Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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Wähler und sehr strenger Geschworener, dabei aber immer noch Lebemann war.

      Um die Mitte des Tages war Fantine, nachdem sie für ein paar Sous eine Strecke gefahren war, in der Ruelle du Boulanger in Montfermeil angelangt.

      Als sie hier vor der Herberge der Thénardiers vorbeikam, zogen die beiden kleinen Mädchen, die sich auf ihrem Ungethüm von Schaukel so schön amüsirten, die Augen der armen Wanderin auf sich und sie blieb stehen, ihre Augen an der Freude der Kleinen zu weiden.

      Es giebt Dinge, die mit der Gewalt eines Zaubers auf den Menschen wirken. Einen solchen Eindruck machten jetzt die beiden Kinder auf Fantine, deren Mutterherz bei dem reizenden Schauspiel in Entzücken gerieth.

      Sie betrachtete mit innigster Rührung die kleinen Engel, die doch wohl in einem Paradiese leben mußten und glaubte über der Thür der Herberge ein von der Vorsehung geschriebenes: »Hier ist es!« zu lesen. Die kleinen Wesen hatten es augenscheinlich recht gut! Dies waren die Gefühle, die ihr Herz bewegten, als sie die Mutter der Kleinen beim Singen unterbrach und ihr zurief:

      »Sie haben da zwei allerliebste Kinderchen! Die gefühllosesten Kreaturen werden weicher gestimmt, wenn man ihre Sprößlinge lobt,« Die Angeredete blickte auf, dankte und lud die Fremde ein, auf der Bank Platz zu nehmen, während sie auf der Schwelle sitzen blieb.

      »Ich heiße Frau Thénardier. Diese Gastwirthschaft gehört uns«, sagte sie und trällerte ihr Lied halblaut weiter.

      Frau Thénardier war rothhaarig, übermäßig fleischig, von eckiger Gestalt, kurz, ein echtes Soldatenweib in des Wortes ungraziösester Bedeutung. Dabei aber hatte sie ein zieriges Wesen, das sie einer ausgedehnten Romanlektüre verdankte. Sie war noch jung, höchstens dreißig Jahre alt. Hätte sie aufrecht gestanden, so wäre vielleicht bei dem Anblick ihrer kolossalen Statur, die in einer Jahrmarktsbude als Kuriosität Ehre eingelegt hätte, die Fremde entsetzt zurückgewichen und das, was wir jetzt berichten wollen, wäre unmöglich geworden. Von dem Umstande, ob in einem gegebenen Augenblick Jemand eine sitzende oder stehende Haltung einnimmt, kann aber ein Menschenschicksal abhängen.

      Die Fremde erzählte, indem sie sich einige Abweichungen von der Wirklichkeit gestattete, ihre Lebensgeschichte.

      Sie sei eine Arbeiterin; ihr Mann wäre gestorben; in Paris finde sie keine Arbeit und suche gegenwärtig welche in ihrem Heimathsort; sie hätte heute früh Paris zu Fuß verlassen, aber da sie sich mit dem Kinde tragen mußte, sei sie müde geworden und in den Wagen, der nach Villemomble fuhr, gestiegen; den Weg von Villemomble bis nach Montfermeil sei sie zu Fuß gekommen; die Kleine wäre ein Bischen gegangen, aber sie habe sie natürlich bald wieder auf den Arm nehmen müssen und da wäre das Herzenskind eingeschlafen.

      Dabei küßte sie ihr Töchterchen voller Inbrunst, so daß diese aufwachte. Die Kleine machte ihre großen blauen Augen weit auf und sah sich um mit jenem Ernst, welcher der lichtvollen Unschuld dieser kleinen Wesen den schon dunkel gewordenen Tugenden der Erwachsenen gegenüber so schön ansteht. Ist es doch, als wüßten sie, daß sie Engel und wir Menschen sind! Dann fing die Kleine an zu lachen, zappelte sich kräftig los aus den Armen der Mutter, die sie zurückhalten wollte, und glitt auf die Erde herab. Mit einem Mal wurde sie ihrer Altersgenossinnen auf der Schaukel ansichtig und ließ zum Zeichen ihrer Bewunderung die Zunge aus dem weit geöffneten Mündchen heraushängen.

      Mutter Thénardier band ihre Kinder los, nahm sie von der Schaukel herunter und sagte:

      »So, nun spielt alle drei zusammen!«

      In dem Alter ist man zutraulich, und es dauerte nicht lange, so scharrten die beiden kleinen Thénardiers und ihre neue höchst vergnügte Kameradin mit gewaltigem Eifer Löcher in die Erde.

