WENN DIE EICHEN LEICHEN TRAGEN. Eberhard Weidner

WENN DIE EICHEN LEICHEN TRAGEN - Eberhard Weidner


Скачать книгу
sie zuerst den Dienstausweis in Schäringers Hand und dann nacheinander die beiden Beamten vor ihrer Tür ansah. Baums Leichenbestattermiene musste ihr einen Hinweis darauf gegeben haben, dass etwas Ernsthaftes geschehen war, denn sie erbleichte und richtete den Blick rasch wieder auf Schäringer. »Ist …?« Sie schluckte, als hätte sie einen riesigen Kloß im Hals. »Ist etwas passiert? Mit … mit einem der Kinder? Oder … oder mit meinem Mann?«

      »Am besten, wir sprechen nicht hier im Vorgarten, sondern im Haus miteinander, Frau Kramer«, sagte Schäringer und trat rasch einen Schritt näher. Er befürchtete ernsthaft, die Frau könnte umkippen, weil sämtliches Blut aus ihrem Kopf geflossen sein musste, so blass, wie sie von einer Sekunde zur anderen geworden war, und wollte sie in diesem Fall noch rechtzeitig auffangen können. »Dürfen wir reinkommen?«

      Sie nickte, hob die zitternde linke Hand und bedeckte damit ihren Mund, als wollte sie einen Schrei zurückhalten. Auch die andere Hand zitterte so stark, dass ein Teil der heißen Flüssigkeit, bei der es sich dem aromatischen Duft nach um Kaffee handeln musste, überschwappte, an der Tasse herunterlief und zu Boden tropfte.

      Schäringer steckte rasch seinen Ausweis ein, nahm ihr die Tasse aus der Hand und ergriff ihren rechten Unterarm. »Hier, nimm du den Kaffee!«, sagte er zu Baum und reichte die Tasse an ihn weiter. Dann schob er sich mit der Frau ins Haus und führte sie durch den kurzen Flur an der Treppe vorbei geradeaus ins Wohnzimmer. Sie widersetzte sich ihm nicht, sondern ließ ihn gewähren, während sie keinen einzigen Ton von sich gab, als hätte der Schock über das Erscheinen der beiden Beamten der Mordkommission sie stumm werden lassen. Dabei hatte sie die schreckliche Nachricht selbst noch gar nicht gehört. Schäringer grauste es vor dem Moment, in dem sie von ihm erfahren würde, dass ihr Sohn tot war. Aber daran führte nun einmal kein Weg vorbei.

      Das Wohnzimmer war ordentlich und aufgeräumt und enthielt die üblichen Einrichtungsgegenstände in Form einer hellbraunen Polstergarnitur, bestehend aus einem 3-Sitzer, einem 2-Sitzer und einem Sessel, die sich um einen niedrigen Couchtisch mit Rauchglasplatte gruppierten, einer Schrankwand aus hellem Holz voller Bücher, Gesellschaftsspiele und Bilderrahmen und einem TV-Sideboard, auf dem ein großer Flachbildfernseher stand. Gleich rechts neben dem Eingang stand ein Esstisch mit vier Stühlen, und an der angrenzenden Wand befand sich über einem Sideboard die Durchreiche zur Küche.

      Schäringer führte Frau Kramer zum erstbesten Stuhl und ließ sie darauf Platz nehmen. Er selbst setzte sich auf den Stuhl, der ihrem auf der anderen Seite des Tisches unmittelbar gegenüberstand. Baum kam als Letzter herein, nachdem er die Haustür zugemacht hatte, und stellte den Kaffeebecher vor die Frau auf den Tisch. Er nahm allerdings nicht Platz, sondern blieb vor der Tür zum Flur stehen und verschränkte die Arme vor der Brust.

      Sie seufzte leise und nahm erst dann die Hand vom Mund. Schäringer konnte sehen, dass ihre Unterlippe und ihr Kinn bebten. Sie sah Schäringer eindringlich in die Augen und fragte: »Sagen Sie mir jetzt endlich, was … was passiert ist?«

      Er nickte. »Ich muss Ihnen leider eine traurige Mitteilung machen, Frau Kramer.«

      Sie schloss die Augen und schien sich innerlich gegen die folgenden Worte zu wappnen.

      »Ihr Sohn, Niklas, wurde heute früh tot aufgefunden.«

      Schäringer hatte es bislang immer für eine literarische Übertreibung gehalten, wenn er in Romanen gelesen hatte, dass jemandem die Gesichtszüge entglitten. Nun wurde er Zeuge, wie genau so etwas vor seinen Augen geschah. Von einer Sekunde zur anderen veränderte sich das Gesicht der Frau, als würde es sich durch chemische Prozesse unter der Haut in Jekyll-and-Hyde-Manier zum Antlitz einer völlig anderen Person umformen. Sämtliche Muskeln verloren ihre Spannkraft und erschlafften gleichzeitig, sodass man für einen Moment befürchten musste, das ganze Gesicht könnte vom Schädel fallen und mit einem feuchten Klatschen auf der Tischplatte landen. Die Augenlider und die Wangen sanken herab, wodurch auch die Mundwinkel nach unten gezogen wurden. Furchen zeigten sich, wo soeben noch glatte Haut gewesen war, und die Frau sah von einem Augenblick zum anderen mindestens acht Jahre älter aus.

