WENN DIE EICHEN LEICHEN TRAGEN. Eberhard Weidner

WENN DIE EICHEN LEICHEN TRAGEN - Eberhard Weidner


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Fall als Suizid oder als Fremdtötung zu qualifizieren. Nach einer ersten, zugegebenermaßen nur oberflächlichen Untersuchung tendiere ich allerdings eindeutig zur zweiten Alternative.«

      »Und worauf stützen Sie Ihren Verdacht nun genau, Dr. Mangold?«, fragte Baum.

      »Wie gut ist eigentlich Ihr Latein, Baum?« Der Rechtsmediziner sprach durchweg alle Leute ausschließlich mit dem Nachnamen an.

      Baum schüttelte den Kopf und runzelte gleichzeitig die Stirn, da er sich nicht sicher war, was die Frage in diesem Zusammenhang zu bedeuten hatte. »Ich kann überhaupt kein Latein. Ich habe mich damals stattdessen für Französisch entschieden. Wieso fragen Sie?«

      Schäringer, der aufgrund zahlreicher Begegnungen mit dem Pathologen in den letzten Jahren wusste, dass dieser gern medizinische Fachausdrücke aus dem Lateinischen in seine oft an Vorträge erinnernden Erklärungen einfließen ließ, verfolgte den Wortwechsel amüsiert und unterdrückte ein Schmunzeln.

      Dr. Mangold sah Baum mit tadelndem Gesichtsausdruck an und schüttelte den Kopf. »Dann kann ich Ihnen vermutlich auch nicht mehr helfen. Aber passen Sie trotzdem gut auf, dann lernen Sie heute vielleicht doch noch etwas Vernünftiges. Besser spät als nie, nicht wahr, Schäringer.«

      »Sie sagen es, Dr. Mangold«, stimmte Schäringer ihm zu, womit er sich einen finsteren Blick seines jüngeren Kollegen einhandelte, der die Zustimmung vermutlich als Verrat betrachtete. Schäringer wollte damit aber nur erreichen, dass der Gerichtsmediziner endlich zur Sache kam. Schließlich hatten sie, wenn es sich in diesem Fall nicht um Selbstmord, sondern um Mord oder Totschlag handelte, heute noch eine Menge anderer Dinge zu erledigen. »Aber um zum Thema zurückzukommen. Womit können Sie Ihren Verdacht begründen, dass der Selbstmord hier nur inszeniert wurde und es in Wahrheit ein Fall von Fremdtötung ist?«

      Dr. Mangold nickte. »Na gut, fangen wir eben erst einmal bei den Grundlagen an. Dieser junge Mann starb meiner Meinung nach ganz eindeutig durch Suffokation. Vermutlich wissen Sie nicht, was das bedeutet, da Sie bedauerlicherweise keinen Lateinunterricht hatten, Baum.«

      Baum zuckte mit den Schultern.

      »Tod durch Erstickung«, antwortete Schäringer an Baums Stelle, da er den Begriff noch von ihrem Giftschlangen-Fall kannte. Damals war ein Dieb nach dem Biss einer Terciopelo-Lanzenotter, der giftigsten Schlange des mittelamerikanischen Festlands, erstickt, weil sein Gesicht einschließlich Mundhöhle und Gaumen anschließend so stark angeschwollen war, dass er keine Luft mehr bekam.

      »Korrekt! Der Tote ist aufgrund einer Strangulation erstickt. Eindeutige Merkmale hierfür sind die deutlich sichtbare Zyanose, das ist die Blaufärbung von Gesicht, Zunge und Schleimhäuten aufgrund des Blutstaus, die Aufdunsung und die petechialen Blutungen. Petechien wiederum sind kleine, punktförmige Erstickungsblutungen auf den Augäpfeln, den Augenlidern und der Mundschleimhaut. Und welche drei Formen der Strangulation kennen Sie, Baum?«

      Baum riss überrascht die Augen auf. Zweifellos kam er sich vor wie in der Schule. Schäringer konnte ihm nachfühlen, war aber froh, dass ausnahmsweise nicht er Zielscheibe der Belehrungsversuche des Pathologen war. Wahrscheinlich, so dachte er, wäre es auch in Zukunft eine tolle Sache, Baum jedes Mal mit in die Gerichtsmedizin zu nehmen.

      »Ähm, also …«, stotterte Baum, während er fieberhaft überlegte. Dann schien ihm eine Erleuchtung zu kommen, denn er deutete auf den Strick um den Hals des Toten und sagte in fragendem Ton: »Erhängen …?«

      »Korrekt. Das ist eine Möglichkeit. Fehlen noch zwei. Wissen Sie’s, Schäringer?«

      »Erdrosseln und erwürgen.«

      Als Schäringer zu Baum sah, formte dieser mit dem Mund das Wort Streber. Schäringer zuckte mit den Schultern.