      Unterdessen setzen die beiden Mütter das angefangene Gespräch fort.

      »Wie heißt Ihre Kleine?«

      »Cosette.«

      Der wirkliche Name war Euphrasia, aber Mutter hatte ihre Euphrasia in Cosette umgetauft, vermöge jenes hübschen sprachlichen Instinktes der Mütter und des Volkes, der aus Josefa Pepita und aus Françoise Sillette macht, Ableitungen, die den Theorieen der Etymologen entschieden zuwiderlaufen.

      »Wie alt ist sie?«

      »Sie wird bald drei Jahre alt.«

      »Wie meine Aelteste.«

      Währenddem war den kleinen Mädchen etwas Wichtiges passirt. Es war nämlich ein dicker Regenwurm aus der Erde hervorkrochen, und sie betrachteten ihn voller Bangigkeit und Verwundrung.

      Die drei Köpfchen dicht zusammengedrängt, bildeten sie eine allerliebste Gruppe.

      »Wie rasch die Kinder Bekanntschaft mit einander machen!« rief Mutter Thénardier. Sollte man nicht meinen, man hatte drei Schwestern vor sich?«

      Diese Aeußrung war ein Funke, auf den die andre Mutter gewartet zu haben schien. Sie ergriff die Hand der Thénardier, sah ihr ins Auge und fragte:

      »Wollen Sie mein Kind eine Zeit lang bei Sich behalten?«

      Die Thénardier machte eine Gebärde des Erstaunens, die weder Ja noch Nein bedeutete.

      Cosettens Mutter fuhr fort:

      »Sehen Sie, ich kann die Kleine nicht mitnehmen. Ich würde keine Arbeit bekommen, denn in meiner Heimat sind sie lächerlich in dieser Hinsicht. Der liebe Gott hat mich zu Ihnen hergeführt. Als ich Ihre allerliebsten, so reinlich gehaltnen und vergnügten Kinderchen gesehen habe, da ist mir ganz eigen zu Muthe geworden. Ich habe gedacht, das muß eine gute Mutter sein. Sie haben Recht: Die drei passen zu einander, als wenn's Schwestern wären. Außerdem bleibe ich auch nicht lange weg. Wollen Sie mir also bis dahin meine Kleine hier behalten?«

      »Man müßte sich die Sache überlegen,« meinte die Thénardier.

      »Ich würde sechs Franken den Monat geben.«

      Hier ließ sich aus dem Hause eine Männerstimme vernehmen.

      »Nicht unter sieben Franken. Und sechs Monate pränumerando.«

      Sechs mal sieben macht zweiundvierzig, berechnete die Thénardier.

      »Gut«, sagte die Fremde.

      »Und außerdem fünfzehn Franken für die ersten Auslagen.«

      »Im Ganzen siebenundfünfzig Franken, fuhr die Thénardier fort und sang ihre liebliche Romanze weiter:

      Es muß sein, so sprach der Krieger.«

      »Die sollen Sie haben,« sagte Fantine. Ich habe achtzig Franken. Da bleibt mir noch Geld genug übrig, um nach meinem Ort zu reisen, – wenn ich zu Fuß gehe. Wenn ich dort ein wenig Geld verdient habe, komme ich wieder und hole mir mein Herzenskleinod ab.«

      Aus dem Hause rief es wieder:

      »Die kleine hat doch eine Ausstattung?«

      »Mein Mann!« erklärte die Thénardier.

      »Nun natürlich hat sie eine Ausstattung. Ich habe mir gleich gedacht, daß es ihr Mann war. Sogar eine sehr statiöse, großartige! Alles dutzendweise, und Seidenkleidchen, wie das feinste Fräulein sie nicht besser haben kann. Ich habe Alles bei mir, in dem Reisesack.«

      »Das müssen Sie mitgeben!« rief der Mann wieder.

      »Nun natürlich bekommt sie's mit. Das wäre ja noch schöner, wenn ich meine Tochter ohne Kleider ließe!«

      Jetzt trat der Hausherr aus dem Hintergrunde hervor.

      »Ich bin's zufrieden.«

      Der Handel wurde also abgeschlossen. Fantine übernachtete in der Herberge, zahlte das Geld aus und machte sich ohne ihr Kind und mit dem stark zusammengeschrumpften Reisesack am nächsten Morgen wieder auf den Weg, indem sie darauf rechnete, bald wieder zurückkommen zu können. Eine solche Abreise läßt sich ruhigen Herzens beschließen, aber ist der Augenblick gekommen, so bringt sie Einen an den Rand der Verzweiflung.

      Eine Nachbarin der Thénardier begegnete Fantinen, als sie ohne ihr Kind von dannen ging, und


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