Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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eine obere und eine untere Stadt. In letzterer, wo er wohnte, gab es nur eine Schule, die sich in einem elenden, baufälligen Zustande befand. Er ließ zwei neue bauen, eine für die Knaben, die andere für die Mädchen. Außerdem warf er den beiden Schullehrern eine Summe aus, die doppelt so groß war, als ihr Gehalt, und bemerkte, als sich Jemand über diese Freigebigkeit wunderte: »Die Amme und der Schulmeister sind die ersten Beamten des Staates.« Desgleichen gründete er auf seine Kosten eine Kleinkinderbewahranstalt, was damals in Frankreich noch etwas fast Unbekanntes war, und eine Unterstützungskasse für alte und invalide Arbeiter. Als um seine Fabrik herum ein neues Stadtviertel entstanden war, wo viele bedürftige Familien sich ansiedelten, gründete er eine Apotheke, in der Arzneien unentgeltlich verabfolgt wurden.

      Anfangs hatte es von ihm geheißen: »Der Kerl ist ein Pfiffikus, der reich werden will.« Als dann der Ort eher reich wurde, als Vater Madeleine, machten dieselben Klugschmuse die Entdeckung, der Mann sei ein Streber. Diese Ansicht hatte allerdings eine große Wahrscheinlichkeit für sich, denn Madeleine war religiös und besuchte sogar mit einer gewissen Regelmäßigkeit die Kirche, was damals wohl gelitten war, insbesondere wohnte er jeden Sonntag einer stillen Messe bei. Dem Deputirten, der Montreuil-sur-Mer in der Kammer vertrat und überall Nebenbuhler witterte, kam diese Religiosität verdächtig vor. Er war unter dem Kaiserreich Mitglied des gesetzgebenden Körpers gewesen und theilte in Bezug auf Religion die Ansichten eines Priesters vom Oratorium, Namens Fouché, Herzog von Otranto, dessen Kreatur und Freund er gewesen war: Er riß bei verschlossenen Thüren fidele Witze über den lieben Gott, Aber als er den reichen Fabrikanten Madeleine die stille Messe um sieben Uhr besuchen sah, beschloß er ihn zu überbieten, nahm sich einen Jesuiten zum Beichtvater und wohnte regelmäßig dem Hochamt und dem Nachmittagsgottesdienst bei. Denn zu jener Zeit stürmten die Streber ihrem Ziele mit dem Wetteifer zu, der Reiter bei einer Steeplechase beseelt. Glücklicher Weise profitirten die Armen so gut, wie der liebe Gott von dieser Konkurrenz, denn der ehrenwerthe Abgeordnete stiftete auch zwei Betten in dem Hospital, was im Ganzen zwölf ausmachte.

      Unterdessen verbreitete sich 1819 eines Morgens in der Stadt das Gerücht, Vater Madeleine sei, in Anbetracht seiner Verdienste um das Wohl der Stadt, von den Herrn Präfekten dem Könige zum Bürgermeister von Montreuil-sur-Mer vorgeschlagen worden. Dies war Wasser auf die Mühle Derer, die den neuen Ankömmling für einen Streber erklärt hatten, und sie ließen die schöne Gelegenheit nicht vorüber gehen, ohne sich ihre Weisheit bestätigen zu lassen. »Aha! Haben wir's Euch nicht gesagt?« Ganz Montreuil-sur-Mer gerieth in Aufregung. Das Gerücht war begründet. Einige Tage darauf meldete der Moniteur Madeleine's Ernennung zum Bürgermeister. Allein dieser – schlug die angebotne Ehre aus.

      In demselben Jahre beschickte Madeleine die Gewerbeausstellung mit den neuen, von ihm erfundenen Erzeugnissen, und infolge des Berichtes der Jury ernannte der König den Erfinder zum Ritter der Ehrenlegion. Abermals Sensation und Spannung in der Stadt: »Ja so! Er hatte es auf das Kreuz abgesehn!« Aber Vater Madeleine schlug auch das Kreuz aus.

      Räthselhafter Mensch! Indeß die Klugschmuse wußten sich zu helfen und meinten: »Na, er ist ein Abenteurer!«

      Wir haben also gesehen, daß die Stadt ihm viel, die Armen Alles verdankten; er stiftete so viel Nutzen, daß man ihm schließlich Ehrungen erwies, und war so gütig, daß man ihn lieb gewinnen mußte; besonders seine Arbeiter vergötterten ihn, und er nahm ihre Verehrung mit einer Art schwermüthigen Ernstes entgegen. Als er reich geworden, grüßten ihn die feinen Leute und nannten ihn »Herrn« Madeleine; die Arbeiter und die Kinder freilich fuhren fort, ihn Vater Madeleine zu nennen und dieser Titel erregte sein besondres Wohlgefallen. Als er aus der Niedrigkeit höher und höher emporstieg, regnete es Einladungen bei ihm. Die »feinen Leute« suchten ihn in ihren Umgangskreis zu ziehen. Die Salons, in die er als armer Handwerker nie Zugang gehabt hätte, thaten ihre Thüren weit auf, ihn aufzunehmen, nun er Millionär geworden war. Aber auch diese Einladungen lehnte er ab.

      Und wieder verstand es die kluge Welt eine plausible Deutung für dieses Verhalten zu finden: Er ist ein unwissender, ungebildeter Mensch. Wer weiß, welches seine Herkunft sein mag? Er versteht sich nicht in guter Gesellschaft zu bewegen. Es ist noch gar nicht sicher, ob er lesen kann. U. dgl. m.

