Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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      »Jetzt jammert Fantine gar um ein Pferd! Wie kann man so dämlich sein!«

      In dem Augenblick trat Favourite mit verschränkten Armen und zurückgeworfenem Kopfe vor Tholomyès hin und fragte mit energischem Ton:

      »Wo bleibt denn die versprochene Ueberraschung?«

      »Ja richtig. Der Augenblick ist gekommen. Meine Herren, die Stunde der Ueberraschung hat geschlagen. Meine Damen, warten Sie einige Minuten auf uns.«

      »Zuerst ein Kuß!« erklärte Blachevelle.

      »Auf die Stirn«, ergänzte Tholomyès.

      Jeder drückte feierlich seiner Geliebten einen Kuß auf die Stirn; dann gingen sie im Gänsemarsch der Thür zu, indem sie den Zeigefinger auf den Mund hielten.

      Favourite klatschte in die Hände.

      »Das fängt ja spaßhaft an«, sagte sie.

      »Bleibt nicht zu lange!« mahnte Fantine. »Wir warten auf Euch.«

      IX. Das lustige Ende der Lustigkeit

      Als die jungen Mädchen allein waren, stellten sie sich zu zweien an die Fenster und neigten sich hinaus.

      Die jungen Leute kamen aus dem Restaurant Bombardo Arm in Arm, wandten sich zu ihren Damen um, grüßten sie lachend und verschwanden in der Menge, die auf den Champs-Elysés hin- und herwogte.

      »Bleibt nicht zu lange!« rief ihnen Fantine zu.

      »Was werden sie uns wohl mitbringen?« fragte Sephine.

      »Doch gewiß etwas recht Hübsches!« bestimmte Dahlia.

      »Es muß etwas Goldenes sein!« sagte Favourite.

      Ihre Aufmerksamkeit wurde bald in Anspruch genommen durch das rege Treiben, das sich jetzt an dem Ufer des Flusses einwickelte. Es war die Stunde, wo die Postkutschen ihre Fahrt antraten. Damals waren die Champs-Elysée der wichtigste Ausgangspunkt für den Postverkehr mit dem Osten und Westen und die meisten Deligencen fuhren an dem Fluß entlang zu dem Thor von Passy hinaus. Eins nach dem andern von diesen gelb und schwarz angestrichenen, gewaltigen, schwerfälligen, mit Gepäck überladenen, mit Menschen vollgestopften Fuhrwerke rasselte in rasendem Galopp, Funken sprühend und Staub aufwirbelnd durch das Menschengewirr. Dieser Lärm machte unsern jungen Mädchen Spaß. Favourite rief:

      »Ein Lärm, als wenn Ketten auseinander gerissen werden!«

      Eine Deligence, die man durch die Ulmenkronen schwer erkennen konnte, hielt plötzlich an und setzte sich dann wieder in Bewegung.

      »Sonderbar!« meinte Fantine. »Ich glaubte, die Deligencen hielten nicht an.«

      Favourite zuckte die Achseln.

      »Die Fantine ist komisch. Ich besuche sie aus Neugierde, – weil sie mir Spaß macht. Ueber die einfachsten Dinge staunt sie. Gesetzt ich will mitfahren und sage: Ich gehe voraus. In der und der Straße steige ich ein. Gut. Ich warte also an der betreffenden Stelle, die Deligence kommt, hält an und ich steige ein. Das passiert alltäglich. Aber Du weißt nicht, wie's in der Welt zugeht, kleine Fantine.«

      So verging eine geraume Zeit. Endlich fuhr Favourite auf und rief ungeduldig:

      »Wann kommt denn die famose Ueberraschung?«

      »Sie bleiben sehr lange!« seufzte Fantine.

      In diesem Augenblick trat der Kellner, der sie bedient hatte, herein, mit einem Papier, das wie ein Brief aussah.

      »Was ist das?« fragte Favourite.

      »Ein Billet, das die Herren hinterlassen haben und das ich den Damen geben sollte.«

      »Warum ist das nicht gleich gebracht worden?«

      »Weil die Herren befohlen haben, es sollte den Damen erst nach Verlauf einer Stunde zugestellt werden.

      Favourite riß dem Kellner den Brief aus der Hand:

      Was? Keine Adresse. Aber statt dessen steht darauf:

      Dies ist die Ueberraschung.

