WENN DIE EICHEN LEICHEN TRAGEN. Eberhard Weidner

WENN DIE EICHEN LEICHEN TRAGEN - Eberhard Weidner


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Adresse eines jungen Mannes. Er heißt Heiko Fischer, dürfte um die 18 sein und geht aufs Graf-Rasso-Gymnasium. Kannst du die Anschrift rauskriegen und mich dann zurückrufen?«

      »Klar. Ich melde mich sofort wieder.«

      »Danke.« Schäringer unterbrach die Verbindung, behielt das Mobiltelefon allerdings in der Hand.

      »Und wer ist dieser ominöse Heiko Fischer?«

      »Der Wortführer einer Clique, die Niklas Kramer in der Schule gemobbt hat.«

      »Gemobbt? Als ich zur Schule ging, gab es das Wort im Deutschen noch nicht mal, obwohl auch damals schon Schulkameraden geärgert und getriezt wurden. Das nannte man nur anders. Bei uns hieß das Du-bist-das-größte-Arschloch-in-der-Klasse-und-wir-ärgern-dich-damit-du-das-bis-morgen-auch-ja-nicht-vergisst

      »Und du hattest nie Mitleid mit den Opfern?«

      »Mitleid?« Baum zuckte mit den Schultern. »Wieso? Außerdem waren das keine Opfer. Das waren Idioten, die sich wie Idioten benahmen und es verdient hatten.«

      »Das kann man so oder so sehen, Lutz. Auf jeden Fall heißt das Ganze heutzutage auf Neudeutsch Mobbing und hat wohl auch Ausmaße angenommen, die es früher nicht gab, weil die heutige Jugend infolge der Reizüberflutung durch das Internet und die Medien und durch gewalttätige Computerspiele und Filme teilweise den Bezug zur Realität verloren hat und langsam aber sicher immer mehr verroht.«

      »Hört, hört!« Baum hielt sich die geschlossene Faust vor den Mund, als spräche er in ein Mikrofon. »Schalten Sie auch nächste Woche wieder ein, wenn Pfarrer Schäringer das Wort zum Sonntag spricht.«

      Schäringer schmunzelte, dann erzählte er Baum, was die jungen Männer unter Heiko Fischers Führung mit Niklas Kramer angestellt hatten.

      »So was haben wir damals natürlich nicht gemacht«, sagte sein Kollege, nachdem Schäringer seinen Bericht beendet hatte. »Bei uns war das noch vergleichsweise harmlos.«

      »Ihr hattet auch noch nicht die technischen Möglichkeiten dazu«, gab Schäringer zu bedenken und meinte Handys, mit denen man Filme drehen konnte.

      »Hast du eine Ahnung. Bei uns gab es auch schon Toiletten mit fließendem Wasser. Wir haben allerdings nie jemanden, nicht einmal den größten Idioten der ganzen Schule, mit dem Kopf hineingesteckt. Aber als du zur Schule gingst, Franz, vor achtzig Jahren oder so, da gab es vermutlich nur ein einziges stinkendes Plumpsklo auf dem Schulhof, oder?«

      Schäringer lächelte nur müde. »Wenn du weiterhin so schlechte Witze machst, Lutz, wirst du nie so alt werden, wie du aussiehst.« Das Handy in seiner Hand spielte die ersten Töne der Titelmelodie der Tatort-Reihe und beendete damit ihre Unterhaltung fürs Erste.

      »Das ging aber flott, Christian«, sagte Schäringer anstelle einer Begrüßung, denn er hatte gesehen, dass der Anruf von Krautmann kam.

      »So sind wir von der Spurensicherung eben: schnell, zuverlässig und verdammt gut aussehend. Ich hab die Adresse des jungen Mannes. Hast du was zu schreiben?«

      »Die kann ich mir schon noch merken. So alt bin ich nämlich auch wieder nicht.« Er warf einen finsteren Blick in Baums Richtung, der nur grinste. »Schieß los!«

      »Der junge Mann ist 19 Jahre alt und wohnt gar nicht weit vom Graf-Rasso-Gymnasium in der Münchner Straße.« Krautmann nannte auch die Nummer. »Brauchst du sonst noch was?«

      »Erste Untersuchungsergebnisse kannst du mir ja eh noch nicht liefern, oder?«

      »Tut mir echt leid, Franz, aber da musst du dich schon noch ein bisschen gedulden.«

      »Hast du wenigstens eine Kopie des Zettels und ein Foto des Armbands für mich gemacht?«

      »Natürlich. Liegt schon alles auf deinem Schreibtisch.«

      »Dann sage ich schon mal Danke. Wir werden jetzt erst einmal ein Wörtchen mit Heiko Fischer reden, aber sobald wir wieder in der Inspektion sind, bringt Baum dir den Laptop und ein Schulheft von Niklas Kramer für den Schriftenvergleich vorbei.«

      »Also noch mehr Arbeit für meine Leute und mich. Dann weiß ich ja wenigstens, worauf ich mich heute noch freuen kann. Servus, Franz.«

      »Servus, Christian.«

      Schäringer steckte sein Handy weg und sagte zu Baum: »Wir müssen in die Münchner Straße. Das ist nicht weit von hier.« Er griff nach dem Gurt und schnallte sich an.

