Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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Mühe geben, so würde man aus den Brennnesseln großen Nutzen ziehn; man vernachlässigt sie aber, und da wird ein Unkraut daraus. Dann rottet man sie aus. Mit vielen Menschen macht man's freilich nicht besser. Merkt Euch, Freunde! So was wie Unkraut giebt's nicht, ebenso wie's auch keine schlechten Menschen giebt. Man versteht blos nicht mit dem Kraut und den Menschen richtig umzugehen.«

      Die Kinder hatten ihn auch noch gern, weil er aus Stroh und Kokosnüssen allerliebste Sächelchen zu machen verstand.

      Sah er die Thür einer Kirche schwarz verhangen, so ging er hinein; er hatte für ein Begräbniß dieselbe Vorliebe, die andre für eine Taufe haben. Tod und Unglück zogen ihn an, wegen der milden Stimmung, die sie erzeugen; er mischte sich unter die traurigen Hinterbliebenen und die Geistlichen, die seufzend einem Sarge folgten. Es hatte den Anschein, als lege er gern seinen Gedanken den Text der Klagegesänge zu Grunde, die uns an das Jenseit erinnern. Die Augen zum Himmel aufgeschlagen, erhob er dann seine Seele zu dem geheimnißvollen Unendlichen.

      Viele seiner guten Werke that er im Verborgenen, als handle es sich um etwas Böses. Er schlich sich z.B. heimlich in ein Haus ein. Es geschah dann wohl, daß ein armer Mensch seine Thür geöffnet, ja erbrochen fand. Er jammerte: »Bei mir hat Einer gestohlen!« Trat er aber in sein Zimmer hinein, so glänzte ihm ein Goldstück entgegen, das der Spitzbube, Vater Madeleine, zurückgelassen hatte.

      Er war leutselig und schwermüthig. Das Volk sagte deshalb: »Er ist nicht stolz, trotzdem er reich ist! Er sieht nicht zufrieden aus, trotzdem er so viel Geld hat!«

      Manche behaupteten, es hafte etwas Räthselhaftes an diesem Menschen und versicherten, er ließe Niemand in sein Zimmer, das, nach Art von Klausnerzellen, mit Menschenknochen und Todtenköpfen verziert sei. Dieses Gerücht trat mit einer solchen Bestimmtheit auf, daß eines Tages einige spottlustige, feine Damen zu ihm kamen, mit der Bitte, er möge ihnen doch sein Zimmer zeigen; es gehe die Rede, daß es darin ganz graulig aussehe. Er ließ sie lächelnd sofort hinein und sie fanden sich arg enttäuscht. Es war ein gewöhnliches, mit ordinären, unschönen Mahagonimöbeln und billigen Tapeten versehenes Zimmer. Nur ein paar Leuchter, die auf dem Kaminsims standen, fielen ihnen auf. Sie waren von »echtem Silber«, das stellten die Kleinstädterinnen fest, indem sie sich, gewissenhaft überzeugten, daß beide Leuchter gestempelt waren.

      Trotz alledem hieß es noch immer, Niemand werde je in dieses Zimmer hineingelassen, und es sehe grausig aus, wie eine Einsiedlerhöhle, ein Grabmal.

      Desgleichen munkelte man, er habe »kolossal« viel Geld bei Lafitte zu liegen und zwar sei merkwürdiger Weise Vorkehr getroffen, daß ihm auf sein Verlangen das ganze Geld sofort und mit einem Mal ausgezahlt werden müsse. Herr Madeleine könne also beispielsweise eines schönen Tages in Lafitte's Komptoir kommen, eine Quittung unterschreiben, seine zwei oder drei Millionen binnen zehn Minuten in die Tasche stecken und davongehen. In Wirklichkeit reduzirten sich aber, wie schon gesagt, die zwei oder drei Millionen auf sechshundert dreißig oder vierzig Tausend Franken.

      IV. Madeleine trauert

      Zu Anfang des Jahres 1821 meldeten die Zeitungen das Ableben des Bischofs Myriel von Digne im Alter von zweiundachtzig Jahren.

      Sie vergaßen zu erwähnen, daß er seit mehreren Jahren blind gewesen, aber mit seinem Schicksal versöhnt war, da er seine Schwester bei sich hatte.

      Beiläufig gesagt: Blind sein und geliebt werden, ist auf dieser Erde, wo nichts vollkommen ist, ein seltsam hohes Glück. Beständig neben sich eine geliebte Frau, eine Tochter, eine Schwester, irgend ein zartes, weibliches Wesen zu haben, das wir bedürfen und das uns nicht entbehren kann, stets den Grad ihrer Zuneigung an dem Quantum Zeit messen zu können, das sie uns widmet; in Ermangelung ihrer Gestalt, ihre Gedanken zu sehen; zu wissen, daß Eine uns treu bleibt, wo die ganze Welt uns im Stich läßt; ihr Kleid wie Engelflügel uns umrauschen zu hören; zu denken, daß man der Punkt ist, auf den sich alle ihre Thaten, Worte, Schritte beziehen; jeden Augenblick seine eigene Anziehungskraft zu äußern; sich um so mächtiger zu fühlen, je ohnmächtiger man ist; in dem Dunkel und wegen des Dunkels das Gestirn zu sein, um das der Engel gravitirt. Diesem Glück gleicht nicht leicht ein anderes. Das höchste Wonnegefühl gewährt die Ueberzeugung, daß man geliebt um seiner selbst willen, ja besser gesagt, trotz seines Selbst geliebt wird, und diese Ueberzeugung besitzt der Blinde. Jeder Dienst, den man ihm erweist, ist eine Liebkosung. Mangelt ihm irgend etwas? Nein. Der verliert nicht das Licht, der die Liebe hat. Sieht man nichts, so fühlt man doch, daß man angebetet wird, und lebt man in Finsterniß, so ist es eine Finsterniß, die ein Paradies erfüllt.

