Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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Herrn wittert. Von diesem Augenblick an vermied er es, so viel wie möglich, ihm zu begegnen. Zwangen ihn aber seine dienstlichen Pflichten, dem Herrn Bürgermeister unter die Augen, zu treten, so sprach er zu ihm in aller Ehrfurcht.

      Die Hebung des Wohlstandes, die Montreuil-sur-Mer dem Vater Madeleine verdankte, gab sich, abgesehen von vielen augenfälligen Beweisen, durch ein Symptom kund, das wenig beachtet wurde, aber darum nicht minder bedeutsam war. Man kann mit Sicherheit Folgendes behaupten: Wenn die Bevölkerung Noth leidet, die Arbeit fehlt, der Handel darniederliegt, wehrt sich der Steuerzahler, läßt sich eine Frist nach der andern bewilligen, kommt schließlich seinen Verpflichtungen gar nicht nach und der Staat muß viel Geld verausgaben für die Eintreibung der Steuern, und die Zwangsvollstreckungen. Wenn es dagegen viel Arbeit giebt, wenn viel Geld verdient wird, kostet die Einkassirung der Steuern dem Staat sehr wenig. Man darf also behaupten, daß sich die Noth und der Reichthum eines Landes mit einem unfehlbaren Thermometer leicht feststellen lassen, nämlich den Unkosten der Steuererhebung. Zu jener Zeit nun hatten, in dem Arrondissement Montreuil-sur-Mer, diese um drei Viertel abgenommen, so daß der damalige Finanzminister de Villèle dieses Arrondissement allen Andern als ein nachahmenswerthes Vorbild zitirte.

      So günstig lagen die Verhältnisse, als Fantine nach ihrer Vaterstadt zurückkehrte. Niemand erinnerte sich ihrer. Glücklicher Weise stand ihr die Thür der Madeleine'schen Fabrik offen. Sie meldete sich und bekam in der Frauenwerkstätte einen Platz. Die Arbeit war ihr durchaus neu, und sie konnte, da sie nicht viel fertig brachte, auch nicht viel verdienen, aber was sie verdiente, reichte zum Leben aus, und das Ziel ihrer Wünsche war erreicht.

      VIII. Frau Victurnien giebt fünfunddreißig Franken für moralische Zwecke aus

      Als Fantine sah, daß sie von ihrem Verdienst leben konnte, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Welche Gnade des Himmels! Die Lust zur Arbeit kehrte wieder zurück. Sie kaufte sich einen Spiegel, freute sich wieder an dem Anblick ihrer jugendlichen Miene, ihrer blonden Haare und weißen Zähne, vergaß Vieles, dachte fast nur noch an ihre Cosette und an die Möglichkeit einer besseren Zukunft; kurz, sie fühlte sich beinahe glücklich. Sie miethete ein kleines Zimmer und kaufte sich Möbel auf Kredit, denn diese Art Lüderlichkeit haftete ihr noch aus ihrer Vergangenheit an.

      Da sie nicht sagen konnte, daß sie verheiratet sei, so hütete sie sich wohl ihres Töchterchens Erwähnung zu thun.

      Indessen fiel es in der Werkstätte bald auf, daß sie »so viel Briefe schreiben ließ« und »fein thue.«

      Niemand spürt so gut das Thun und Lassen seiner Nebenmenschen aus, als Diejenigen, die es nichts angeht. – »Warum kommt der Herr immer in der Dämmerstunde? Warum nimmt Herr So und So des Donnerstags immer seinen Schlüssel mit? Warum vermeidet er die Hauptstraßen? Warum steigt die gnädige Frau immer eine Strecke vor ihrem Hause aus der Droschke? Warum läßt sie sich besondres Briefpapier holen, während sie doch genug in ihrer Schreibmappe hat?« U. s. w. U. s. w. Manche Menschen vergeuden, um hinter derartige, ihnen übrigens völlig gleichgültige Geheimnisse zu kommen, mehr Geld, Zeit und Mühe, als zu zehn guten Handlungen nöthig sein würde; und zwar ohne irgend einen Zweck, zum Vergnügen, ohne andern Lohn für ihre Neugierde, als die Befriedigung dieser Neugierde. Sie schleichen diesem Herrn oder jener Dame Tage lang nach, stehen Stunden lang Schildwache an Straßenecken, unter Thorwegen, zu nachtschlafender Zeit, bei kaltem oder regnerischem Wetter, kneipen mit Droschkenkutschern und Lakaien, bestechen Dienstmänner, Kammerfrauen, Portiers. Wozu? Blos um etwas zu sehen, zu hören und auszuschnüffeln. Blos weil ihnen die Zunge juckt und sie Stoff zum Erzählen haben müssen. Und nicht selten zieht die Enthüllung solcher Geheimnisse schweres Unglück nach sich, Duelle, Fallissements, den Ruin ganzer Familien, allerdings zur großen Freude Derer, die »Alles entdeckt« haben, ohne Vortheil für sich und bloß zur Befriedigung eines Instinkts. Traurig!

      Manche Menschen richten Schaden an, bloß weil sie dem Drange zu reden folgen müssen. Ihr Geschwätz gleicht gewissen Kaminen, die viel Holz verzehren. Diese Leute verbrauchen auch viel Brennmaterial, nämlich Menschenleben und Menschenglück.

