WENN DIE EICHEN LEICHEN TRAGEN. Eberhard Weidner
richtete sich wieder auf, sah Schäringer an und streckte ihm die Zunge heraus.
»Das Opfer wurde also nicht erdrosselt, da wir sonst die Spuren des Strangulationswerkzeugs sehen müssten, das sich durch den stärkeren Druck tiefer in die Haut und das darunter liegende Gewebe eingegraben hätte. Darüber hinaus hätten sie sich um den ganzen Hals ziehen müssen, während sie hier im Bereich des Nackens fehlen. Die Hautunterblutungen sind breit und vor allem im Bereich des Kehlkopfes besonders deutlich ausgeprägt, was eher für ein Erwürgen mit bloßen Händen spricht. Diese halbmondförmigen Eindrücke an der Kehle sind tatsächlich Spuren von Daumennägeln. Der Täter muss mit beiden Daumen einen sehr starken Druck auf den Kehlkopf ausgeübt haben, wodurch diese deutlichen Male entstanden. Zweifellos wurden dabei auch der Larynx …?« Er hob den Blick und sah die beiden Kriminalisten fragend an.
Schäringer und Baum zuckten synchron mit den Schultern.
»… der Kehlkopf und das Os hyodeum …?« Es folgte ein zweiter fragender Blick, der allerdings ebenfalls zu keinem Ergebnis führte. Dr. Mangold seufzte, ehe er fortfuhr: »… das Zungenbein gebrochen. Aber zu den inneren Verletzungen kann ich Ihnen erst dann Genaueres sagen, nachdem ich den Burschen in meinem Sezierraum liegen hatte und von innen ansehen konnte. Noch Fragen?« Er richtete sich auf und sah Schäringer und Baum der Reihe nach fragend und mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Sie sagten, der Täter müsse mit den Daumen starken Druck auf den Kehlkopf ausgeübt haben«, begann Schäringer. »Heißt das, dass der Täter sehr kräftig gewesen sein muss?«
Dr. Mangold schürzte die Lippen und warf einen kurzen Blick auf den Leichnam zu seinen Füßen, ehe er wieder Schäringer ansah und sagte: »Aufgrund der doch sehr deutlichen Ausprägung und Breite der Würgemale bin ich tatsächlich der Ansicht, dass der Täter große Hände haben und eher kräftig sein muss. Der junge Mann, der eher schmächtig war, hatte daher vermutlich keine Chance. Möglicherweise finden wir unter seinen Fingernägeln Haut oder Blut des Täters, weil er versucht haben könnte, die Hände von seinem Hals zu lösen, und sich dabei hineingekrallt hat.«
»Dann ist der Täter also eher ein Mann«, sagte Baum.
»Oder eine kräftige Frau«, sagte der Pathologe. »Wir wollen hier schließlich niemanden diskriminieren, oder?«
»Was ist mit der Platzwunde am Kopf?«, fragte Schäringer und deutete auf die rechte Kopfseite der Leiche, wo das Haar teilweise mit getrocknetem Blut verklebt war. »Auch wenn sie für den Tod des Jungen nicht ursächlich war, kann sie für unsere Ermittlungen dennoch eine wichtige Rolle spielen. Können Sie uns denn schon sagen, ob sie ihm vor oder nach seinem Tod zugefügt wurde, Dr. Mangold?«
»Die Verletzung wurde ihm eindeutig prämortal zugefügt, meiner Meinung nach nicht lange vor seinem Tod. Es sieht ganz danach aus, als wäre er mit einem stumpfen, großflächigen Gegenstand geschlagen worden.«
»Großflächig?«, wiederholte Baum. »Meinen Sie so etwas wie eine Bratpfanne?«
»Zum Beispiel. Allerdings befinden sich Erdanhaftungen an der Wunde, im Haar über der Verletzung und im getrockneten Blut.«
»Vielleicht wurde er nach dem Schlag sofort bewusstlos, stürzte zu Boden und landete mit der verletzten Kopfseite auf der Erde«, schlug Baum vor und demonstrierte seinen Vorschlag gestenreich, indem er den Kopf zur Seite legte und sich mit der flachen Hand, die vermutlich den Boden symbolisieren sollte, leicht gegen den Kopf schlug.
»Oder er bekam einen Schlag mit einem Gegenstand, an dem bereits Erde haftete«, sagte Dr. Mangold ohne jegliche Gestik.
