Unfassbar traurig. Ute Dombrowski

Unfassbar traurig - Ute Dombrowski


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      Ferdinand kochte Kaffee und winkte ab.

      „Ignorier ihn! Wir müssen herausfinden, wer das Mädchen ist.“

      3

      Bianca war an der Ostsee angekommen und hatte ein winziges Zimmer in einer kleinen Pension gefunden. Ein junges Pärchen hatte abgesagt. Die Kommissarin stellte die Reisetasche auf ihr Bett und sah aus dem Fenster. Vor ihr lagen der Strand und die von Wellenbergen durchzogene Ostsee. Rasch zog sie sich eine Jacke an und machte sich auf den Weg ans Wasser.

      „Das muss Schicksal sein“, flüsterte sie. „Das Wasser direkt vor der Nase, der Wind, die Sonne … Michael, ich wünschte, du wärst hier.“

      Langsam ging sie am Rande der Wellen, die auf den Strand rollten, entlang. Sie bückte sich nach dem einen oder anderen Stein und steckte ihn in die Jackentasche. Sie würde sich im Archiv eine Schale mit Erinnerungsstücken vom Urlaub hinstellen, um ihr Ziel nicht aus den Augen zu verlieren: Sie wollte hier leben, an der Ostsee, wo die Trauer und der Schmerz weit weg waren.

      Wenn sie geahnt hätte, dass in der Heimat ein Mord geschehen war, der die Polizei noch für eine lange Zeit in Atem halten würde, wäre sie vielleicht sofort zurückgefahren. Aber sie wollte nicht mehr auf Menschen treffen, die böse sind, die andere Menschen verletzen oder gar töten, nein, sie suchte nach dem inneren Frieden und wollte das Leid vergessen.

      Am Abend ging sie in ein Restaurant, in dem frischer Fisch angepriesen wurde. Es schmeckte herrlich, aber die totale Entspannung wollte sich nicht einstellen. Nach dem Essen schlenderte Bianca durch den Ort, der auch um diese Uhrzeit von Touristen überfüllt war. Hier, inmitten der fröhlichen Urlauber, schlich sich plötzlich ein Gedanke in ihren Kopf: Ich gehöre hier nicht her!

      Unzufrieden schloss sie die Tür des kleinen Zimmers hinter sich und setzte sich auf den Sessel, der neben einem Bett, einem quadratischen, Tisch, einem Nachtschrank und einem Sideboard das Zimmer völlig ausfüllte. Die Enge kam ihr jetzt bedrückend vor. Bianca begann zu bezweifeln, ob der Urlaub wirklich eine so gute Idee gewesen war.

      „Egal“, sagte sie zu sich selbst, „ich musste nur mal raus. Und wenn es mir wenigstens hilft, dass ich jetzt weiß, dass ich aus meiner Heimat nicht weg kann, dann hat es doch auch etwas Gutes.“

      Sie führte diese Selbstgespräche oft, denn außer Riva im Archiv gab es kaum jemanden, mit dem sie sprechen konnte und wollte.

      Riva Minettoz war eine aufregend schöne Frau, die sie ein wenig an Fabienne erinnerte, trotz ihrer vierunddreißig Jahren sah sie jedoch aus wie ein junges Mädchen. Sie besaß Feuer und Charisma und hätte jeden Tag einen neuen Liebhaber haben können. Aber es gab seit der Schulzeit nur einen Mann, den sie abgöttisch liebte. Er war ihr Lehrer gewesen, als sie am Gymnasium war. Schon vom ersten Tag an gefiel ihr der kluge, gutaussehende Mann und als sie ihr Abitur in der Tasche hatte, gestand sie ihm ihre Liebe.

      Ein paar verrückte und aufregende Monate später waren sie ein Paar. Er hatte sich von seiner Frau getrennt, denn auch er spürte diese eigentümliche Anziehungskraft. Riva hatte Verehrer wie ein Fisch Schuppen, aber für sie gab es seitdem nur diesen einen Mann.

      „Du musst mal wieder unter Leute, Bianca“, sagte sie beinahe jeden Tag.

      Ebenso oft antwortete Bianca: „Nein, ich bin zufrieden, wie es ist. Ich mag keine Menschen in meiner Nähe.“

      Kurz entschlossen wählte sie Rivas Nummer. Die Kollegin meldete sich verschlafen.

      „Sag mal, weißt du nicht, wie spät es ist? Was ist passiert?“

      „Ich bin an der Ostsee und mache Urlaub.“

      „Davon habe ich schon gehört und ich freue mich! Endlich kommst du mal raus aus deinem Schneckenhaus.“

      „Es ist furchtbar hier.“

      „Oh.“

      Riva setzte sich im Bett auf und machte sich auf ein längeres Telefonat gefasst.