      Aus diesem finstern Paradiese war der Bischof Bienvenu in das jenseitige hinübergegangen.

      Gleich nachdem die Todesanzeige im Lokalblatt von Montreuil-sur-Mer erschienen war, legte Madeleine Trauerkleidung an.

      Das gab wieder zu reden. Man munkelte, da er um den Bischof trauere, müsse er ein Verwandter von ihm sein und die vornehme Gesellschaft von Montreuil-sur-Mer betrachtete ihn alsbald mit größerem Wohlwollen und Respekt, die alten Damen grüßten ihn höflicher und die jungen lächelten ihm liebenswürdiger zu. Eines Abends endlich erkühnte sich eine alte Dame, die vornehmste in den vornehmen Kreisen der Stadt und die sich auch wegen ihres Alters etwas Neugierde gestatten durfte, zu der Frage: »Der Herr Bürgermeister sind wohl ein Vetter des verstorbenen Bischofs von Digne?«

      »Nein, gnädige Frau!« erwiderte Madeleine.

      »Sie trauern aber doch um ihn!« versetzte die Alte.

      »In meiner Jugend bin ich Lakai in seiner Familie gewesen.«

      Noch eins fiel an ihm als eine unerklärliche Absonderlichkeit auf. Jedes Mal, wenn ein kleiner Savoyarde nach Montreuil-sur-Mer kam, ließ ihn der Herr Bürgermeister zu sich bescheiden, fragte ihn nach seinem Namen und schenkte ihm Geld. Das erzählten sich die kleinen Savoyarden und es kamen eine ganze Menge nach Montreuil-sur-Mer.

      V. Schwarze Punkte am Horizont

      Im Laufe der Zeit nahmen alle Feindseligkeiten ein Ende. Vermöge einer Art Naturgesetz, dem alle Emporkömmlinge verfallen, waren Anfangs Niedertracht und Verleumdung über Madeleine hergefallen, dann schwächte sich der Haß zu Mißgunst und Spott ab, endlich verschwand er ganz und machte einer vollkommenen, einstimmigen, von Herzen kommenden Achtung Platz. 1821 kam eine Zeit, wo in und um Montreuil-sur-Mer die Worte »der Herr Bürgermeister« mit nahezu derselben Betonung ausgesprochen wurden, wie um 1815 »Se. Bischöfliche Gnaden« in Digne. Meilenweit kamen die Leute herbei, Madeleine um Rath zu fragen. Er schlichtete Streitigkeiten, verhinderte Prozesse, versöhnte geschworene Feinde. Man hatte die Empfindung, daß er in seinem Innern einen Kodex des natürlichen Rechtes trage.

      Ein einziger in der Stadt und der Umgegend entzog sich vollständig dem Einfluß der öffentlichen Meinung und blieb, was auch Madeleine thun mochte, ihm feindlich gesinnt, als wenn eine Art unbestechlicher Instinkt ihn wach und in Unruhe hielt. Scheint doch in der That manchen Menschen ein geradezu thierischer Naturtrieb inne zu wohnen, der Zuneigung und Widerwillen erzeugt, mit Notwendigkeit verschiedne Naturen von einander fern hält, nicht schwankt, sich nicht beirren läßt, nie schweigt und sich nicht widerspricht, der klar sieht in seiner Dunkelheit, unfehlbar, unwiderstehlich, der Vernunft und Logik abhold ist, und, in welchen Verhältnissen sie auch zu einander stehen mögen, ein Mitglied einer Menschengattung deutlich benachrichtigen, wenn es einem Menschen einer andern Gattung gegenüber steht, so wie ein Hund eine Katze, ein Fuchs den Löwen wittert.

      Oft, wenn Madeleine ruhig, leutselig, von Allen mit Achtung begrüßt auf der Straße ging, geschah es, daß ein großer Mann mit einem eisengrauen Rocke, einem dicken Spazierstock und einem Hut mit herabhängender Krämpe sich rasch nach ihm umdrehte und ihm mit den Augen folgte, bis er verschwunden war, dann die Arme verschränkte und mit der Unterlippe die obere bis an die Nase emporschob, als wolle er sagen: »Wer in aller Welt mag das sein? Ich habe ihn doch schon früher einmal gesehen. Jedenfalls lasse ich mir von dem nichts vormachen.«

      Dieser Mann mit seinem unheimlich ernsten Gesicht gehörte zu denen, die einem Beobachter, auch wenn er ihn nur einmal flüchtig gesehen


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