Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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den Athem an und lauschte mit Entzücken.

      Draußen auf dem Hof spielte ein Kind, die Tochter der Portierfrau oder irgend einer Arbeiterin. Dergleichen Zufälle treten ja immer auf und leiten in geheimnißvoller Weise schreckliche Schicksalswenduugen ein. Die Kleine draußen spielte, lief, tummelte sich, um warm zu werden, lachte und sang.

      »Oh!« rief Fantine, »das ist meine Cosette! Ich erkenne sie an der Stimme.«

      Das kleine Mädchen ging, wie es gekommen war, und ihre Stimme verhallte. Fantine horchte noch einige Zeit, dann verdüsterte sich ihr Gesicht und Madeleine hörte sie leise sagen: »Das ist recht schlecht von dem Doktor, daß er mein Kind nicht zu mir läßt. Er sieht überhaupt recht bösartig aus.«

      Indessen gewann die Heiterkeit wieder die Oberhand bei ihr. Sie fing, indem sie sich wieder hinlegte, ein Selbstgespräch an.

      »Wie glücklich wir leben werden! Herr Madeleine hat uns ein Gärtchen versprochen. Da wird mein Töchterchen spielen können. Sie wird jetzt schon die Buchstaben kennen, und ich werde sie lesen lehren. Im Garten kann sie den Schmetterlingen nachlaufen. Wie werde ich mich freuen, wenn ich ihr erst dabei zusehen werde! Dann wird sie auch konfirmirt werden. Richtig; aber wie lange ist das noch hin?«

      Sie zählte an den Fingern:

      »Eins, zwei, drei, vier ... Sie ist sieben Jahr alt ... Also in fünf Jahren. Da trägt sie einen weißen Schleier, durchbrochene Strümpfe und sieht schon beinahe wie eine Erwachsene aus. Liebste Schwester, Sie können sich nicht vorstellen, wie dumm ich bin. Jetzt denke ich gar an die Konfirmirung meiner Tochter!«

      Und sie lachte.

      Madeleine hatte inzwischen Fantinens Hand, losgelassen und hörte ihr zu, wie man dem Winde zuhört, in tiefsinnige Gedanken versunken. Plötzlich hielt sie inne mit sprechen; er hob mechanisch den Kopf in die Höhe und sah Fantine an.

      Sie sprach nicht, sie athmete nicht mehr; sie saß halb aufgerichtet da, die mageren Schultern halb entblößt; ihr kurz zuvor so seliges Gesicht war jetzt erdfahl, und sie starrte, rötlich erschrocken, mit weit aufgerissenen Augen nach dem anderen Ende des Zimmers hin.

      »Um Gottes Willen, Fantine, was fehlt Ihnen?« rief Madeleine.

      Sie antwortete nicht, wandte nicht die Augen von dem Gegenstand, den sie anblickte, sondern berührte nur mit der einen Hand seinen Arm und bedeutete ihm mit der anderen, daß er sich umsehen solle.

      Er wandte sich und sah – Javert.

      III. Javert freut sich

      Folgendes hatte sich nämlich ereignet.

      Es hatte so eben halb eins geschlagen, als Madeleine den Sitzungssaal des Schwurgerichts verließ. Er war in seiner Herberge gerade noch zur rechten Zeit gekommen, um mit der Briefpostkutsche abzufahren. In Montreuil-sur-Mer traf er dann kurz vor sechs Uhr Morgens ein und ließ es sich vor allen Dingen angelegen sein, den Brief an Laffitte aufzugeben. Dann war er nach dem Krankensaal gegangen, um Fantine zu besuchen.

      Kaum hatte er sich aber aus dem Sitzungssaal entfernt, als der Staatsanwalt zur Besinnung gelangt war und das Wort ergriffen hatte, um sein Bedauern über die Erkrankung des ehrenwerthen Bürgermeisters von Montreuil-sur-Mer auszusprechen, zu betonen, daß seine Ueberzeugung durch den – noch aufzuklärenden – Zwischenfall in keiner Weise erschüttert sei und die Verurtheilung Champmathieus, des wirklichen Jean Valjean, zu beantragen. Diese Hartnäckigkeit des Staatsanwalts lief aber ersichtlich der allgemeinen Ansicht, der Stimmung des Publikums, des Gerichtshofes und der Geschworenen, zuwider. Es wurde dem Vertheidiger denn auch nicht schwer, ihn zu widerlegen und nachzuweisen, daß in Folge der von Madeleine, d. h. dem wahren Jean Valjean, gemachten Enthüllungen, der Fall eine wesentlich andere Gestalt angenommen und die Geschworenen jetzt einen Unschuldigen vor sich hätten. Selbstredend hatte er die schöne Gelegenheit wahrgenommen, einige mustergültige, aber leider nicht ganz neue Epiphonemata über Irrthümer der Justiz u. s. w. u. s. w. zum Besten zu geben; der Vorsitzende war der Ansicht des Vertheidigers beigetreten und nach wenigen Minuten hatten die Geschworenen Champmathieu von der Instanz entbunden.