      Sie erbrach hastig den Brief und las, denn sie konnte lesen:

      »O theure Geliebte!

      Wisset, daß wir Eltern haben. Was Eltern sind, davon habt Ihr keine rechte Wissenschaft. So was nennt der Civiloder Anstandskodex Vater und Mutter. Diese Eltern also seufzen, diese Alten sehnen sich nach uns, diese guten Männlein und Weiblein schelten uns verlorne Söhne, wünschen, daß wir zurückkehren, und erbieten sich uns zu Ehren Kälber zu schlachten. Da wir tugendhaft sind, gehorchen wir ihnen. Zur Zeit, wo ihr dieses leset, bringen uns fünf edle Rosse heimwärts, zu unsern Papas und Mamas. Wir schrammen ab, um uns der gewählten Ausdrucksweise unsrer Musterschriftsteller zu bedienen. Wir machen uns auf die Strümpfe, wir sind jetzt schon auf den Strümpfen. Die Deligence entreißt uns dem Abgrund, und der Abgrund seid Ihr, holde Kleinen! Wir kehren in die Gesellschaft, zur Pflicht, zur Ordnung im schnellsten Trabe, zwölf Kilometer per Stunde zurück. Es liegt im Interesse des Vaterlands, daß wir wie jeder Andre, Präfekten, Familienväter, Feldhüter und Staatsräthe werden. Heget also Ehrfurcht vor uns, denn wir üben Selbstverleugnung. Beweinet uns recht schnell und suchet baldigen Ersatz für uns. Wenn dieser Brief Euch das Herz zerreißt, so vergeltet ihm Gleiches mit Gleichem. Lebet wohl.

      Nahezu zwei Jahre lang haben wir Euch glücklich gemacht. Tragt es uns nicht nach.

      Unterzeichnet: Blachevelle.

      Fameuil.

      Listolier.

      Felix Tholomyès.

      P.S. Die Zeche ist bezahlt.«

      Die vier jungen Mädchen sahen einander an.

      Favourite brach zuerst das Stillschweigen.

      »Es ist ein ganz guter Witz, das muß man sagen.«

      »Es ist zum Lachen,« stimmte Sephine bei.

      »Das ist ein Einfall von Blachevelle,« sagte Favourite. »Nun könnte ich mich in ihn verlieben. Die alte Geschichte. Sobald er weg ist, liebt sie ihn.«

      »Bewahre!« entgegnete Dahlia. »Das hat Tholomyès ausgeheckt. Das ist doch leicht zu merken.«

      »Dann nieder mir Blachevelle, und Tholomyès lebe hoch!« rief Favourite.

      Es lebe Tholomyès! schrieen Dahlia und Sephine.

      Und die drei lachten laut auf.

      Fantine lachte mit.

      Aber eine Stunde später, als sie nach Hause gekommen war, weinte sie. War doch Tholomyès wie schon erwähnt, ihre erste Liebe, und die Aermste ein Kind.

Viertes Buch. In schlechten Händen

      I. Zwei Mütter

      In dem ersten Viertel dieses Jahrhunderts war in Montfermeil bei Paris eine Gastwirtschaft, die gegenwärtig nicht mehr existiert. Die Inhaber hießen Thénardier, Mann und Frau. Sie lag in der Ruelle du Boulanger. Ueber der Thür sah man ein an der Mauer festgenageltes Brett. Darauf war etwas gemalt, das aussah wie ein Mann, der einen andern auf dem Rücken trägt, und dieser Andre hat große goldne Generalsepauletten mit breiten, silbernen Sternen; rothe Kleckse stellten Blut vor; das Uebrige war Rauch, und das Ganze sollte wohl eine Schlacht sein. Darunter las man die Aufschrift: Zum Sergeanten von Waterloo.

      Nichts ist gewöhnlicher als ein Rollwagen oder Karren vor der Thür einer Herberge. Indessen das Fuhrwerk oder besser gesagt, das Bruchstück von Fuhrwerk, das an einem Abend des Frühjahrs 1818 vor dem »Sergeanten von Waterloo« sich breit machte, hätte sicherlich wegen seines gewaltigen Volumens die Aufmerksamkeit eines Malers auf sich gezogen, wenn ein Solcher hier vorbeigekommen wäre.

      Es war das Vordergestell eines Blockwagens, wie man sie in Waldgegenden zum Transport


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