Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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und das Thier wäre einer höheren Einsicht theilhaftig, als der Mensch.

      Javert war offenbar durch Madeleine's vollständig unbefangenes und ruhiges Wesen etwas aus der Fassung gebracht.

      Dennoch schien sein sonderbares Benehmen eines Tages auf Madeleine Eindruck zu machen. Nämlich bei folgender Gelegenheit.

      VI. Vater Fauchelevent

      Eines Morgens kam Madeleine in eine ungepflasterte Straße der Stadt. Da hörte er Lärm und sah in einiger Entfernung einen Auflauf. Er eilte hin. Es war da ein Pferd gestürzt und der Lenker, ein alter Mann, Vater Fauchelevent genannt, unter seinen Wagen zu liegen gekommen. Dieser Fauchelevent war einer der wenigen Feinde, die Madeleine damals noch hatte. Zur Zeit, wo Dieser nach Montreuil-sur-Mer kam, betrieb Fauchelevent, ein ehemaliger Gerichtsschreiber, ein Geschäft, das schlecht zu gehen anfing. Er hatte nun mit ansehen müssen, wie Madeleine, ein gewöhnlicher Arbeiter, reich wurde, während es mit ihm, der einen Titel, »Meister«, hatte, bergab ging. Das hatte ihn mit Neid erfüllt, und er that seitdem bei jeder Gelegenheit sein Möglichstes, um Madeleine zu schaden. Zuletzt war der Bankerott gekommen und, alt wie er war, ohne Mittel, abgesehen von einem Pferde und einem Wagen, ohne Familie, ohne Kinder, war er, um sich sein bischen Brot zu verdienen, Fuhrmann geworden.

      Das Pferd hatte beide Beine gebrochen und konnte nicht aufstehen. Der Alte lag zwischen den beiden Rädern und so unglücklich war er gefallen, daß der ganze, schwer beladene Wagen mit seiner vollen Wucht auf ihm lastete. Der Arme stöhnte, daß es zum Erbarmen war. Ein Versuch, ihn hervorzuziehen, war mißglückt, und es blieb, um ihn zu retten, kein anderes Mittel übrig, als daß der Wagen von unten in die Höhe gehoben werden mußte. Aus diesem Grunde hatte denn auch schon Javert, der gleich zu Anfang der Katastrophe hinzugekommen war, Leute nach einer Wagenwinde geschickt.

      Da kam Madeleine herzu. Alle traten achtungsvoll bei Seite.

      »Hülfe! Hülfe!« jammerte Fauchelevent. »Wer hat Erbarmen mit einem armen Alten?«

      Madeleine wandte sich an die Anwesenden mit der Frage:

      »Ist eine Wagenwinde zur Hand?«

      »Es sind Welche gegangen und wollen eine holen«, antwortete ein Bauer.

      »Wieviel Zeit gehört dazu?«

      »Sie haben's nicht weit, blos bis nach Flachot, da ist ein Hufschmied; aber eine gute Viertelstunde wird's wohl dauern.«

      »Um Gottes Willen! Eine Viertelstunde!« rief entsetzt Madeleine. Es hatte am Tage zuvor geregnet, der Erdboden war aufgeweicht, der Karren sank allmählig immer tiefer ein und drückte immer schwerer auf die Brust des Greises. Noch ehe fünf Minuten vergangen waren, mußten seine Rippen brechen.

      »Eine Viertelstande darf nicht gewartet werden!« hob Madeleine wieder an.

      »Man wird wohl müssen!«

      »Aber dann ist's zu spät. Seht Ihr nicht, daß der Wagen in den Boden einsinkt?«

      »Nun freilich! Aber –«

      »Hört mal. Es ist noch so viel Platz unter dem Wagen, daß ein Mann hinunterkriechen und ihn mit dem Rücken hochheben kann. Eins halbe Minute, während der Zeit kann der arme Mensch vorgezogen werden. Ist unter Euch Einer der ein starkes Kreuz und Courage hat? Fünf Louisd'or soll er bekommen!«

      Niemand rührte sich.

      »Zehn Louisd'or!« rief Madeleine.

      Alle schlugen die Augen nieder, und Einer bemerkte:

      »Der müßte verteufelt stark sein. Und zu Brei gequetscht kann man dabei auch werden.«

      »Vorwärts!« rief Madeleine wieder. »Zwanzig Louis'dor!«

      Abermaliges Stillschweigen.

      »Am guten Willen fehlt's ihnen nicht!« rief plötzlich eine Stimme.

      Madeleine wandte sich um und erkannte Javert, den er bisher nicht bemerkt hatte.

