Unfassbar traurig. Ute Dombrowski
„Das tut mir leid.“
Ella nickte.
„Mir auch. Dieser Scheißjob frisst uns alle auf. Hast du ein Privatleben?“
„Nein“, sagte Ferdinand ernst. „Ich will gar keine Beziehung eingehen, denn ich könnte niemals die Ansprüche an ein richtiges Familienleben erfüllen. Meine Mutter hat immer gedrängt, dass ich mir eine Frau suche, aber wer will denn schon einen Mann, der so viel Zeit für seinen Job aufbringen muss? Wenn wir das nicht täten, könnten wir auch einen Bürojob bei der Versicherung machen.“
„Ich liebe diese Frau, aber vielleicht hast du einfach recht und man ist ohne Liebe glücklicher. Es fühlt sich nur scheiße an. Und um mir zu sagen, dass sie mich verlässt, lädt sie mich auch noch zum Essen ein. Ich hätte am liebsten gekotzt.“
„Glaubst du nicht, du kannst sie überreden zu bleiben?“
„Nein, sie hat hier den Job gekündigt, in Berlin wartet bereits eine neue Stelle und sie hat sogar schon eine Wohnung. Wie nett, dass ich die hier behalten darf.“
Der Staatsanwalt riss die Tür auf und stürmte herein.
„Wir haben einen Mordfall zu klären und Sie halten einen kleinen Plausch? Haben Sie nichts zu tun?“
Ella stand auf und ging wortlos aus dem Raum. Ferdinand bat Dr. Rosenschuh sich zu setzen. Der blieb stehen und stützte sich auf dem Tisch ab.
„Haben Sie etwas herausgefunden und arbeiten jetzt daran oder wollen Sie die liebe Kollegin trösten?“
Ferdinand ging nicht darauf ein und blieb ruhig.
„Sie stand einfach nur da. So wie das Mädchen vor zwei Jahren. Keiner weiß, woher sie kam. Es muss also eine Verbindung geben.“
„Papperlapapp, so ein Quatsch. Haben Sie sich schon bei Frau Verskoff angesteckt mit diesem Wahnsinn? Die hat auch immer und überall irgendwelche Verbindungen gesehen.“
„Sie hatte jedes Mal recht, wenn ich den Kollegen glauben darf.“
„Machen Sie, was Sie wollen. Ich sehe keine Verbindung, der Fall ist damit erledigt, also gehen Sie und trösten Frau Grassoux. Den Bericht können Sie auch morgen noch tippen.“
Ferdinand stand auf und biss sich auf die Unterlippe. Er beschloss zu Bianca ins Archiv zu fahren, aber er hatte nicht die Absicht, den Staatsanwalt darüber zu informieren. An der Tür drehte er sich noch einmal um.
„Ella geht es nicht gut und ich denke, ein wenig Mitgefühl würde Ihnen auch mal ganz gut stehen.“
Dann verließ er das Zimmer und verpasste das wütende Schnaufen des Staatsanwaltes.
„Was bildet der Kerl sich ein?“, murmelte er leise und lief zurück in sein Büro.
6
Bianca überlegte, ob sie schon Feierabend machen sollte, aber was wollte sie zuhause? Kurz entschlossen zog sie noch einmal die Akte von Karoline zu sich heran. Sie legte ihr Bild neben das von der unbekannten Toten. Die Ähnlichkeit war stark, aber auch wieder nicht.
Alle hatten vor zwei Jahren fieberhaft nach Angehörigen der jungen Frau gesucht, aber ohne Erfolg. Niemand schien sie vermisst zu haben. Karoline lebte jetzt in einem Pflegeheim und saß den lieben langen Tag schweigend in ihrem Zimmer. Man führte sie immer wieder in den Garten, aber kurze Zeit später lief sie zurück ins Haus. Die Psychologin vermutete, dass sie für eine lange Zeit, wenn nicht ihr ganzes vorheriges Leben, irgendwo eingesperrt gewesen war, jedoch war rätselhaft, warum sie keinen Drang verspürte, aus dem Haus zu gehen. Es war, als würde ihr die kleine Welt ihres Zimmers reichen.
Das Telefon klingelte.
