Tödliche Rendite. Irene Dorfner

Tödliche Rendite - Irene Dorfner


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sie nach vorn. Ihr letzter Gedanke galt ihrem Sohn Bernd.

      2.

      Bernd Nagel ahnte nicht, was sich gerade in seinem Elternhaus abspielte. Er war wütend aus dem Haus gegangen, er brauchte dringend frische Luft. Seine Freundin Eva rief ihm hinterher, aber er achtete nicht darauf. So wütend wollte er nicht mit ihr sprechen. Was war nur los mit seiner Mutter? Wie oft er sich in den letzten Monaten über sie geärgert hatte, konnte er nicht mehr zählen. Sie hatte sich von dem einen auf den anderen Tag völlig verändert, nachdem sie sich nach dem Tod des Vaters völlig zurückgezogen hatte. Ja, er hätte sich mehr um sie kümmern müssen, aber dafür hatte er keine Zeit gehabt. Die Firma nahm ihn völlig in Beschlag. Er arbeitete fast rund um die Uhr, schließlich war er nicht nur für sich selbst, sondern für viele Mitarbeiter verantwortlich. Außerdem trat kurz nach dem Tod seines Vaters seine jetzige Partnerin Eva in sein Leben – die Liebe seines Lebens und die Mutter seines Kindes. War es nicht verständlich, dass er die wenige freie Zeit mit ihr verbringen wollte? Für eine Hochzeit war bisher noch keine Zeit gewesen, die planten die beiden, zur Überraschung der Gäste, mit der Taufe zusammenzulegen. Wie kleine Kinder hatten sie sich die Gesichter aller vorgestellt, wenn sie begreifen würden, dass es neben der Taufe auch noch eine Trauung gäbe. Vor allem für Bernd wäre es sehr schön gewesen, die Feier im engsten Familien- und Freundeskreis in seinem Elternhaus abhalten zu können, da er sich dort nicht nur sehr wohl fühlte, sondern sich auch seinem verstorbenen Vater nahe gefühlt hätte. Aber dies erlaubte seine Mutter nicht und erfand irgendwelche Ausreden, die jeder Logik entbehrten. Was sollte die Abfuhr, die auch die Teilnahme an der Taufe betraf? Bernd verstand die Welt nicht mehr. Seine Mutter hatte sich sehr verändert. Seit Monaten hatte sie kaum noch Zeit für ihn, ständig war sie unterwegs. Früher hatten sie eine sehr enge Bindung gehabt, was schon lange nicht mehr der Fall war. Sie hatten sich entfremdet, woran auch er eine Mitschuld trug. Jede freie Sekunde hatte er lieber mit seiner Eva, als mit seiner Mutter verbracht. Damals schien ihm das verständlich, jetzt machte er sich Vorwürfe. Aber seine Mutter schien damit kein Problem gehabt zu haben. Die wenigen Male, wo sie sich sahen, machte sie keinen unglücklichen Eindruck, denn sie schien geradezu aufzublühen und glücklich zu sein. Bernd Nagel hatte schon lange das Gefühl, dass ein neuer Partner an der Seite seiner Mutter der Grund dafür sein könnte, was ihm auch von anderen Seiten zugetragen wurde. Aber er wollte das nicht hören. Für ihn war die Vorstellung, dass es einen neuen Mann in ihrem Leben gab, einfach nicht möglich.

      Bernd warf wütend Steine in den Inn. Dass er dabei beobachtet wurde, war ihm gleichgültig. Es war ihm schon immer egal gewesen, was andere über ihn dachten. Ihm machte das für ihn rätselhafte Verhalten seiner Mutter zu schaffen. Warum hatte sie sich vorhin am Telefon eine solch fadenscheinige Ausrede ausgedacht, um nicht an der Taufe teilnehmen zu können? Lag es an Eva? Mochte seine Mutter sie nicht? Die beiden waren sich nur wenige Male begegnet und da schien alles in Ordnung zu sein. Gut, die letzten beiden Treffen waren sehr kurz gewesen, da seine Mutter keine Zeit hatte. Das eine Mal im Oktober letzten Jahres hatte er seine Mutter zum Essen eingeladen, das andere Mal war sie im November im Krankenhaus erschienen, um ihren Enkel zu sehen. Alles war prima gelaufen. Seine Mutter hatte sich so verhalten, wie er es von ihr gewohnt war. Sie war warmherzig und strahlte, als sie den Enkel im Arm hielt. Was war geschehen, dass sie sich so zurückzog und eine Entschuldigung vorschob, die er geradezu lächerlich fand. Wenn sie wirklich so schlecht zu Fuß war, war das Problem mit einem Rollstuhl doch ganz einfach zu beseitigen. Aber das wollte seine Mutter nicht. Warum? Gab es am Ende doch einen neuen Partner, der sie so sehr beeinflusste, dass sie sich von ihm und seiner kleinen Familie zurückzog? Hatte er nicht vor Wochen einen Film ansehen müssen, in dem genau das geschehen war?

      Bernd beruhigte sich langsam wieder. Die frische Luft, die Bewegung und die Ruhe taten ihm gut. Seine Gedanken wurden klarer und er fasste einen Entschluss: Er musste nochmals mit seiner Mutter sprechen, und zwar von Angesicht zu Angesicht. Es war endlich an der Zeit, dass sie wieder offen und ehrlich miteinander sprachen, so wie sie es früher immer gemacht hatten. Er musste endlich wissen, wie es um seine Mutter tatsächlich stand. Außerdem wollte er sie zur Teilnahme überreden, denn ohne sie wollte er auf keinen Fall seinen Sohn taufen lassen, geschweige denn heiraten.

