Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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gedulden. Und käme dann das Kind zurück, so würde sie naturgemäß glauben, daß der Herr Bürgermeister mit dem Kinde zurückgekommen wäre. Man brauchte ihr dann nichts vorzulügen.«

      Madeleine sann eine Weile nach, und sagte dann mit ruhiger Entschiedenheit:

      »Nein, liebe Schwester, ich muß zu ihr. Vielleicht fehlt mir später die Zeit dazu.«

      Die Nonne schien das geheimnißvolle und sonderbare »Vielleicht« nicht zu beachten, und antwortete leiser und mit gesenkten Augen:

      »Sie schläft, aber der Herr Bürgermeister können hinein.«

      Er machte eine Bemerkung über die Thür, die schlecht zuging, und deren Geknarr die Kranke im Schlaf stören konnte, trat dann in Fantinens Zimmer, und schlug den Vorhang ihres Bettes auseinander. Sie schlief. Ihr Athem brachte, indem er sich ihrer Brust entrang, jenes Geräusch hervor, das solchen Kranken eigenthümlich ist, und ihre Angehörigen so ängstigt, wenn sie des Nachts sorgenvoll an ihrem Bette wachen. Aber diese mühevolle Athmung beeinträchtigte nur wenig die über ihrem Gesicht verbreitete, heitre Ruhe, die sie in ihrem Schlafe verklärte. Sie war sehr weiß geworden mit Ausnahme der hochrothen Wangen. Ihre langen, blonden Wimpern, die einzige Schönheit, die ihr von ihrer Jungfräulichkeit und Jugend übrig geblieben, zitterten, während sie doch geschlossen und gesenkt waren. Ihr ganzer Körper regte sich leise, als wollten sich unsichtbare Flügel ausbreiten und ihn davon tragen. Nie hätte man glauben können, daß eine nahezu hoffnungslose Krankheit sie in Todesgefahr gebracht hätte.

      Wenn eine Hand sich einer Pflanze nähert, ihr eine Blüthe zu entreißen, so erbebt sie und scheint zugleich zurückzufahren und dem Räuber entgegenzukommen. So erzittert auch ein Menschenleib, wenn die Finger des Todes sich anschicken, die Seele zu pflücken.

      Madeleine stand eine Weile unbeweglich vor dem Bett und betrachtete abwechselnd die Kranke und das Krucifix, wie vor zwei Monaten, als er sie zum ersten Mal in diesem Zufluchtsort aufgesucht. Genau so wie damals verhielten sie Beide sich auch heute: Sie schlief und er betete, nur daß ihr Haar jetzt grau und seins weiß geworden war.

      Die Schwester war nicht mit hereingekommen. Und doch hielt er den Zeigefinger auf den Mund, als wäre in dem Zimmer Jemand, dem er Stillschweigen gebieten wolle.

      Da that Fantine die Augen auf und fragte mit einem ruhigen Lächeln:

      »Nun, wo bleibt Cosette?«

      II. Fantine ist glücklich

      Keine Ueberraschung, keine Aufwallung der Freude. Sie war die Freude selbst. Aus ihrer einfachen Frage: »Wo bleibt Cosette?« klang so viel Zuversicht, so feste Gewißheit, eine so selbstverständliche Ueberzeugung heraus, daß Madeleine kein Wort der Erwiderung fand. Sie fuhr fort:

      »Ich wußte, daß Sie da waren. Ich schlief und sah Sie doch. Ich sehe Sie schon längst. Ich bin Ihnen die ganze Nacht hindurch mit den Augen gefolgt. Sie waren von Himmelsglanz umgeben und lauter Engelsgestalten schwebten um Sie.«

      Er erhob die Augen zum Krucifix.

      »Sagen Sie mir aber doch«, fragte sie, »wo ist Cosette? Warum haben Sie sie mir nicht auf das Bett gelegt, bis ich aufwachen würde?«

      Er stammelte unwillkürlich und unbewußt einige Worte, deren er sich später nicht mehr entsinnen konnte.

      Glücklicher Weise war inzwischen der Arzt hinzugekommen und half jetzt Madeleine aus der Verlegenheit.

      »Mein Kind, beruhigen Sie sich! Ihr Kind ist da.«

      Fantinens Augen leuchteten auf und verbreiteten Heiterkeit über ihr ganzes Gesicht. Sie faltete die Hände und in allen ihren Zügen spiegelten sich die sanftesten und die heftigsten Empfindungen ab, denen der Mensch im Gebet Ausdruck zu leihen vermag.

      »O bringen Sie sie her!«

      »Noch nicht, in diesem Augenblick noch nicht. Sie fiebern noch etwas. Der Anblick Ihres Kindes würde Sie aufregen und Ihnen schaden. Erst müssen Sie gesund sein.«

      Sie fiel ihm heftig ins Wort:

      »Ich bin ja gesund! Ich versichere Sie, ich bin gesund! Was der Mann für ein Esel ist! Ich will mein Kind haben, verstanden?«

      »Sehen Sie, wie aufgeregt Sie sind! So lange Sie in diesem Zustande sind, werde ich dagegen sein, daß Sie Ihr Kind zu Gesicht bekommen. Es genügt nicht, daß Sie mit ihr zusammenkommen; Sie müssen für sie leben. Sobald Sie vernünftig sind, werde ich selbst sie Ihnen zuführen.«

      Die arme Mutter ließ den Kopf hängen.

