Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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indessen, der auf irgend einem geheimen Umwege in Erfahrung gebracht hatte, daß die Kleine ein uneheliches Kind war, dessen Existenz von der Mutter verhehlt werden mußte, verlangte fünfzehn Franken Kostgeld. Die Kleine, behauptete er, wachse sehr und esse jetzt viel mehr.

      »Wenn sie mich will darunter leiden lassen, daß sie unsaubre Geschichten zu verheimlichen hat, so komm ich ihr, ehe sie's sich versieht, über den Hals und schmeiße ihr den Balg vor die Füße.«

      Auch diese Steigerung ließ sich die Mutter gefallen.

      Das Kind wuchs von Jahr zu Jahr, und sein Elend ebenfalls.

      Anfangs bestand der Hauptzweck ihres Daseins darin, daß sie sich von Thénardiers Kindern beliebig mißhandeln lassen mußte; als sie aber fünf Jahre alt geworden, wurde sie auch noch die Dienstmagd des Hauses.

      »Ein fünfjähriges Kind – Dienstmädchen? Nicht möglich!« wird man einwenden. Doch, doch! Leider! Das soziale Elend kehrt sich an kein Lebensalter. Haben wir doch kürzlich einen gewissen Dumolard vor Gericht gesehen, einen Banditen, der laut officiellen Urkunden, als verwaistes, fünfjähriges Kind, »von seiner Hände Arbeit und vom Diebstahl lebte.«

      Cosette mußte alle Gänge machen, die Stuben, den Hof, die Straße fegen, das Geschirr abwaschen, ja Lasten tragen. Dies zu verlangen, hielten sich die Thénardiers um so mehr für berechtigt, als die Mutter, die noch immer in Montreuil-sur-Mer weilte, anfing weniger pünktlich zu zahlen. Mit einigen Monaten Kostgeld blieb sie sogar im Rückstände.

      Wäre sie jetzt, nach Verlauf dreier Jahre, nach Montfermeil zurückgekehrt, so hätte sie ihr Kind nicht wiedererkannt. So niedlich und kräftig Cosette bei ihrer Ankunft im Thénardierschen Hause gewesen war, so mager und blaß sah sie jetzt aus. Dabei hatte sie etwas Aengstliches oder, wie die Thénardiers es nannten, Duckmäuserisches in ihrem Wesen.

      Die Ungerechtigkeit brachte die Wirkung hervor, daß sie zänkisch wurde und, infolge des Elends, war sie häßlich geworden. Nur ihre schönen Augen waren ihr geblieben, aber in die konnte man nicht hineinsehen, ohne daß es einem weh ums Herz wurde. Schienen sie doch nur deshalb so groß zu sein, um recht viel Traurigkeit wiederspiegeln zu können.

      Es war kläglich anzusehen, wenn dies, noch nicht sechsjährige Kind, zur Winterzeit, in alten Leinwandlumpen vor Kälte bebte und in den rothen, verfrorenen Händchen, mit Thränen in den großen Augen, einen mächtigen Besen hantierte.

      In der Umgegend nannte man sie die Lerche. Diesen Namen hatte das Volk, das figürliche Redewendungen liebt, dem verschüchterten, scheuen Geschöpfchen beigelegt, das jeden Morgen zuerst im Hause und im Dorfe aufstand, das schon vor dem Tagesgrauen auf der Straße, oder auf dem Felde zu sehen war.

      Schade nur, daß die Lerche nie sang.

Fünftes Buch. Dem Abgrund zu

      I. Ein Fortschritt in der Glasindustrie

      Was war aber unterdessen aus der Mutter geworden, die, wie man in Montfermeil behauptete, ihr Kind im Stiche gelassen hatte? Wo hielt sie sich auf? Wie ging es ihr?

      Nachdem sie ihr Töchterchen bei den Thénardiers zurückgelassen, war sie weiter gewandert, bis nach Montreuil-sur-Mer.

      Es war, wie man sich entsinnen wird, im Jahre 1818.

      Zehn Jahre waren jetzt verflossen, seitdem Fantine aus ihrer Provinz nach Paris gegangen war. In der Zeit hatte sich Montreail-sur-Mer stark verändert. Während Fantine allmählich immer tiefer im Elend versank, war ihre Heimatsstadt emporgekommen.

      Seit zwei Jahren hatte sich daselbst ein Umschwung in der Industrie vollzogen, der für einen kleinen Ort ein großes Ereigniß bedeutet.

      Dieser Umstand ist von Wichtigkeit, und wir müssen deshalb jetzt näher darauf eingehen.