      „Erzähl!“, forderte sie Bianca auf.

      „Ich dachte, es ist eine gute Idee und ich wollte sehen, ob ich vielleicht hier auch leben kann. Aber …“

      Bianca zögerte.

      „Aber?“

      „Ich fühle mich hier wie ein Fremdkörper. All diese gut gelaunten Touristen und die lauten Kinder, das geht mir jetzt schon auf die Nerven.“

      „Dann schlaf dich aus und komm heim.“

      Heim, dachte Bianca, ja, es war richtig, im Rheingau war sie zuhause, dort hatte sie ihre Wurzeln und wer sagt denn, dass die Erinnerungen nicht irgendwann gut würden?

      „Danke, Riva. Entschuldige, dass ich dich gestört habe. Ich komme morgen wieder zurück und werde ein neues Leben beginnen.“

      Riva lächelte vor sich hin und streckte sich wieder aus, nachdem sie aufgelegt hatte. Ihre große Liebe Peter hatte von dem Telefonat nichts mitbekommen, denn in ihrer Nähe konnte er sich so gut entspannen, dass er schlief wie ein Stein. Sie rutschte zu ihm hinüber und kuschelte sich an seinen warmen Körper. Mit einem entspannten Seufzer kam der Schlaf zurück.

      Bianca fühlte sich nach dem Gespräch irgendwie erleichtert. Es war, als bräuchte sie gar keine Entschuldigung dafür, dass der Urlaub eine Schnapsidee war. Sie legte sich ins Bett und schlief augenblicklich ein.

      Am nächsten Morgen gab sie das Zimmer auf, bezahlte und machte sich auf den Weg in den Ort zu einem ausgiebigen Frühstück. Noch ein letztes Mal lief sie an den Strand. Heute war es sonnig und Unmengen von Leuten hatten sich hier für den Tag eingerichtet. Sie saßen in Strandkörben, lagen auf Decken oder räkelten sich in mitgebrachten Liegestühlen und ließen sich in der Sonne braten. Das Gebrodel der Stimmen, die sonnenölgetränkten Körper, der Müll, der zwischen den Menschen lag, all das trug dazu bei, dass sie wusste, wo sie hingehörte.

      Sie wendete dem Getümmel den Rücken zu und machte sich auf den Heimweg.

      „Michael, ich komme nach Hause. Verzeih mir, dass ich dachte, ich könnte ohne dich leben.“

      Am Abend rollte sie in die Einfahrt des Hauses und blieb noch einen Moment im Auto sitzen, bevor sie in ihre Wohnung ging. Sie legte den Kopf auf die Hände, die sie fest um das Lenkrad geschlossen hatte und weinte.

      Es war zwar eine wichtige Erkenntnis gewesen, dass sie nicht von hier weggehen konnte, aber sie wusste noch immer nicht, wie sie den Schmerz in den Griff bekommen sollte.

      „Wenn wir doch ein Kind gehabt hätten“, murmelte sie und stieg aus.

      Am kommenden Tag ging sie wieder zur Arbeit. Riva kam ihr im Keller entgegen und nahm sie wortlos in den Arm.

      „He, du bist ja noch weiß wie ein Käse. Ich denke, du warst an der Ostsee?“, scherzte sie später.

      Bianca kannte ihren Humor und lächelte.

      „Du kannst dir nicht vorstellen, wie gut es ist wieder zuhause zu sein. Können wir heute Abend essen gehen? Ich muss mal reden.“

      „Natürlich. Ich rufe Peter an und dann machen wir einen drauf. Wenn du magst, darfst du dich betrinken. Ich kann dich ja heimbringen.“

      „Mal sehen. Ich freue mich. Was gibt es Neues?“

      „Wenig, die alten Fälle sind immer noch genauso ungelöst wie vor deinem wahnsinnig langen Urlaub.“

      „Dann ist es ja gut. Sonst hätte ich jetzt nichts zu tun. Danke für alles.“

      Die Frauen drückten sich nochmal und rasch verschwand Bianca in ihrem kargen Büro. Sie fuhr den Computer hoch und wieder lächelte ihr das kleine blonde Mädchen entgegen.

      Nachdem sie auch heute wieder stundenlang die Fakten des Falles durchging und doch zu keinem Ergebnis kam, machte sie Feierabend und suchte nach Riva.

      Die Kollegin stand in der Toilette


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