Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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er ehemals im Zuchthaus gesessen habe. Der Rechtsanwalt leugnete nicht, daß diese Thatsache leider richtig erwiesen sei. Denn der Angeklagte sei in Faverolles wohnhaft gewesen, habe das Handwerk eines Baumputzers betrieben; auch könne der Name Champmathieu sehr wohl aus Jean Mathieu umgewandelt sein; alles dies sei richtig; endlich hätten vier Zeugen mit Sicherheit in Champmathieu den Sträfling Jean Valjean wiedererkannt; diesen Ermittelungen und Aussagen könne er, der Vertheidiger, nur die Thatsache gegenüberstellen, daß sein Klient Alles bestreite. Zwar habe er ein Interesse daran, zu leugnen. Aber gesetzt auch, er sei der Sträfling Jean Valjean, wäre damit bewiesen, daß er die Aepfel gestohlen habe? Das sei doch nur eine Muthmaßung; keinesfalls ein Beweis. Allerdings, das müsse er, um der Wahrheit die Ehre zu geben, gestehen, daß der Angeklagte ein schlechtes Vertheidigungssystem angenommen habe. Er leugne hartnäckig Alles, daß er den Diebstahl begangen, und daß er ein ehemaliger Galeerensklave sei. Das Eingeständnis letzterer Thatsache wäre vernünftiger gewesen und würde ihm Ansprüche auf die Nachsicht der Richter verschaffen; er habe ihm auch dazu gerathen; aber Angeklagter habe sich dessen hartnäckig geweigert, in der Meinung, er könne Alles retten, wenn er nichts gestehe. Das sei unrecht; aber solle man nicht Rücksicht nehmen auf die Unzulänglichkeit seiner Intelligenz? Die lange Haft im Zuchthaus, das lange Elend nachher hätten den Unglücklichen abgestumpft, verthiert. U.s.w., u.s.w. Angeklagter vertheidige sich schlecht; sei dies aber ein Grund ihn zu verurteilen? Was den Fall Gervais betreffe, so befasse er sich nicht damit, da er nicht zur Sache gehöre. Der Vertheidiger beschloß also seine Rede mit einer inständigen Bitte an die Geschworenen und den Gerichtshof, sie möchten, wenn ihnen Jean Valjeans Identität gehörig erwiesen scheine, über ihn die Polizeistrafen als bannbrüchigen Verbrecher verhängen, nicht aber die entsetzliche Strafe, die rückfällige Verbrecher trifft.

      Jetzt antwortete der Staatsanwalt dem Vertheidiger in einer energischen und blumenreichen Rede, nach Art aller Staatsanwälte.

      Er wünschte dem Vertheidiger Glück zu seiner »Aufrichtigkeit« und machte sie sich weidlich zu Nutze. Aus allen Zugeständnissen seines Vorredners schmiedete er sich Waffen gegen den Angeklagten. Der Vertheidiger gebe offenbar zu, daß der Angeklagte Jean Valjean sei. Dies nahm er ad notam. Der Angeklagte sei also Jean Valjean. Dieser Punkt sei hiermit erwiesen und lasse sich nicht mehr anfechten. Hier schweifte der Herr Staatsanwalt mittels einer geschickten Antonomasie vom Thema ab, indem er auf die Quellen und Ursachen der Verbrechen zu sprechen kam, und donnerte machtvoll gegen die Unsittlichkeit der Romantiker, denen die Kritiker der Quotidienne und der Oriflamme den Titel »satanische Schule« angehängt hatten. Auf den Einfluß dieser schändlichen Schriftsteller führte er mit einer großartigen Logik Champmathieus oder richtiger Jean Valjeans Vergehen zurück. Nach gründlicher Erörterung dieses Punktes ging er zu Jean Valjeans Persönlichkeit über. Beschreibung Jean Valjeans: »Ein Ungeheuer, wie die Hölle nie ein scheußlicheres ausgespieen« u.s.w. Frei nach Racine, dessen berühmte Episode zwar für den Gang der betreffenden Tragödie überflüssig ist, der gerichtlichen Beredtsamkeit aber als eine unschätzbare Fundgrube tagtäglich schätzbare Dienste leistet. Selbstredend erbebten auch Publikum und Geschworene bei dieser schönen Charakterisirung Jean Valjeans. Darauf eine schwungvolle Wendung, die im höchsten Grade geeignet war, dem Redner die Bewunderung des Journal de la Préfecture zu sichern: Und ein solcher Mensch u.s.w. u.s.w., ein Landstreicher, ein Bettler u.s.w. u.s.w., ohne Existenzmittel u.s.w., der durch sein Vorleben zu allen Schandthaten fähig geworden und durch seinen Aufenthalt im Zuchthaus nicht gebessert ist, wie das an dem kleinen Gervais begangene Verbrechen sattsam beweist, u.s.w. u.s.w., ein solcher, beim Diebstahl auf frischer That, in der Nähe der soeben überkletterten Gartenmauer, im Besitz des Diebstahlsobjektes ertappter Mensch leugnet das delictum fragrans, Diebstahl, Einbruch, leugnet Alles, leugnet seinen Namen, seine Identität. Hundert anderer Beweise, auf die wir nicht mehr zurückkommen, zu geschweigen, erkennen ihn vier Zeugen wieder, Javert, der pflichtgetreue Polizei-Inspektor Javert, und drei von den ehemaligen Genossen seiner Schande, Brevet, Chenildieu und Cochepaille. Was setzt er dieser erdrückenden Einstimmigkeit entgegen? Er streitet Alles ab. Welche Verstocktheit! Meine Herren Geschworenen, ich lebe und sterbe der Ueberzeugung, Sie werden den Arm der Gerechtigkeit nicht aufhalten wollen u.s.w. u.s.w. Dieser Rede hörte der Angeklagte mit offenem Munde, höchlich erstaunt und nicht ohne eine gewisse Bewunderung zu. Es überraschte ihn augenscheinlich, daß Jemand so schön reden könne. Hin und wieder, bei den »energischsten« Stellen, wenn der sittliche Unwille des Staatsanwalts überquoll und eine Fluth kräftiger Schimpfworte über den Angeklagten ergoß, wiegte Dieser langsam den Kopf von einer Seite zur anderen, eine Art schwermüthiger und stummer Protest, mit dem er sich seit dem Anfang der Verhandlung begnügte. Zwei oder drei Mal hörten die ihm zunächst saßen, wie er halblaut sagte: Das kommt davon, daß er Herrn Baloup nicht gefragt hat! – Auf dieses stumpfsinnige, offenbar berechnete Verhalten machte der Staatsanwalt die Geschworenen auch aufmerksam. Es bekunde nicht etwa Dummheit, nein! Schlauheit, List, seine Gewohnheit, die Gerechtigkeit zu hintergehen und lege die »tiefe Verderbtheit« dieses Menschen zu Tage. Er endigte mit einem Vorbehalt bezüglich des Falles Gervais und beantragte eine strenge Verurtheilung, also lebenslängliches Zuchthaus.