      Seit Menschengedenken beschäftigte man sich in Montreuil-sur-Mer mit der Nachahmung der englischen Gagate und der deutschen, schwarzen Glaswaaren, aber ohne besonderen Erfolg, da der hohe Preis der Rohstoffe jede wirksame Konkurrenz unmöglich machte. Doch zu der Zeit, wo Fantine nach Montreuil-sur-Mer zurückkam, hatte die Erzeugung der »schwarzen Waaren« eine unerhörte Umwälzung erfahren. Gegen das Ende des Jahres 1815 war ein Unbekannter gekommen und hatte bei der Fabrikation das Harz durch Gummilack und die blechernen, gelötheten Schieber an den Armbändern durch blos angefügte ersetzt. Diese geringfügigen Aenderungen brachten eine Revolution in der Glasindustrie zu Stande.

      Denn dadurch kamen die Rohstoffe billiger zu stehen, und die Folge hiervon war erstens, daß der Arbeitslohn erhöht werden konnte, was ein Segen für den Ort war; zweitens eine Verbesserung des Fabrikats, was ein Vortheil für den Consumenten war; drittens eine Verbilligung der Waare, bei dreimal so großem Profit für den Fabrikanten.

      Also drei Vortheile, die sich aus einer Erfindung ergaben.

      In noch nicht drei Jahren war der Urheber der Idee reich geworden, und das war gut; andrerseits hatte er den Ort reich gemacht, und das war besser. Er war fremd in dem Departement. Woher er kam, wußte man nicht; wie er emporgekommen, auch nicht genauer.

      Man erzählte sich, er habe sehr wenig Geld gehabt, als er in der Stadt ankam, höchstens einige Hundert Franken.

      Auf diesem geringen Kapital, das er im Dienste einer gescheidten Idee verwertete und durch Ordnung und Nachdenken befruchtete, hatte er sein Glück und das der ganzen Umgegend aufgebaut.

      Bei seiner Ankunft in Montreuil-sur-Mer schien er; seiner Kleidung, seiner Haltung und seiner Sprache nach zu urtheilen, ein Arbeiter zu sein.

      Es hieß, an dem Tage, wo er – es war gegen Abend und im Monat Dezember – einen Tornister auf dem Rücken und einen Knotenstock in der Hand, unbeachtet in die Stadt hereinkam, habe gerade das Gemeindehaus in Flammen gestanden. Der Fremde stürzte sich mit Lebensgefahr in das brennende Haus und rettete zwei Kinder, die des Gendarmeriehauptmanns, weshalb man es unterlassen hatte, ihn nach seinem Paß zu fragen. In der Folge erfuhr man seinen Namen. Er hieß Vater Madeleine.

      II. Madeleine

      Vater Madeleine war ein Fünfziger, der sehr nachdenklich aussah und ein guter Mensch war. Das war Alles, was man über ihn sagen konnte.

      Dank der, durch ihn bewirkten, Ummodelung der Glasindustrie war Montreuil-sur-Mer ein bedeutender Handelsplatz geworden. Von Spanien, das viel schwarzen Jet konsumirt, liefen daselbst jedes Jahr ansehnliche Bestellungen ein und Montreuil-sur-Mer machte sogar London und Berlin eine ziemlich fühlbare Konkurrenz. Der Nutzen, den Vater Madeleine aus seinem Geschäft zog, war so bedeutend, daß er schon im zweiten Jahr eine große Fabrik mit zwei sehr geräumigen Werkstätten erbauen konnte. Dorthin konnte ein Jeder kommen, der Noth litt, mit der sichern Aussicht Arbeit und Brot zu finden. Denn Vater Madeleine verlangte von den Männern nur guten Willen, von den Frauen Sittenreinheit, von Allen Ehrlichkeit. Werkstätten hatte er zwei eingerichtet, um die beiden Geschlechter von einander zu trennen und damit die jungen Mädchen und Frauen nicht der Verführung ausgesetzt seien. In diesem einzigen Punkte war er unbeugsam bis zur Unduldsamkeit. Allerdings war diese Strenge eine durchaus berechtigte, denn da Montreuil-sur-Mer eine Garnisonsstadt war, lief die Tugend seiner Arbeiterinnen große Gefahren. Ueberhaupt spielte er für die ganze Umgegend die Rolle einer gütigen Vorsehung. Vor seinem Auftreten lag Alles darnieder; jetzt verspürte man überall den materiellen und moralischen Segen der Arbeit und den kräftigen Pulsschlag eines neuen Lebens, das Alles durchdrang und Alles erwärmte. Arbeitslosigkeit und Elend waren unbekannte Dinge. Auch der Aermste hatte jetzt Geld in der Tasche, auch in die bescheidenste Hütte drang jetzt ein Strahl der Freude.

      Inmitten all' dieser Thätigkeit, deren Ursache und Angelpunkt er war, erwarb, wie schon erwähnt, Vater Madeleine ein bedeutendes Vermögen, aber merkwürdigerweise schien dies nicht seine Hauptsorge zu sein. Offenbar dachte er mehr an Andere, als an sich selber. 1820 wußte man, daß er bei dem Bankier Lafitte sechshundert dreißig Tausend Franken zu liegen hatte, aber ehe er dieses Geld für sich behielt, hatte er über eine Million für die Stadt und für die Armen


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