      »Ich bitte Sie recht sehr um Verzeihung, Herr Doktor. Früher wären mir solche Worte nicht entfahren; aber es ist mir so viel Unglück passirt, daß ich oft nicht weiß, was ich rede. Ich begreife, daß Sie die Aufregung fürchten und werde warten, so lange es Ihnen beliebt. Ich sehe sie, ich verwende kein Auge von ihr seit gestern Abend. Wenn sie mir jetzt gebracht würde, so würde ich mit ihr ganz ruhig sprechen. So sehr bin ich schon mit dem Gedanken sie wiederzusehen vertraut. Ist es nicht ganz natürlich, daß ich Sehnsucht nach dem Kinde habe, das man mir eigens aus Montfermeil geholt hat? Ich bin nicht wüthend. Ich weiß, daß ich glücklich sein werde. Die ganze Nacht habe ich immerzu was Weißes gesehen und Leute, die mich anlächelten. Wann es dem Herrn Doktor beliebt, wird er mir meine Cosette bringen. Ich habe kein Fieber mehr, ich bin gesund; ich fühle, daß mir nichts mehr fehlt; aber ich werde thun, als wäre ich krank und still liegen, den Damen hier zu Gefallen. Wenn man sehen wird, daß ich mich ruhig verhalte, wird man einsehen, daß man mich meine Tochter sehen lassen darf.«

      Madeleine hatte sich auf einen Stuhl neben dem Bett niedergelassen. Sie wandte sich nach ihm hin, um sich mit ihm zu unterhalten und bemühte sich dabei sichtlich recht ruhig und »artig« zu sein, wie sie sich ausdrückte. Kam sie sich doch wegen ihrer Krankheit schwach, wie ein kleines Kind vor. Indem sie sich aber diesen Zwang anthat, konnte sie doch nicht umhin Madeleine mit Fragen zu überhäufen.

      »Haben Sie eine angenehme Reise gehabt, Herr Bürgermeister? Ach, wie gut sind Sie doch, daß Sie sich die Mühe gemacht haben, sie zu holen! Erzählen Sie mir wenigstens, wie sie aussieht. Hat sie die Fahrt gut ausgehalten? Schade, daß sie mich nicht wiedererkennen wird! Es ist so lange her, da hat das arme Dingelchen mich vergessen. Kinder haben ja kein Gedächtniß. Das hat ein Hirn, wie ein Vögelchen. Heute sieht das dies, morgen jenes und übermorgen hat es Beides verschwitzt. Hatte sie denn auch reine Wäsche? Hielten die Thénardiers sie hübsch ordentlich und sauber? Gaben sie ihr auch genug zu essen? Ach, wenn Sie wüßten, wie viel Sorgen ich mir die ganze Zeit über um das alles gemacht habe! Aber jetzt ist's ja vorbei. Ich bin überglücklich. Ach, wie gerne möchte ich sie sehen! Herr Bürgermeister, wie denken Sie? Ist sie hübsch? Nicht wahr, meine Tochter ist ein schönes Kind? Sie müssen im Postwagen sehr gefroren haben. Könnte man sie nicht auf ein ganz kleines Weilchen her bringen? Ich würde sie dann gleich wieder fortlassen. Was meinen Sie? Sie haben ja zu befehlen, und wenn Sie wollten ...«

      Er ergriff ihre Hand: »Cosette ist hübsch geworden. Sie ist gesund und munter. Aber beruhigen Sie sich. Sie sprechen zu lebhaft. Auch halten Sie Ihre Arme aus dem Bett und davon wird Ihr Husten schlimmer.«

      In der That unterbrachen starke Hustenanfälle sie fortwährend in ihrer Rede.

      Fantine murrte nicht und begann, da sie fürchtete, sie hätte durch allzu leidenschaftliche Klagen das Vertrauen zu ihrer Standhaftigkeit erschüttert, von gleichgültigen Dingen zu reden.

      »Montfermeil ist ein recht hübscher Ort, nicht wahr? Die Pariser machen viel Landpartieen dorthin. Verdienen die Thénardiers viel Geld? Ich glaube, es kommen da nicht viel Reisende durch. Ihre Gastwirthschaft ist eine erbärmliche Winkelkneipe.«

      Madeleine hielt noch immer ihre Hand fest und sah sie schwermüthig an; offenbar war er gekommen, ihr Dinge zu sagen, mit denen er sich jetzt nicht hervorwagte. Der Arzt war fortgegangen und nur Schwester Simplicia war bei ihnen geblieben.

      Plötzlich brach Fantine das allgemeine Schweigen mit dem Ausruf:

      »Ich höre sie! O Gott, ich höre


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