„Ja, schicken Sie ihn herunter. Nein, Riva ist schon weg. Sie hat einen Zahnarzttermin.“
Ferdinand Waldhöft war oben und hatte gefragt, ob er noch einmal mit Bianca reden könne. Der Mann war ihr sehr angenehm, denn er schien nicht so aufdringlich und besserwisserisch zu sein wie andere. Außerdem kannte er Nicola. Das fand Bianca eigenartig.
„Hallo, Frau Verskoff“, sagte er, als er den Kopf durch die Tür steckte.
„Kommen Sie herein, Herr Waldhöft“, forderte Bianca ihn auf und bot ihm einen Kaffee an.
„Gerne. Wir haben den Täter, aber der liebe Staatsanwalt will, dass wir den Fall zu den Akten legen.“
„Ohne zu wissen, wer das Opfer ist? Der spinnt wohl?“, platzte es aus Bianca heraus.
Ferdinand lachte und winkte ab.
„Sie kennen ihn doch. Er hat den Fall gelöst, den Täter verhört und weil der ein Geständnis abgelegt hat, ist für ihn alles andere erledigt. Er pfeift auf das Opfer.“
„Ich kenne ihn viel zu gut. So ein Wichser.“
Ferdinand war erstaunt, dass solche Worte aus dem Mund dieser sanften Frau kamen. Der Schmerz in ihren Augen war auch heute wieder sehr präsent und er spürte Schwingungen: Verzweiflung und Resignation. Bianca Verskoff hatte sich hier versteckt, ihren Kampfgeist hatte sie tief in sich vergraben.
„Was denken Sie, woher das Mädchen kam? Der Täter sagte, sie stand einfach nur da. Er war auf einer Party und als er auf den Hof kam, war sie dort. Niemand war weit und breit zu sehen. Sie hat wohl kein einziges Wort gesagt und ist mit ihm in die Weinberge gegangen. Dort wollte er was von ihr und sie ist ausgeflippt. Da hat er sie erwürgt und anschließend vergewaltigt.“
„Er hat sie missbraucht, als sie schon tot war?“
„Ja, das ist besonders abartig. Er ist vorbestraft und als geheilt aus der Therapie entlassen worden, aber jetzt hat er sich doch wieder an einer Frau vergangen.“
„So ein mieses Schwein. Er hätte einfach nur vor Schreck weglaufen sollen, dann wäre es als Affekttat durchgegangen, weil sie so geschrien hat, aber so … ich hoffe, er kriegt lebenslang.“
„Das wird er. Aber ich kann den Fall nicht zu den Akten legen, wenn ich nicht weiß, wer das Mädchen ist.“
„Ich muss immer an Nicola denken“, sagte die Kommissarin plötzlich.
Ferdinand lächelte.
„Ich habe nach Vermissten gesucht, die blonde Haare haben, da kam ich ebenfalls auf Nicola. Sie ist ja noch nicht so lange weg, also waren die wichtigsten Informationen schon im Computer.“
„Sie ist auch blond.“
„Was denken Sie?“
„Wenn es ein Bild geben würde, auf dem sie Zöpfe mit blauen Samtschleifen hat, dann würde ich anfangen zu denken. Aber ich traue mich nicht nachzuschauen. Wollen Sie das für mich tun?“
Ferdinand kam um den Tisch herum und ließ sich die Richtung des Regals zeigen, wo die Akte von Nicola stehen müsste. Er kam mit einem Ordner wieder an den Tisch.
„So, mal schauen“, sagte er und blätterte. „Das ist das Bild, was wir beide kennen. Hier!“
Aufgeregt zeigte er auf das dritte Bild, das die Mutter der Polizei gegeben hatte, als sie das Kind vermisst gemeldet hatte. Das Mädchen hatte einen Zopf nach vorne über der Schulter liegen und man konnte deutlich eine blaue Schleife erkennen. Es war nicht im Computer, weil diese blaue Schleife wohl nicht relevant dafür war das Mädchen zu finden.
„Oh Mann“, sagte Ferdinand, „Sie können anfangen zu denken.“
Bianca nickte und beide begannen, die Akte ausführlich zu studieren.
Am Ende sagte Ferdinand: „Sie müssen mitkommen und mich beim Staatsanwalt unterstützen. Er denkt, es gibt keinerlei Zusammenhänge.“
„Ich komme nicht mit. Sie schaffen das schon alleine, Herr Waldhöft. Und jetzt gehen wir nach Hause, es ist spät. Sie können sich ja melden, wenn Sie noch etwas erfahren haben.“