»Eine Schaufel beispielsweise«, präzisierte Schäringer und runzelte nachdenklich die Stirn. »Was halten Sie davon, Dr. Mangold?«
Der Rechtsmediziner zuckte mit den Schultern. »Es kann sich durchaus um eine flache Schaufel oder ein Spatenblatt gehandelt haben. Zumindest könnten dadurch die Erdanhaftungen erklärt werden. Aber letztendlich ist es Ihre Aufgabe, herauszufinden, womit dieser junge Mann geschlagen wurde und wer ihn anschließend erwürgt hat. Wenn Sie also keine wirklich wichtigen Fragen mehr an mich haben, dann empfehle ich mich jetzt. Vermutlich wartet in der Rechtsmedizin schon weitere Kundschaft ungeduldig auf mein Erscheinen. Und dieser Leichnam wird mich in ein paar Stunden ebenfalls noch eine Weile beschäftigen. Sie wissen ja, wo Sie mich finden, wenn Sie meine Hilfe und meinen fachlichen Rat benötigen, Schäringer. Leben Sie also wohl, alle miteinander.«
Dr. Mangold zog die Handschuhe aus und nahm seinen Arztkoffer, den er neben der Leiche abgestellt hatte. Er lüftete zum Abschied kurz seinen Borsalino-Hut und zeigte dabei sein Toupet. Dann marschierte er für einen Mann seiner Breite erstaunlich leichtfüßig zu seinem Mercedes und fing bereits wenige Schritte von der Eiche entfernt an, eine Melodie zu pfeifen, die Schäringer an die Arie Der Vogelhändler bin ich ja aus Mozarts Zauberflöte erinnerte.
KAPITEL 2
1
Baum, der den Dienstwagen zurück nach Fürstenfeldbruck gelenkt hatte, hielt vor dem Reihenhaus im Willy-Buchauer-Ring, in dem der 18-jährige Gymnasiast Niklas Kramer bis zum heutigen Tag gelebt hatte. »Das muss es sein!«, sagte er und riss damit Schäringer, der die ganze Fahrt über nachdenklich geschwiegen hatte, aus seinen Überlegungen.
Sie stiegen aus und sahen sich um. Die Straße machte einen verlassenen Eindruck. Es war kurz vor acht, also noch immer früh am Tag, aber die meisten Anwohner, die zur Arbeit oder zur Schule mussten, waren vermutlich schon weg. Schäringer hoffte, dass sie im Haus des toten Schülers trotzdem jemanden antrafen und nicht vollkommen umsonst hierhergekommen waren.
Baum, der um den Wagen herumgegangen war, öffnete das Türchen zum winzigen Vorgarten, ließ aber dann seinem Kollegen den Vortritt. Vermutlich riss er sich nicht gerade darum, als Erster einem Familienmitglied des Opfers gegenüberzutreten und ihm die traurige Mitteilung vom Tod des jungen Mannes und über die Umstände, unter denen er aufgefunden worden war, zu überbringen. Derartig unangenehme Pflichten überließ er lieber seinem älteren Kollegen, der weitaus mehr Erfahrung darin hatte.
Schäringer liebte es ebenfalls nicht, der Überbringer von Schreckensnachrichten zu sein. Seiner Meinung nach gehörte es neben dem ständigen Anblick von Leichen und der Teilnahme an Leichenöffnungen, an die man sich allerdings im Laufe der Zeit gewöhnen konnte, mit zum Schlimmsten, was ein Kriminalbeamter der Mordkommission erledigen musste. Er war allerdings der Ansicht, dass es getan werden musste, und drückte sich daher nicht vor dieser ungeliebten Pflicht. Außerdem konnte man aus der Reaktion derjenigen, denen man die Nachricht vom Tod eines Angehörigen oder engen Freundes überbrachte, manchmal auch wichtige Erkenntnisse über das Verhältnis zum Mordopfer gewinnen. Das konnte vor allem dann enorme Bedeutung haben, wenn der Täter – wie es nach Schäringers Erfahrung leider allzu oft der Fall war – aus dem engeren Familienkreis des Opfers stammte.
Schäringer ging zur Haustür, erkannte aufgrund eines ovalen Messingschildes an der Tür, auf dem Hier wohnen die Kramers stand, dass sie hier tatsächlich an der richtigen Adresse waren, und klingelte. Baum nahm links neben ihm Aufstellung, hielt sich allerdings ein bisschen im Hintergrund. Er legte die Hände vor dem Körper aufeinander und blickte betont ernsthaft aus der Wäsche, als wäre er auf der Beerdigung eines entfernten Verwandten, den er schon ewig nicht mehr gesehen hatte.
Schon nach wenigen Augenblicken hörten sie Schritte, die vom ersten Stock des Hauses herunterkamen. Die Tür öffnete sich. Eine Frau Mitte vierzig mit mittellangem, brünettem Haar stand in der Tür und sah die beiden Kriminalbeamten fragend an. Sie trug hellblaue Jeansleggins, ein grau meliertes Poloshirt und weiße Ballerinas an den Füßen. In der rechten Hand hielt sie eine große Tasse, die fast voll war und deren Inhalt noch immer dampfte.
»Ja?«
»Frau Kramer?«, fragte Schäringer.
»Ja. Was wünschen Sie?«
Schäringer hob die Hand und zeigte ihr seinen Dienstausweis. »Schäringer, Kriminalpolizei. Das ist mein Kollege,