Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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den Strahl der Rache auf das Verbrechen, das Laster, die Rebellion, die Hölle. Aber so verdammenswert Javerts Gefühle waren, Gemeines haftete ihnen nicht an.

      Redlichkeit, Aufrichtigkeit, Ueberzeugungstreue, Pflichtgefühl sind Eigenschaften, die, irre geleitet, sich auf eine abscheuliche Art äußern können, die aber auch dann noch die Merkmale des Großen, Majestätischen behalten. Die erbarmungslose ehrliche Freude eines Schwarmgeistes, der im Dienste eines edlen Prinzips einen scheußlichen Frevel verübt, hat immer etwas, das Achtung gebietet. Javert war, ohne es zu ahnen, beklagenswert, wie jeder Unwissende, der einen Triumph davonträgt und beweist, wie böse das Gute sein kann.

      IV. Die Obrigkeit macht ihr Recht geltend

      Seit dem Tage, wo der Bürgermeister sie aus den Händen Javerts befreite, hatte Fantine ihn nicht wieder gesehen. Als er jetzt vor ihr auftauchte, konnte ihr kranker, schwacher Kopf keinen andern Gedanken fassen, als daß er gekommen sei, sie zu holen. Sie konnte den Anblick des fürchterlichen Menschen nicht ertragen, vergrub ihr Gesicht in ihre Hände und schrie angstvoll:

      »Herr Madeleine, retten Sie mich!«

      Jean Valjean – wir werden ihn fortan nicht anders nennen – hatte sich erhoben und sagte jetzt mit seiner sanftesten und mildesten Stimme zu Fantine:

      »Seien Sie unbesorgt. Er kommt nicht Ihretwegen.«

      Dann wandte er sich zu Javert mit den Worten:

      »Ich weiß, was Sie wollen.«

      »Vorwärts marsch!« brüllte Javert.

      Er verfuhr nicht wie gewöhnlich, gab nicht an, weswegen er gekommen sei, zeigte nicht den Vorführungsbefehl vor. Für ihn war Jean Valjean ein räthselhafter, unfaßbarer Gegner, ein teufelhafter Ringer, mit dem er sich nun schon fünf Jahre herumbalgte, ohne ihn werfen zu können. Diese Verhaftung war nicht die Einleitung zu einem Kampfe, nein, das Ende. Deshalb unterließ er alle weitläufigen Erklärungen und donnerte nur: »Vorwärts marsch!«

      Dabei trat er keinen Schritt vor, sondern warf auf Jean Valjean nur seinen Raubthierblick, mit dem er die unglücklichen Opfer des Elends zu fasciniren und an sich heranzuziehen gewohnt war.

      Dies war der Blick, der vor zwei Minuten Fantine bis ins innerste Mark durchschauert hatte.

      Als Javert aufschrie, hatte Fantine die Augen wieder geöffnet. Aber der Herr Bürgermeister war da. Was hatte sie also zu fürchten?

      Jetzt trat Javert bis in die Mitte des Zimmers vor und sagte:

      »Nun, wirst Du bald kommen?«

      Die Unglückliche blickte um sich. Es war Niemand da, als die Nonne und der Herr Bürgermeister. Wem galt das verächtliche Du? Doch nur ihr! Sie zitterte.

      Da sah sie etwas Ungeheuerliches, wie sie Ungeheuerlicheres auch nicht im ärgsten Fieberwahnsinn erschaut hatte.

      Sie sah, wie der Spitzel Javert den Herrn Bürgermeister am Kragen packte, sah den Herrn Bürgermeister demüthig das Haupt neigen. Ihr war, als ginge die Welt unter.

      »Herr Bürgermeister!« rief sie aus.

      Javert lachte teuflisch auf.

      »Mit der Bürgermeisterschaft ist's vorbei!«

      Jean Valjean wehrte sich nicht gegen die Hand, die seinen Rockkragen fest hielt, und sagte blos:

      »Javert ...«

      »Herr Inspektor!« »hast Du mich zu nennen.«

      »Herr Inspektor, ich möchte Ihnen ein Wörtchen unter vier Augen sagen.«

      »Laut! Sprich laut! Mit mir spricht man laut!«

      Jean Valjean aber fuhr noch leiser fort:

      »Ich habe Ihnen eine Bitte vorzutragen.«

      »Ich sage Dir, Du sollst laut sprechen!«

      »Es darf aber kein Andrer hören als Sie.«

      »Ist mir egal! Ich will nichts hören.«

      Jean Valjean wandte sich nach ihm um und sagte rasch und ganz leise:

      »Gewähren Sie mir drei Tage Frist! Blos drei Tage, damit ich die kleine Tochter der armen Frau da herholen kann. Ich bezahle, was nöthig ist. Sie können mich begleiten, wenn Sie wollen.«

      »Du spaßt!« schrie Javert. »Hör' mal, für dämlich habe ich Dich bis jetzt nicht gehalten! Drei Tage Frist willst Du haben, damit Du mir abschrammen kannst. Und da sagt er, das Kind will er holen! Der Spaß ist gut! Donnerwetter, der Spaß ist gut!«

      Fantine erschrak.