      »Korrekt. Nehmen Sie sich besser ein Beispiel an Ihrem älteren Kollegen, Baum. Schäringer hat in den letzten Jahren schon eine Menge von mir gelernt. Aber zurück zu unseren Strangulationsmöglichkeiten. Zweifellos dürfte Ihnen klar sein, meine Herren, dass von diesen drei Strangulationsformen im Grunde nur das Erhängen und das Erdrosseln selbsttätig in Form eines Suizids möglich sind. Niemand kann sich hingegen selbst erwürgen, da die Muskelerschlaffung, die nach einiger Zeit unwillkürlich eintritt, auch den Druck der Hände auf den Hals aufheben würde. Erhängen bedeutet, dass der Hals durch ein Strangulationswerkzeug und das Eigengewicht des hängenden Körpers eingeschnürt wird. Beim Erdrosseln wird hingegen das Strangulationswerkzeug durch Muskelkraft zugezogen. So weit alles verstanden, Baum?«

      Der Kriminalkommissar nickte. »Ich kann Ihnen folgen, Herr Doktor.«

      »Gut. Kommen wir zum konkreten Fall. Zweifellos hat Ihnen Krautmann von der Spurensicherung erzählt, dass kein Gegenstand gefunden wurde, auf den sich das Opfer hätte stellen können, um seinen Kopf in die Schlinge zu legen. Wir sprechen dabei gewissermaßen vom klassischen Fall des Suizids durch Erhängen. Jemand bindet den Strick an ein Wasserrohr unter der Decke oder die Vorhangstange, stellt sich auf einen Stuhl oder Hocker und – zack! – versetzt dem Möbel einen Tritt, der es umkippen lässt. Der Selbstmörder hat keinen Boden mehr unter den Füßen und hängt am Seil, das sich durch das Gewicht sofort zuzieht und den Hals fest einschnürt. In der Regel werden daraufhin die Blutversorgung des Kopfes und des Gehirns und der Blutrückfluss augenblicklich gestoppt. Das Abschneiden der zerebralen Blutzufuhr und die dadurch herbeigeführte Blutleere des Gehirns führen zunächst zur Bewusstlosigkeit und anschließend zum Tod. Die Opfer sterben also in der Regel nicht durch Suffokation, also aufgrund des Sauerstoffentzugs, sondern durch die Unterbrechung der Blutzirkulation. Gelegentlich kann ein Abklemmen der Halsschlagadern auch zu einer akuten Zerrung des Nervus vagus und damit wegen des Carobis-Sinus-Reflexes zu einem plötzlichen Herzstillstand führen. Das kann dann sogar zum Tod führen, falls der Strick reißen sollte. Da in diesem Fall zudem kein Gegenstand gefunden wurde, auf den der junge Mann sich hätte stellen können, hätte er sich, nachdem er auf den Ast geklettert war, um den Strick zuerst um den Ast zu binden und anschließend um den eigenen Hals zu legen, von dort herunterfallen lassen müssen. Ein derartiger Sturz aus etwa zweieinhalb Metern in die Schlinge hätte jedoch mit ziemlicher Sicherheit zum sofortigen Tod aufgrund eines Genickbruchs geführt. Was hier aber nicht der Fall war.«

      »Dann können wir definitiv ausschließen, dass der Junge sich erhängt und damit selbst getötet hat«, fasste Schäringer die Erklärungen des Pathologen zusammen.

      »Also kommen nur Erdrosseln oder Erwürgen infrage«, sagte Baum. Möglicherweise wollte er damit beweisen, dass er aufgepasst hatte, und sich einen imaginären Fleißpunkt beim Rechtsmediziner verdienen.

      »Korrekt!«, sagte Dr. Mangold mit zufriedener Miene und deutete mit dem Zeigefinger anerkennend auf Baum. »Um nun herauszufinden, welche dieser beiden Methoden bei Ihrem jugendlichen Opfer zur Anwendung kam, müssen wir uns die Male und Verletzungen im Bereich seines Halses einmal genauer betrachten.« Er ging neben dem Leichnam in die Knie und deutete mit dem Zeigefinger der rechten Hand, die in einem Einmalhandschuh steckte, auf den Bereich, von dem er sprach. »Und, meine Herren? Fällt Ihnen dabei etwas auf?«

      »Der Strick hat tief ins Fleisch geschnitten«, sagte Baum.

      »Vergessen Sie den Strick, Baum!«, sagte der Pathologe, ohne den Kopf zu heben und ihn anzusehen. »Das geschah erst postmortal und hatte mit dem Tod des Opfers nicht das Geringste zu tun.«

      »Meinen Sie dann den Bluterguss, der sich wie ein breiter Ring um nahezu den ganzen Hals zieht, und die kleinen Einbuchtungen im Bereich der Kehle?«, fragte Schäringer.

      Baum schoss einen zornigen Blick auf Schäringer ab, der, wäre er in Worte gefasst worden, zweifellos mit Elender Schleimscheißer hätte übersetzt werden müssen.

      »Ganz genau, Schäringer«, sagte Dr. Mangold. »Und fällt Ihnen bei diesen eindeutigen Würgemalen noch etwas auf, Baum?«

      Baum seufzte leise, beugte sich aber dennoch gehorsam ein Stück nach vorn, um besser sehen zu können, bevor er antwortete: »Der Bluterguss ist sehr breit und verläuft im Gegensatz zur Einschnürung des Stricks eher waagerecht. Und diese halbmondförmigen Eindrücke im Kehlkopfbereich


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