      Indessen brauchte aber doch der Staatsanwalt einen Jean Valjean und da ihm Champmathieu aus den Händen entwischte, so hielt er sich an Madeleine.

      Gleich nach der Freilassung Champmathieus schloß er sich mit dem Vorsitzenden ein. Sie konferirten über die Nothwendigkeit, den Bürgermeister von Montreul-sur-Mer verhaften zu lassen. Nun die erste Erschütterung vorüber war, hatte der Vorsitzende auch wenig dagegen einzuwenden. Man mußte doch der Gerechtigkeit ihren Lauf lassen. Außerdem aber war, um die volle Wahrheit zu sagen, der Vorsitzende zwar ein guter und einsichtsvoller Mann, aber zugleich auch gut königlich gesinnt und es hatte ihn verletzt, daß Madeleine von der Landung des »Kaisers Napoleon« und nicht von »Buonaparte« gesprochen hatte.

      Es wurde also der Haftbefehl ausgefertigt, den der Staatsanwalt durch einen Expressen an Javert gelangen ließ.

      Wir haben schon angegeben, daß Dieser unmittelbar nach seiner Vernehmung nach Montreuil-sur-Mer zurückgekehrt war.

      Javert stand eben aus dem Bett auf, als der Expresse eintraf und ihm den Verhaft- und den Vorführungsbefehl übergab. Selber ein gewiegter Polizist, setzte er Javert in wenigen Worten auseinander, was in Arras vorgefallen war. Der von dem Staatsanwalt unterzeichnete Verhaftsbefehl lautete: »Dem Polizei-Inspektor Javert wird hiermit aufgegeben, den Bürgermeister von Montreuil-sur-Mer, Madeleine, der in der heutigen Sitzung als der entlassene Zuchthaussträfling Jean Valjean agnoscirt worden ist, gefänglich einzuziehen.«

      Niemand hätte unserem Javert ansehen können, was in ihm vorging, als er das Vorzimmer zu dem Krankensaal betrat. Er hatte sein gewöhnliches Aussehen, war kalt, ruhig, ernst und so bedächtig wie immer die Treppe hinaufgestiegen. Aber die ihn genauer kannten, hätten einen gewaltigen Schreck bekommen. Man denke: Die Schnalle seines Halskragens saß statt im Genick am linken Ohr! Dieses Toilettendetail bedeutete, daß in Javert's Seele ein gewaltiger Sturm tobte.

      Javert war ein ganzer Mann, der es mit seiner Toilette so streng nahm, wie mit seiner Pflicht.

      Wenn also eine Schnalle an seiner Uniform nicht richtig saß, so mußte etwas ganz Ungewöhnliches, eine großartige Umwälzung in seinem Innern vorgegangen sein.

      Er hatte sich aus dem nächsten Wachtposten einen Korporal nebst vier Mann geholt, hatte dann seine Leute auf dem Hof warten heißen und sich von der arglosen Portierfrau, die daran gewöhnt war, Leute in Waffen bei dem Herrn Bürgermeister zu sehen, den Weg zu Fantinens Zimmer zeigen lassen.

      Hier angelangt, schloß er die Thür auf und schlich sich leise, wie eine Krankenwärterin oder ein Spion hinein.

      Genau genommen trat er nicht in das Zimmer ein. Er blieb auf der Thürschwelle stehen, den Hut auf dem Kopfe, die linke Hand in dem, bis ans Kinn zugeknöpften Rock. Sein Ellbogen umfing den Bleiknopf seines gewaltigen Stocks, der hinter seinem Rücken verschwand.

      So stand er etwa eine Minute lang, ohne bemerkt zu werden. Plötzlich aber hob Fantine den Kopf hoch, erblickte ihn und zeigte ihn Madeleine.

      In dem Augenblick, wo des Bürgermeisters Blick dem seinen begegnete, nahmen Javerts Züge einen grausigen Ausdruck an. Sein Gesicht glich dem Antlitz eines Teufels, der ein verloren geglaubtes Opfer wiederfindet.

      Die Gewißheit, daß er endlich Jean Valjean in seinen Klauen hielt, ließ alle Empfindungen, die er im Herzen hegte, nach außen hervortreten. Der aufgewühlte Grund stieg an die Oberfläche. Den Aerger darüber, daß er eine Zeit lang einer falschen Fährte nachgegangen, beschwichtigte die stolze Genugthuung darüber, daß er von Anfang an das Richtige geahnt und lange Jahre hindurch einem bessern Instinkt gefolgt war. Seine Zufriedenheit gab sich in seiner hochmüthigen Haltung kund, und die ganze Widerwärtigkeit und Scheußlichkeit des boshaften Triumphes lagerte auf seiner engen Stirn.

      Javert war selig, als wäre er im Himmel. Ohne sich klare Rechenschaft davon zu geben, war er sich doch einigermaßen bewußt, daß er, Javert, die Gerechtigkeit, die Aufklärung, die Wahrheit verkörpere, insofern sie Feinde alles Bösen


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