      Bernd stand vor seinem Elternhaus. Wie lange war es her, dass er hier gewesen war? Das war sicher schon fast ein Jahr oder sogar länger. Sein schlechtes Gewissen meldete sich, denn als einziges Kind wäre es seine Pflicht gewesen, sich mehr um die Mutter zu kümmern. Dafür gab es keine Ausrede, er hätte für sie da sein müssen.

      Der Wagen seiner Mutter stand nicht im Hof, was seltsam war. Ob sie mit ihrem schmerzenden Knie Auto fahren konnte? Vielleicht war die alte Karre, an der seine Mutter so hing, einfach nur in der Werkstatt. Er klingelte, aber nichts geschah. Wieder und wieder drückte er auf die Klingel. Seltsam. Diese machte eigentlich einen ohrenbetäubenden Lärm und erinnerte an das Läuten des Big Bens. Er zog seinen Schlüssel hervor und steckte ihn ins Schloss. Alles war ruhig. Der Lichtschalter in der Diele funktionierte nicht, was ihn noch nicht weiter beunruhigte. Er rief nach seiner Mutter, bekam aber keine Antwort. An der Anrichte im Wohnzimmer war eine Schublade nicht ganz geschlossen. Instinktiv öffnete er sie und erschrak, als er den Berg Briefumschläge darin fand, von denen die meisten nicht einmal geöffnet waren. Besonders die Briefe eines Gerichtsvollziehers schockierten ihn. Seine Mutter war finanziell versorgt, darüber hatte er sich nie Gedanken machen müssen.

      Er rief nochmals laut nach ihr, aber alles blieb ruhig. Es war offensichtlich, dass sie nicht hier war. Auch wenn ihn seine Mutter dafür rügen sollte, zog er den Brief des Gerichtsvollziehers aus dem Umschlag. Mit zitternden Händen las er wieder und wieder die Ankündigung der Pfändung am kommenden Montag. Was sollte das? Seine Mutter stand kurz vor der Pfändung? Nein, das konnte nicht stimmen! Rasch öffnete er jetzt alle Umschläge, die fast nur Rechnungen und Mahnung enthielten. Ein Schreiben der Bank ließ ihn die Knie weich werden: Die Hypothek war nicht bedient worden und man drohte mit der Zwangsversteigerung. Welche Hypothek? Das Haus war seit ewigen Zeiten abbezahlt und unbelastet, darauf hatte sein Vater immer sehr viel Wert gelegt. Was sollte das alles? Er nahm sein Handy und rief sofort den Sachbearbeiter der Bank an, den er persönlich kannte.

      „Ich darf Ihnen dazu nichts sagen. Ich bin an das Bankgeheimnis gebunden.“ Kronberger begann zu schwitzen, ihm war das Telefonat sehr unangenehm. Schon seit Monaten rechnete er damit, dass sich Frau Nagels Sohn bei ihm meldete und sich um die Angelegenheit kümmern würde. Allerdings ging er davon aus, dass die beiden gemeinsam hier erschienen und somit das Bankgeheimnis, an das er gebunden war, kein Thema gewesen wäre. Aber jetzt meldete sich der Sohn und sprach ihn auf die Angelegenheit an. Wie sollte er sich ihm gegenüber benehmen? Auf der einen Seite gab es ein Bankgeheimnis, an das er sich zu halten hatte. Auf der anderen Seite war es klar, dass Frau Nagel dringend finanzielle Hilfe brauchte, da sie von alleine niemals aus den Schulden herauskommen würde.

      „Stimmt es, dass meine Mutter eine Hypothek aufs Haus aufgenommen hat? Ja oder Nein?“

      Kronberger zögerte. Mit dem Hörer in der Hand stand er auf und schloss die Tür seines Büros. Niemand sollte das Gespräch mitbekommen.

      „Wenn ja, dann werde ich die Schuld begleichen“, setzte Bernd nach.

      „Das höre ich gerne. Ich hätte die vorschriftsmäßige Prozedur in diesem Fall nur sehr ungern in die Wege geleitet.“ Kronberger fiel ein Stein vom Herzen. Endlich kam Leben in die Angelegenheit, die ihm sehr viele Bauschmerzen bereitete. Die Nagels waren seit vielen Jahren treue Kunden der Bank. Was hier ablief, ging auch an ihm nicht spurlos vorbei.

      „Dass mich das enttäuscht, brauche ich Ihnen nicht sagen. Wie lange sind wir bereits Kunden bei Ihrer Bank? Und trotzdem hätten Sie nach so vielen Jahren die Zwangsversteigerung des Hauses veranlasst? Meine Mutter verfügt über eine große Summe auf ihrem Festgeldkonto, das wissen Sie doch am besten. Warum hat sie darauf nicht zurückgegriffen?“

      „Das Konto, von dem Sie sprechen, ist leer.“

      „Wie bitte? Es ist leer?“

      „Ja. Auch der Rahmen des Girokontos ist ausgeschöpft.“

      „Es ist nichts mehr da?“

      „Nein.“


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