      »Okay«, sagte Baum und gurtete sich ebenfalls an. »Während der Fahrt kannst du dir ja schon mal das Schulheft angucken, das ich aus Niklas’ Zimmer mitgenommen habe.« Er legte Schäringer Heft und Foto des jungen Mannes in den Schoß und startete den Wagen.

      »Ein Tagebuch, aus dem ein Blatt herausgerissen wurde, hast du nicht gefunden?«

      »Nein. Und ich hab wirklich überall gründlich danach gesucht. Ein Handy war übrigens auch nicht da. Er hatte aber auch keins bei sich, als man ihn fand.«

      »Vielleicht besaß er gar keins.«

      »Junge Leute in seinem Alter haben doch heutzutage alle ein Handy. Ohne Smartphone ist man doch schon in der vierten Klasse Grundschule total uncool. Wir sollten seine Eltern fragen, ob er eins hatte und um welches Fabrikat es sich handelt. Möglicherweise hat es jetzt der Mörder.«

      »Und wieso soll ich einen Blick in dieses Heft werfen? Gibt es darin etwas Besonderes zu sehen?«

      »Schau es dir einfach mal an, okay?«

      »Na gut. Also hast du das Heft nicht nur mitgenommen, um es für die Schriftanalyse zu benutzen?«

      »Stimmt. Was hat Frau Kramer eigentlich gesagt, als du sie nach Niklas’ Verhältnis zu Nadine Blume befragt hast?«

      »Sie sagte, dass Niklas das Mädchen vermutlich nur flüchtig kannte. Ob Niklas in Nadine Blume verliebt war, konnte sie nicht bestätigen. Angeblich war er ausgesprochen schüchtern im Umgang mit Mädchen.«

      Schäringer sah sich kurz das Foto an, das sie mitgenommen hatten. Zum ersten Mal sah er Niklas Kramer so, wie er zu Lebzeiten ausgesehen hatte, ohne all die grauenvollen Merkmale des Erstickungstodes. Es handelte sich um die professionelle Arbeit eines Fotografen, die vermutlich angefertigt worden war, um sie den Eltern oder Großeltern zu Weihnachten oder zum Geburtstag zu schenken, und zeigte einen halbwegs gut aussehenden, jungen Mann, der etwas unsicher und zaghaft in die Kamera lächelte.

      Schäringer schob das Foto unter das Heft und öffnete es dann auf der ersten von Niklas Kramer beschriebenen Seite. Er überflog sie und suchte nach Auffälligkeiten, ohne die Bedeutung der Worte zur Kenntnis zu nehmen. Es schien sich ausschließlich um Themen des Deutschunterrichts zu handeln. Schäringer blätterte weiter, fand jedoch auch auf den nächsten 10 Seiten nichts Ungewöhnliches. Er dachte schon, Baum wollte ihn nur auf den Arm nehmen, und war kurz davor, den Kollegen zu fragen, was dieser Blödsinn zu bedeuten habe, als er auf der nächsten Seite zum ersten Mal auf ein gezeichnetes Herz am Seitenrand stieß, in dem die Initialen »N.B. & N.K.« zu lesen waren.

      »Aha, das meintest du also.«

      »Ja. Und da kommt noch mehr.«

      Schäringer sah sich das Datum des Hefteintrags an, das am Rand vermerkt war, und stellte fest, dass Nadine Blume nur eine Woche später verschwunden war. Er blätterte weiter und stieß auf der nächsten Doppelseite sogar auf vier Herzen einschließlich Initialen. Manches Herz wurde von einem Pfeil durchbohrt, und aus den Löchern tropfte rot angemaltes Blut. Außerdem war ein halbes Dutzend Mal der Satz »Blümchen, ich liebe dich!« zu lesen. In dieser Art ging es weiter bis zum Eintrag des Tages, an dem Nadine Blume auf dem Nachhauseweg vom Nachmittagsunterricht spurlos verschwunden war. Dort fand er allerdings kein Herz, sondern nur die Initialen »N.B.«. Darunter stand: »Heute oder nie!« Schäringer blätterte weiter und sah sich die Einträge an, die danach kamen – der letzte stammte von vorgestern –, fand jedoch weder ein Herz noch eine weitere Liebesbekundung.

      »Am Tag nach ihrem Verschwinden hört er ganz plötzlich auf, Herzchen


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