      Allein im Jahre 1820, fünf Jahre nach seiner Ankunft in Montreuil-sur-Mer, waren die Dienste, die er der Stadt erwiesen hatte, so augenfällig und die allgemeine Stimmung zu seinen Gunsten eine so entschiedene, daß der König ihn abermals zum Bürgermeister ernannte. Er lehnte die Ehre wieder ab, aber der Präfekt wollte diese Weigerung nicht gelten lassen, die Honoratioren der Stadt kamen zu ihm, das Volk auf der Straße bat ihn, das Amt anzunehmen, kurz von allen Seiten drang man so lebhaft in ihn, daß er schließlich nachgab. Einen entscheidenden Eindruck machte wohl auf ihn der ärgerliche Zuruf einer alten Frau aus dem Volke: »Ein guter Bürgermeister kann viel Nutzen stiften. Darf einer Nein sagen, wenn es gilt, was Gutes zu thun?«

      Er hatte also jetzt die dritte Stufe erklommen. Erst Vater Madeleine, dann Herr Madeleine und jetzt »der Herr Bürgermeister.«

      III. Bei Lafitte hinterlegte Gelder

      Bei alledem war Vater Madeleine ein schlichter, einfacher Mann geblieben. Graue Haare, ernst blickende Augen, von der Sonne gebräunte, Züge ein nachdenklicher Gesichtsausdruck. Bekleidet war er gewöhnlich mit einem langen, hochgeschlossenen Rock aus grobem Tuch. Abgesehen von dem Verkehr, zu dem seine Pflichten als Bürgermeister ihn nötigten, lebte er einsam. Er sprach mit Wenigen, wich aus, wenn man ihn höflich grüßte, oder brach das angefangene Gespräch rasch ab, lächelte, um nicht reden, und schenkte Geld, um nicht lächeln zu müssen. Einen gutherzigen Bären nannten ihn die Frauen. Immer zog er dem Umgang mit Menschen, Ausflüge auf das Land vor.

      Auch seine Mahlzeiten nahm er allein ein, las aber dabei; Seine Bibliothek war gut ausgewählt, und er hielt viel von den Büchern, den stillsten und sichersten Freunden des Menschen. Je mehr Muße ihm allmählich die stetige Vermehrung seines Reichthums verschaffte, desto eifriger befliß er sich, seine Kenntnisse zu erweitern. Dies Bestreben wirkte auf seine Art sich auszudrücken zurück, die von Jahr zu Jahr sich höflicher, gewählter und milder gestaltete.

      Bei seinen Ausflügen in die Umgegend trug er gern eine Flinte, bediente sich ihrer aber höchst selten. Geschah dies dennoch, so schoß er mit einer Treffsicherheit, die schrecken erregen konnte. Nie tötete er ein unschädliches Thier, nie einen kleinen Vogel.

      Obgleich er nicht mehr jung war, erzählte man sich, er besitze eine mächtige Körperkraft. Jedenfalls griff er gerne zu, wenn es galt, Hilfe zu leisten, ein gestürztes Pferd wieder aufzurichten, einen festgefahrenen Wagen aus dem Koth herauszuziehen, einen wüthenden Stier bei den Hörnern zu packen. Wie gutmüthig er war, sah man auch daraus, daß er stets viel kleines Geld mitnahm, wenn er ausging und jedesmal mit leeren Taschen zurückkam. Die zerlumpten Kinder in den Dörfern liefen ihm mit Freudengeschrei nach und umtanzten ihn, wie ein Schwarm Mücken.

      Manche muthmaßten, daß er ursprünglich auf dem Lande aufgewachsen sein mußte, denn er lehrte die Bauern eine Menge nützlicher Geheimnisse. Er zeigte ihnen, wie man der Kornmotte zu Leibe geht, nämlich mit einer Auflösung von gewöhnlichem Salz, womit die Dielen begossen werden müssen. Er kannte »Rezepte« gegen das Rapünzchen, die Rade, die Wicke, den Kuhweizen und andre Schmarotzerpflanzen, die das Getreide ersticken. Um von einem Kaninchengehege die Ratten fern zuhalten, hieß er die Bauern ein Meerschweinchen hineinthun, dessen Geruch die Ratten nicht leiden können.

      Eines Tages sah er Leute, die sich alle erdenkliche Mühe gaben, ein Feld von Nesseln zu befreien, er betrachtete die entwurzelten und zum Theil schon vertrockneten Pflanzen und bemerkte: »Nun ist das Alles tot. Aber wieviel Nutzen könnte man davon haben, wenn man damit umzugehen verstände. So lange sie jung sind, liefern die Brennnesselblätter ein vorzügliches Gemüse; später enthalten sie Fasern und Fäden, wie der Hanf und der Flachs. Gehackt geben Brennnesseln ein gutes Fressen für das Geflügel ab; zerrieben, für das Hornvieh. Dem Viehfutter beigemengt, bewirkt Brennnesselsamen, daß die Haut der Tiere einen schönen Glanz bekommt, mit Salz vermischt, erzeugen Brennnesselwurzeln eine schöne gelbe Farbe. Außerdem ist es ein gutes Heu, das man zweimal mähen kann. Und was braucht die Brennnessel? Wenig Platz, gar keine Abwartung und Pflege. Nur daß der Same


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