      In dieser Weise wurde auch Fantine beobachtet.

      Außerdem war auch mehr, als eine unter ihren guten Freundinnen neidisch auf ihre blonden Haare und ihre weißen Zähne.

      Es wurde konstatirt, daß sie während der Arbeit sich öfters bei Seite wandte, um verstohlen eine Thräne zu trocknen. Es waren dies Augenblicke, wo sie an ihr Kind oder vielleicht auch an den Mann, den sie geliebt hatte, dachte.

      Fäden zu zerreißen, welche die Gegenwart mit einer düstern Vergangenheit verknüpfen, kostet dem Herzen viel Ueberwindung!

      Fantinens gute Freundinnen brachten heraus, daß sie wenigstens zweimal monatlich an dieselbe Person schrieb und daß sie den Brief frankirte. Es gelang ihnen auch, sich die Adresse zu verschaffen. Sie lautete: An Herrn Thénardier, Gastwirth zu Montfermeil. Es wurde auch in der Kneipe der öffentliche Schreiber ausgeforscht, und es hielt nicht schwer, denn der alte Tropf gewann es nie über sich, Wein in seinen Magen zu gießen, ohne zugleich sein Hirn, das nun einmal nicht viel Geheimnisse, so wenig wie andere Dinge, zu fassen vermochte, gründlich auszupumpen. Kurz, man erfuhr, daß Fantine ein Kind hatte. »Nun natürlich! Das konnte man sich von vornherein sagen, daß an Der nicht viel dran war!« Zu guter Letzt fand sich dann noch eine gute Frau, die nach Montfermeil reiste, mit den Thénardiers sprach und nach Hause zurückgekehrt, triumphirte: »Es hat mir fünfunddreißig Franken gekostet, aber nun weiß ich doch, woran ich bin! Ich habe das Kind gesehen!«

      Die Gevatterin, die diese Heldenthat fertig brachte, war eine Megäre, mit Namen Frau Victurnien, die sich als eine Hüterin der öffentlichen Moral aufspielte. Sie war sechsundfünfzig Jahr alt und noch weit häßlicher, als ihre Jahre eigentlich erlaubten. Dieses vermeckerte, alte Scheusal war merkwürdiger Weise auch einmal jung gewesen. In ihrer Jugend hatte sie 1793 einen Bernardiner Mönch geheirathet, der aus dem Kloster zu den Jakobinern übergegangen war. An diesen abtrünnigen Diener der Kirche, der ihr gegenüber mit Erfolg den »Herrn und Gebieter« in der energischsten Bedeutung dieser Formel hervorgekehrt hatte, dachte der heimtückische, boshafte, alte Sauertopf noch oft in süßem Weh, war aber unter der Restauration fromm geworden und zwar so entschieden, daß die Geistlichkeit ihr die Heirat mit dem Mönch verziehen hatte. Dafür erwies sie sich auch dankbar, indem sie ausposaunen ließ, sie habe einer religiösen Körperschaft ihr Vermögen hinterlassen. Diese Frau Victurnien also ging nach Montfermeil und meldete, sie habe das Kind gesehen.

      Darüber ging natürlich Zeit hin. Fantine war beinahe ein Jahr in der Fabrik beschäftigt, als eines Morgens die Direktrice ihr im Namen des Herrn Bürgermeisters fünfzig Franken übergab und ihr sagte, für sie habe der Chef keine Arbeit mehr. Auch thäte sie gut daran, die Stadt zu verlassen.

      Diese Kündigung erhielt sie gerade in dem Monat, wo die Thénardiers fünfzehn Franken Kostgeld, statt zwölf verlangten.

      Es war ein Donnerschlag für Fantine. Sie konnte nicht die Stadt verlassen, weil sie ihre Miethe und das Geld für die Möbel schuldig geblieben war. Diese Schuld zu entrichten, dazu reichten fünfzig Franken nicht aus. Sie legte sich also auf's Bitten, aber die Direktrice bedeutete ihr, sie habe sofort die Werkstätte zu verlassen. Noch mehr durch die Schande, als durch die Verzweiflung niedergedrückt ging sie nach Hause. Ihr Fehltritt war also jetzt ruchbar geworden!

      Sie hatte nicht mehr die Kraft, gegen ihr böses Geschick anzukämpfen. Man rieth ihr, sich an den Herrn Bürgermeister persönlich zu wenden, aber sie getraute es sich nicht. Der Herr Bürgermeister hatte ihr die fünfzig Franken gegeben, weil er gut, und er entließ sie, weil er gerecht war. Diesem Urteilsspruch unterwarf sie sich.

      IX. Was Frau Victurnien Schönes angerichtet hatte

      Die Wittwe des Mönches war also doch zu etwas gut gewesen.

      Denn Madeleine hatte von der ganzen Sache kein Sterbenswörtchen erfahren. Fantinens Entlassung war einfach das Ergebnis einer Verbindung von Umständen, wie deren im Leben sich so viel ereignen. Madeleine betrat nur selten den Frauensaal. Die Direktrice, ein altes Fräulein, die ihm der Pfarrer empfohlen


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