      Schäringer sagte nichts, sondern ließ sie die Nachricht erst einmal aufnehmen. Er wollte sie nicht bedrängen, nachdem sie soeben die furchtbarste Mitteilung im Leben einer Mutter erhalten hatte. Vielleicht konnten sie im Anschluss auch gar nicht mehr vernünftig mit ihr reden, aber das wäre aus seiner Sicht verständlich. Dann würden sie sich eben darum kümmern, dass jemand – eine nahe Bekannte oder eine Nachbarin – ins Haus kam, damit die Frau in ihrer Trauer und ihrem Schmerz nicht allein war, und ein anderes Mal wiederkommen.

      Er sah zu Baum, der noch immer mit verschränkten Armen dastand, den Blick unruhig durch den Raum wandern ließ und alles ansah, nur nicht die Herrin des Hauses.

      Als Schäringer seine Augen wieder auf Frau Kramer richtete, sah er, dass sich Tränen unter den noch immer fest verschlossenen Lidern hervorquetschten und über das so abrupt gealterte, erblasste Gesicht der Frau liefen. Ihre Lippen öffneten sich einen winzigen Spalt, und ein leiser Laut kam aus ihrer Kehle. Es war nur ein einzelner hoher, monotoner Ton, der sich wie ein mühsam unterdrücktes Wimmern anhörte. Schäringer bemerkte, dass ihre Hände, die rechts und links neben dem unbeachteten Kaffeebecher auf der Tischplatte lagen, zu Fäusten geballt waren.

      Der Ton verstummte völlig abrupt. Gleichzeitig schien sich die Frau einen inneren Ruck zu geben, denn sie richtete sich auf, atmete einmal tief durch und öffnete dann die Augen, die gerötet waren und in Tränen schwammen.

      »Sie müssen entschuldigen, Herr Kommissar, aber …«

      »Sie müssen sich nicht entschuldigen, Frau Kramer. Wenn Sie jetzt lieber nicht mit uns sprechen möchten, dann hätten wir dafür vollstes Verständnis. Wir können auch Ihren Mann oder eine Nachbarin anrufen, damit Ihnen jemand Gesellschaft leistet.«

      »Nein, bitte nicht. Das ist wirklich …« Sie atmete noch einmal durch und wischte sich dann mit den Fingern der rechten Hand die Tränen vom Gesicht, wodurch ihr Lidstrich verschmiert wurde. »Ich werde meinen Mann später anrufen und über … über alles informieren. Er ist … bei der Arbeit.«

      »Was macht Ihr Mann beruflich, wenn ich fragen darf?« Schäringer holte ein Notizbuch aus der Innentasche seines Jacketts, obwohl er sich selten Notizen machte, sondern alle Informationen eines Falles in seinem Gedächtnis speicherte. Er hatte allerdings das Gefühl, es könnte bei dem Gespräch mit Frau Kramer ganz nützlich sein, wenn sie sah, dass er sich alles gewissenhaft notierte. Und indem er zunächst alltägliche Fragen wie die nach dem Beruf des Mannes stellte, wollte er dafür sorgen, dass sich die Frau nach dem ersten Schock wieder etwas beruhigte und entspannte, sofern das nach einer solchen Nachricht überhaupt möglich war.

      »Er ist Rechnungsprüfer.«

      »Und wie heißen Sie und Ihr Mann mit Vornamen?«

      »Ich heiße Elke, der Vorname meines Mannes ist Thomas. Aber was …« Sie verstummte, als traute sie sich nicht, die schreckliche Wahrheit selbst in Worte zu fassen.

      Schäringer, der sich ihre Angaben notiert hatte, hob den Blick und sah sie an. »Sie wollen vermutlich wissen, was mit Ihrem Sohn Niklas passiert ist.«

      Sie nickte, während ihr neue Tränen aus den Augen und übers Gesicht flossen, blieb aber stumm, als traute sie der eigenen Stimme nicht.

      Schäringer räusperte sich, bevor er antwortete: »Nach unseren bisherigen Erkenntnissen müssen wir leider davon ausgehen, dass Ihr Sohn ermordet wurde.«

      »Er…mordet?«, wiederholte sie, als wäre es ein Wort, das sie noch nie zuvor gehört hatte und erst selbst laut aussprechen musste, um seine Bedeutung zu begreifen. Ihre Augen wurden zuerst ganz groß und schlossen sich dann wieder. Sie hob beide Hände und bedeckte ihr Gesicht damit. Ihre Schultern zuckten, während sie lautlos weinte. Schäringer wartete geduldig.

      Baum hatte weniger Geduld. Er trat unruhig von einem Bein aufs andere. Vielleicht musste er ja aufs Klo, aber das war der denkbar schlechteste Moment, danach zu fragen oder von selbst zu gehen.

      Schäringer konzentrierte sich wieder auf Elke Kramer. Sie schniefte laut und nahm dann die Hände vom Gesicht. Ihr Gesicht sah


Скачать книгу