Unfassbar traurig. Ute Dombrowski
wird. Dann werde ich mal in den alten Akten danach suchen und melde mich. Haben Sie den Obduktionsbericht und einige Eckdaten für mich?“
Ferdinand schob einen Ordner über den Tisch und Bianca schlug die erste Seite auf. Dort befand sich das Foto der Toten. Sie hatte blonde lange Haare, die anscheinend zu zwei Zöpfen geflochten waren, aber auf der einen Seite lagen die Haare locker neben ihrem Kopf. Ein Zopf war noch intakt und wurde von einem blauen Samtband zusammengehalten.
„Gibt es das zweite Band?“, fragte Bianca.
„Nein, das muss der Täter mitgenommen haben. Vielleicht wollte er eine Art Trophäe. Sie haben ihn aber schon identifiziert. Er ist der Polizei bekannt. Toby Däkelts, vorbestraft wegen sexueller Übergriffe, hat aber niemals gemordet. Er ist sechsundzwanzig.“
„Warum sind solche Männer auf freiem Fuß?“
„So blöd es auch klingt, er hat eine Therapie gemacht und galt als ungefährlich.“
„Oh Mann, so etwas macht mich fertig. Das Mädchen könnte noch leben. Ich habe eine Frage: Wie kam sie denn dahin? Und woher kam sie? Das ist sehr merkwürdig. Es gab da mal …“
Sie rannte plötzlich aus dem Büro und kam nach einigen Minuten zurück.
„Es gab vor zwei Jahren mal eine junge Frau, achtzehn Jahre alt, die stand einfach eines Tages mitten in Eltville und war vollkommen verwirrt. Sie wusste nicht, wie sie an diesen Ort gekommen und wo sie vorher war. Sie heißt Karoline, aber auch das ist nicht zu hundert Prozent sicher … Moment.“
Bianca löste den Knoten um die dicke Akte und schlug sie auf. Vom Foto schaute ihnen eine blonde junge Frau entgegen. Sie trug geflochtene Zöpfe, die mit blauen Samtbändern zusammengehalten wurden.
Die beiden sahen sich an und schluckten, denn alles sah aus, als gäbe es hier einen Zusammenhang. In dem Moment kam Riva von oben und steckte den Kopf durch die Tür.
„Hallo, Herr Kommissar, wir haben vorhin telefoniert. Ich bin Riva Minettoz. Sie sollen sofort ins Büro kommen. Es gab wohl eine Verhaftung. Ein Toby Däkelts.“
Schnell sprang Ferdinand auf und eilte zur Tür. Riva wartete im Flur. Er drehte sich noch einmal zu Bianca um.
„Warum kommen Sie nicht mit? Dann verhören wir ihn zusammen. Vielleicht weiß er, woher sie gekommen ist.“
Bianca war zusammengezuckt und wurde blass. Niemals wieder würde sie ihr altes Büro im Präsidium betreten. Niemals!
„Danke, aber ich versuche herauszufinden, wer das Opfer ist.“
Ferdinand zuckte mit den Schultern und ging.
5
Toby Däkelts heulte wie ein Schlosshund. Er hatte schon zwei Pakete Papiertaschentücher verbraucht, seit er hier angekommen war.
„Ich wollte das nicht, ehrlich“, winselte er. „Sie hat plötzlich geschrien und um sich geschlagen.“
„Sie haben die junge Frau vergewaltigt, als sie bereits tot war“, bellte der Staatsanwalt, der vor Ferdinand zur Vernehmung angekommen war.
Ella stand an der hinteren Wand und nickte ihrem Kollegen zu. Ferdinand grüßte höflich, erhielt aber keine Antwort. Er setzte sich neben den Staatsanwalt.
„Bitte, Sie müssen mir glauben, ich wollte das nicht!“, schrie Toby jetzt panisch.
Dr. Rosenschuh schlug mit der Faust auf den Tisch. Ferdinand räusperte sich und bat ihn, mit hinauszugehen. Sie standen auf und verließen das Büro. Ella behielt Toby im Auge.