      »Mein Kind holen! Sie ist also nicht hier? Antworten Sie, Schwester: Wo ist Cosette? Ich will mein Kind haben! Herr Madeleine! Herr Bürgermeister!«

      Javert stampfte mit dem Fuß auf.

      »Nun fängt Die auch noch an! Wirst Du's Maul halten, Kanaille! Nettes Land, wo man die Zuchthäusler zu Bürgermeistern ernennt und wo Dirnen wie Gräfinnen gehalten werden. Aber das wird jetzt anders werden. Es war auch Zeit.«

      Er sah Fantine fest an, packte Halstuch, Hemde und Kragen seines Arrestanten noch derber und sagte:

      »Von einem Herrn Madeleine und einem Herrn Bürgermeister ist hier nicht die Rede. Hier handelt's sich um einen Spitzbuben, einen Räuber, einen Galgenvogel, Namens Jean Valjean. Den führe ich jetzt ab. Verstanden?«

      Fantine stemmte die Hände vor sich auf das Bett und fuhr jäh in die Höhe. Dann starrte sie Jean Valjean, Javert, die Nonne an; riß den Mund auf, um zu sprechen, stieß aber nur ein Röcheln aus der Kehle hervor, schlug die Zähne aneinander, streckte angstvoll die Hände aus und griff mit den geöffneten Händen um sich, wie ein Ertrinkender und fiel endlich auf das Kissen zurück. Dabei schlug ihr Kopf heftig auf den eisernen Rand des Bettgestells auf und sank auf ihre Brust herab.

      Sie war tot.

      Jean Valjean ergriff Javert's Hand und zwang ihn ohne Mühe, als hätte er mit einem Kinde zu thun, ihn loszulassen.

      »Sie haben sie umgebracht!« rief er.

      »Wirst Du bald ein Ende machen?« antwortete wüthend Javert. »Ich bin nicht hier, um Redensarten zu hören. Das können wir uns ersparen. Unten steht die Wache. Fix oder Du kriegst die Daumenschrauben zu kosten.«

      In einer Ecke des Zimmers stand eine alte eiserne Bettstelle, die stark demolirt war, obgleich sie noch von den Schwestern des Nachts benutzt wurde. Auf diese Bettstelle schritt Jean Valjean jetzt zu, brach im Nu, was für einen Mann von seiner Muskelkraft leicht genug war, die Querstange am Kopfende, die ohnehin nicht mehr fest saß, ab und faßte Javert scharf ins Auge. Der fand es rathsam, sich rückwärts nach der Thür hin zu konzentriren.

      Nun schritt Jean Valjean, die eiserne Stange in der Faust, langsamen Schrittes auf Fantinens Bett zu. Hier wendete er sich um und sagte mit kaum hörbarer Stimme:

      »Ich möchte Ihnen nicht rathen, mich jetzt zu stören.«

      Javert zitterte.

      Er wollte einen Augenblick die Wache rufen, aber während der Zeit konnte Jean Valjean ihm entwischen. Er blieb also, faßte seinen Stock bei dem dünnen Ende und lehnte sich an die Thürbekleidung, ohne Jean Valjean aus den Augen zu lassen.

      Jean Valjean seinerseits stützte den Ellbogen auf den Knauf der Bettstelle und die Stirn auf seine Hand. Dann betrachtete er stumm, in tiefe Gedanken versunken, die tote Fantine und auf seinem Gesicht war nur ein Ausdruck unendlichen Mitleids zu lesen. Nachdem er so eine Weile verharrt hatte, beugte er sich zu der Leiche nieder und sprach leise zu ihr:

      Was sagte er zu ihr? Was konnte der Verstoßene wohl der Toten sagen? Niemand auf Erden hat seine Worte gehört. Vielleicht die Tote? Ueber allem Zweifel erhaben ist aber, daß Schwester Simplicia, die einzige Zeugin dieses Vorgangs, oft erzählt hat, in dem Augenblick, wo Jean Valjean sich zu Fantinens Ohr niederneigte, habe ein seliges Lächeln die blassen Lippen der Toten


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