      Javert fuhr fort.

      »An Kraft fehlt's ihnen. Es gehört ein fürchterlicher Kerl dazu, solch einen Wagen mit dem Rücken hoch zu heben.«

      Bei diesen Worten sah er Madeleine schärfer an und fuhr mit besonderer Betonung fort:

      »Herr Madeleine, ich habe in meinem Leben nur einen Menschen gekannt, der solch ein Kraftstück leisten konnte.«

      Madeleine fuhr zusammen, worauf Javert, ohne ein Auge von Madeleine zu verwenden, und mit nachlässigem Tone hinzufügte:

      »Es mal ein Galeerensklave.«

      »Ach!« machte Madeleine. »In Toulon.«

      Madeleine wurde blaß.

      Währenddem sank der Wagen langsam immer tiefer, und Fauchelevent stöhnte und schrie:

      »Ich ersticke! Meine Rippen brechen! Eine Winde! Oder was Andres! O–h!«

      Madeleine sah sich abermals im Kreise um.

      »Also Niemand will zwanzig Louis'dor verdienen und dem Armen das Leben retten?«

      Keiner der Umstehenden rührte sich, und Javert wiederholte:

      »Ich habe in meinem Leben nur einen Menschen, einen Zuchthäusler, gekannt, der eine Winde ersetzen konnte.«

      »Ich kann's nicht länger aushalten!« lamentirte der Alte.

      Madeleine hob den Kopf, begegnete dem Blicke Javerts, der sein Falkenauge auf ihn geheftet hielt, sah die Bauern an, die unbeweglich da standen, und lächelte schwermüthig. Dann ließ er sich, ohne ein Wort zu sprechen, auf die Knie nieder und kroch, ehe die Menge Zeit gehabt hatte, auch nur einen Schrei auszustoßen, unter den Wagen.

      Ein banger Augenblick, wo Alles den Athem anhielt, erfolgte.

      Zweimal versuchte Madeleine, die Kniee den Ellbogen zu nähern. »Vater Madeleine!« riefen die Zuschauer. »Lassen Sie das!« Sogar der alte Fauchelevent sagte: »Herr Madeleine, es geht nicht. Es ist einmal bestimmt, daß ich jetzt sterben muß. Gehen Sie fort und lassen Sie Sich nicht auch zermalmen!«

      Madeleine erwiderte Nichts.

      Die Umstehenden keuchten vor Angst. Schon waren die Räder so tief eingesunken, daß Madeleine kaum noch unter dem Wagen hervorkonnte.

      Plötzlich erzitterte die gewaltige Last, der Wagen stieg langsam in die Höhe und die Räder wurden zur Hälfte frei.

      »Beeilt Euch!« stöhnte Madeleine mit schwacher Stimme. Sie griffen tapfer zu. Das gute Beispiel, mit dem Einer voranging, hatte Allen Kraft und Muth eingeflößt. Zwanzig Arme hoben den Wagen. Der alte Fauchelevent war gerettet.

      Madeleine richtete sich empor. Er sah leichenblaß aus, obgleich er von Schweiß triefte. Seine Kleider waren zerrissen und mit Koth bedeckt. Alle weinten. Der Gerettete küßte ihm die Kniee und nannte ihn seinen Gott. Auf Madeleine's Antlitz aber lag ein unbeschreiblicher Ausdruck tiefen Wehes und himmlischer Befriedigung, während er sein ruhiges Auge auf Javert richtete, der ihn noch immer unverwandt ansah.

      VII. Fauchelevent kommt als Gärtner nach Paris

      Fauchelevent hatte sich bei seinem Sturze die Kniescheibe ausgerenkt. Vater Madeleine ließ ihn daher nach dem Lazareth bringen, das er für seine Arbeiter in dem Fabrikgebäude eingerichtet hatte, und wo zwei barmherzige Schwestern angestellt waren. Am folgenden Morgen fand der Alte auf seinem Nachttisch einen Tausendfrankenschein, mit einem Zettel von Madeleine, worauf geschrieben stand: »Ich kaufe Ihnen Ihren Wagen und Ihr Pferd ab.« NB., das Fuhrwerk war entzwei, und das Pferd war tot. Fauchelevent wurde wieder gesund, aber sein Knie blieb steif. Madeleine verschaffte ihm, mit Hülfe der barmherzigen Schwestern und seines Pfarrers, eine Anstellung als Gärtnerin einem Frauenkloster in dem Quartier Saint-Antoine zu Paris.

      Dies geschah kurze Zeit, bevor Madeleine zum Bürgermeister ernannt wurde. Als


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