      Nun erhob sich der Vertheidiger, machte dem Herrn Staatsanwalt Komplimente über sein »bewunderungswürdiges Rednertalent«, widerlegte ihn, so gut er konnte, aber nur schwach. Augenscheinlich fühlte er keinen festen Boden unter seinen Füßen.

      X. Er legte sich aufs Leugnen

      Die Verhandlung nahte sich hiermit ihrem Ende. Der Vorsitzende hieß den Angeklagten aufstehen und richtete an ihn die herkömmliche Frage: »Haben Sie etwas zu Ihrer Vertheidigung hinzuzufügen?«

      Der Mann stand da, drehte seine greuliche Kappe in den Händen herum und schien nichts zu hören.

      Der Vorsitzende wiederholte nun seine Frage:

      Dies Mal hörte der Angeklagte. Es schien, als begriff er, worum es sich handelte, er machte Bewegungen wie Jemand, der aus dem Schlaf erwacht, ließ seine Blicke nach allen Seiten schweifen, sah das Publikum, die Gendarmen, seinen Rechtsbeistand, die Geschwornen, den Gerichtshof an, legte seine ungeheure Faust auf die Randleiste des Getäfels, das vor seiner Bank war, schaute sich wieder um, heftete dann seinen Blick auf den Staatsanwalt und begann plötzlich zu reden. So gewaltsam, mit solcher Ueberstürzung brachen die Worte aus seinem Munde hervor, daß es schien, als drängten sie sich alle zugleich aus seine Lippen, um alle zu gleicher Zeit herauszukommen.

      »Ich habe zu sagen, daß ich Stellmacher in Paris gewesen bin, bei Herrn Baloup nämlich. Schwere Arbeit. Als Stellmacher arbeitet man immer im Freien, auf Höfen, bei guten Meistern unter einem Schuppen, nie in einem geschlossenen Raum, weil nämlich Platz dazu gehört. Im Winter friert Einen so, daß man die Arme übereinander schlagen muß, damit Einem warm wird, aber das wollen die Meister nicht, sie sagen, das nimmt Zeit weg. Eisen in den Händen halten, wenn das Wasser auf der Straße zu Eis gefriert, das ist eine eklig unangenehme Sache. Das nutzt einen Menschen rasch ab. Da wird mau schon alt bei, wenn man noch jung ist. Ist Einer vierzig Jahr alt geworden, dann ist er fertig. Ich hatte es auf dreiundfünfzig gebracht, und hatte meine liebe Noth, Dann sind auch die Arbeiter so boshafte Menschen. Ist ein armer Kerl nicht mehr jung, dann heißt's bei jeder Gelegenheit Alter Stiefel!

      Alter Dusel! Ich verdiente nur noch dreißig Sous den Tag; man bezahlte mich so schlecht wie möglich, die Meister machten's sich nämlich zu Nutze, daß ich alt war. Ich hatte noch eine Tochter, die Waschfrau war. Die verdiente auch ein Bischen. Wir Beide zusammen, da ging es einiger Maßen. Placken mußte sie sich auch. Den ganzen Tag mit dem halben Leibe im Wasser, ob's regnet, ob's schneit, ob's windig ist; wenn's friert, trotz alledem, immer waschen! Manche Leute haben nicht viel Wäsche und warten drauf; werden ihre Sachen nicht gleich gewaschen, so kommen sie nicht wieder, und man verliert ihre Kundschaft. Dann sind die Bretter schlecht zusammengefügt, und überall fallen Tropfen. Die Kleider werden von oben und von unten naß. Da dringt Einem die Kälte bis ins Mark. Sie hat auch im Waschhaus der Enfants-Rouges gearbeitet, wo eine Wasserleitung ist. Da stehen die Frauen nicht im Zuber. Die Wäsche wird am Hahn gewaschen, und hinter den Waschfrauen stehen Gefäße, wo sie gespült wird. Da arbeiten sie nun nicht im Freien und frieren nicht, weil's ein geschlossener Raum ist. Aber der heiße Wasserdunst ist schrecklich und ruiniert die Augen. Sie kam um sieben Uhr Abends nach


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