„Er hat gestanden, was wollen Sie denn noch?“
„Herr Dr. Rosenschuh, das ist alles schön und gut, aber wir wissen immer doch gar nicht, wer die Tote ist, wie alt sie ist oder woher sie an diesem Abend kam.“
„Ja, aber …“
„Lassen Sie mich bitte ausreden. Es gibt vielleicht eine Verbindung zu einem Fall von vor zwei Jahren. Da stand ein Mädchen ähnlichen Alters plötzlich mitten in Eltville. Bis heute wissen wir fast nichts. Ich habe die Akte bei Frau Verskoff gelassen und gehe morgen noch einmal hin.“
„Was denn für eine Verbindung?“
„Beide sind blond, haben geflochtene Haare und tragen blaue Samtschleifen.“
Der Staatsanwalt zog die Augenbrauen hoch und grinste.
„Ja, klar. Und schon vermuten die lieben Ermittler einen Serientäter. Frau Verskoff ist sicher zu haben für Ihre Theorie. Viel Spaß. Ich bringe jetzt den Vergewaltiger und Mörder hinter Gitter.“
„Darf ich ihn allein befragen?“
„Bitte, wenn Sie es für richtig halten. Sie haben fünf Minuten. Dann geht er ab in seine Zelle, wo er weiterheulen kann.“
Ferdinand schluckte seinen Ärger hinunter und ging zurück in den Vernehmungsraum. Ella stand immer noch schweigend an der Wand. Sie war seltsam still und schien mit den Gedanken woanders zu sein. Der Kommissar setzte sich.
„Ich bin Kommissar Waldhöft. Herr Däkelts, ich habe noch einige Fragen und möchte Sie bitten, ganz genau nachzudenken. Wo ist Ihnen die junge Frau begegnet? Haben Sie sie von irgendwo kommen sehen?“
Der Angesprochene hörte auf zu weinen, wischte mit dem Ärmel seiner Jacke über sein Gesicht und sah den Kommissar an.
„Also, ich war da auf dieser Party. Dann musste ich pissen und das Klo war zu, also bin ich raus auf den Hof. Und da war sie. Sie stand einfach nur so da und hat gezittert.“
„War irgendjemand in der Nähe zu sehen?“
„Nein, sie war ganz alleine. Ich bin dann zu ihr hin und habe sie angesprochen. Sie hat nicht reagiert. Da habe ich sie gefragt, ob sie mit reinkommen will.“
„Und?“, fragte Ferdinand, als Toby nicht weiterredete.
„Sie war irgendwie merkwürdig, als wäre sie zugedröhnt. Ich dachte, sie hat sich was eingeworfen, um mehr Spaß zu haben. Als ich sie am Arm ein Stück ziehen wollte, hat sie angefangen zu heulen. Ich habe sie dann gefragt, ob sie lieber nach Hause will und sie hat genickt.“
„Hat sie gesagt, wo sie wohnt?“
„Nein, sie hat gar nichts gesagt. Überhaupt kein Wort. Sie ist dann losgelaufen. Irgendwann waren wir in den Weinbergen angekommen und sie ist stehengeblieben.“
„Warum das?“
„Keine Ahnung, es war, als wäre ihr eingefallen, dass sie auf dem falschen Weg war. Ich habe gesagt, dass ich sie hübsch finde. Sie sah aus, als wenn sie gar nicht kapiert, was ich sage. Ich wollte sie küssen und ein bisschen fummeln, aber da ist sie plötzlich wahnsinnig schreiend auf mich losgegangen. Ich wollte das nicht, glauben Sie mir!“
Beim letzten Satz hatte er wieder begonnen zu jammern und zu weinen. Er schlug die Hände vor das Gesicht und Ferdinand ahnte, dass aus ihm nichts mehr herauszubekommen war.
Der Kommissar gab dem Kollegen in Uniform einen Wink und der führte den Täter ab. Ferdinand blieb sitzen und drehte sich zu Ella um.
„Was ist los?“
Ella stieß sich von der Wand ab, setzte sich auf den Stuhl, auf dem eben noch Toby Däkelts gesessen hatte und fuhr sich durch die roten Haare.
„Sie hat Schluss gemacht und geht zurück nach Berlin“, sagte die Kommissarin so sanft wie noch nie.
Ferdinand ahnte, wie düster es jetzt in seiner Kollegin aussah, aber er wusste auch nicht, was er sagen sollte.
Ella sprach weiter, als wäre er nicht anwesend: „Ich bin wegen ihr hergekommen und jetzt sagt sie mir, dass sie es nicht mehr ertragen kann, dass ich so viel Zeit für meinen Beruf aufbringe und es manchmal passieren könne, dass ich nicht mehr heimkomme. Sie hatte schon alles hinter meinem Rücken arrangiert.“