so ein wenig besser, denn die Nacktheit, die eine unendliche Verletzlichkeit offenbarte, berührte sie fast mehr als die Tatsache, dass das Mädchen tot war.

      „Die riesigen Fußspuren gehören zu Sportschuhen. Ich schätze, es war ein Mann.“

      „Sehr gut“, sagte Falk und gab Tine den Auftrag, Gipsabdrücke herzustellen. „Wo bleiben denn unsere beiden Schnüffler?“

       Da klappten unten am Weg zwei Autotüren und die Kommissare, die sich unüberhörbar in einem Streit befanden, kamen näher.

      „Nein, du bist echt zu doof, das Navi zu bedienen“, sagte eine schlanke Frau mit kurzen roten Haaren und lachte laut.

      „Das


Скачать книгу