Tödliche Rendite. Irene Dorfner

Tödliche Rendite - Irene Dorfner


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würde. Musste er es hinnehmen, dass dieser unbekannte Mann, der seine Mutter so schamlos ausgenutzt und in den Tod getrieben hatte, ungeschoren davonkam? Die Polizei machte ihm klar, dass es in diese Richtung keine Ermittlungen geben würde, da es keinen Beweis für seine Annahme gab. Bernd Nagel musste das akzeptieren und irgendwie verstand er die Polizei sogar. Es gab keinen einzigen Hinweis auf die Identität des Mannes. Lediglich dessen Namen hatte er: Herbert Braunbach, der als Teilnehmer in den Reiseunterlagen stand, die Bernd gefunden hatte. Es gab nur diesen Namen; keinen Wohnsitz, kein Foto, einfach nichts. Ob der Name überhaupt stimmte?

      Bernd besah sich das wenige in dem Beutel, das seiner Mutter gehört hatte. Ein besticktes Taschentuch, ein Kassenzettel über einen Liter Milch und Bananen, alles im Wert von knapp zwei Euro, und eine silberfarbene Kette mit einem Amulett. Bernd kannte dieses Schmuckstück nicht. Ob dieser Typ es ihr geschenkt hatte? Er legte alles beiseite und weinte. Nicht nur aus Trauer, sondern auch aus Enttäuschung darüber, dass seine Mutter ihm nicht eine einzige Zeile, nicht ein einziges Wort hinterlassen hatte.

      „Was ist das?“, fragte Eva, die den Sohn gerade zu Bett gebracht hatte.

      „Die Polizei hat mir mitgeteilt, dass die Ermittlungen eingestellt wurden. Das hier gehörte meiner Mutter.“

      „Ein Amulett“, sagte Eva und nahm es in die Hand. „Dann ist ja doch noch ein Stück des Familienschmuckes übriggeblieben. Wie alt mag das sein?“ Sie drehte die Kette im Licht. „Die sieht ziemlich neu aus. Das ist ein Teil des Familienschmucks?“

      „Nein, das kenne ich nicht. Dieser Schmarotzer muss es meiner Mutter geschenkt haben.“

      Eva holte ihre Brille und besah sich die Kette nun genauer.

      „Die Kette ist echtes Silber, das Amulett ist Edelstahl. Online kriegst du beides für zwanzig oder dreißig Euro. Wenn das ein Geschenk war, dann war es sehr billig.“

      Bernd sah sprachlos zu, wie seine Eva das Amulett öffnete. Er hatte keine Ahnung, dass das möglich war. Eva sah sich das Foto an, das darin zum Vorschein kam.

      „Das muss er sein, Bernd. Das ist der Mann, den du suchen musst.“

      „Du meinst…?“ Bernd starrte auf das Bild eines Mannes, dessen fröhliches Gesicht ihn anstrahlte.

      „Du hast nach einem Hinweis auf diesen Mann gesucht, der offensichtlich darum bemüht war, alle Spuren zu beseitigen, die auf ihn hinweisen. Jetzt hast du ein Bild von ihm, sogar ein sehr gutes. Such ihn, sonst findest du keine Ruhe.“

      „Soll ich das wirklich tun?

      „Auf jeden Fall! Such diesen Mann und bring ihn vor Gericht. Das bist du nicht nur dir, sondern vor allem deiner Mutter schuldig.“

      Bernd küsste seine Eva. Er wusste, warum er sie liebte. Sie war nicht nur warmherzig und klug, sondern auch sehr verständnisvoll. Ja, er musste diesen Mann zur Strecke bringen. Nicht nur um seinetwillen, sondern auch um seine Mutter zu rächen. Aber wie sollte er diesen Mann suchen? Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er das anstellen sollte. Er selbst hatte keine Chance, er brauchte professionelle Hilfe. Ein Geschäftspartner gab ihn den entscheidenden Tipp, wer ihm helfen könnte: Die Münchner Detektivin Anita Seidl.

      Die achtundvierzigjährige Anita Seidl nahm den Job gerne an. Als sie hörte, um was es dabei ging, wurde sie wütend. Sie hasste solche Männer wie Braunbach und würde es sehr gerne sehen, wenn sie ihren Teil dazu beitragen konnte, ihm das Handwerk zu legen. Sie bat ihren neuen Klienten um umfangreiche Informationen, die Bernd Nagel gerne zusammenstellte. Als der Mandant ihr zwei randvoll gepackte Kartons überbringen ließ, hatte sie sich sofort daran gemacht und alles sortiert. Rasch hatte sie ein System entwickelt, das ihr einige Anhaltspunkte gab. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt, der etwa dreizehn Monate zurücklag, war bei Martha Nagel aus finanzieller Hinsicht alles in bester Ordnung. Dann wurden mehrfach hintereinander größere Summen vom Konto abgehoben. Auch Reisen und Restaurantrechnungen wurden über das Konto bezahlt. Das waren Spuren, die nicht uninteressant waren. Aber wichtiger schienen für sie die wertvollen Schmuckstücke, die zum Glück alle für die Versicherung fotografiert wurden.

      Sie hatte verschiedene Stellen kontaktiert – und jetzt hieß es abwarten.

      3.

       Wenige Tage später…

      Anita Seidl hatte ein herrliches, verlängertes Wochenende mit Kriminalhauptkommissar Hans Hiebler in Mühldorf am Inn verbracht. Der Frühling schien noch lange auf sich zu warten. Es war nicht nur erneut eiskalt geworden, sondern auch heute, am kalendarischen Frühlingsanfang, hatte es wieder heftig geschneit. Deshalb zogen Hans und sie es vor, die Tage bei ihm zuhause zu verbringen. Wenn sie an den prasselnden Kamin dachte, wurde ihr jetzt noch ganz warm. Sie hatte Hans in Mühldorf am Inn kennengelernt, als sie bei einem kniffligen Fall gezwungen war, mit der Polizei zusammenzuarbeiten. Sie war es zwar gewohnt, stets allein zu arbeiten, aber bei diesem Job ging es nicht anders. Hans und sie waren seitdem unzertrennlich, aber noch behielten die beiden das für sich, worauf besonders sie großen Wert legte. Hans war ein phantastischer Mann, der ganz nach ihrem Geschmack war. Trotzdem war sie ein gebranntes Kind, weshalb sie vorsichtig mit Männerbeziehungen umging. Hans und sie sahen sich in den letzten Wochen sehr oft. Nachdem sie es vorzog, lieber zu ihm zu fahren, fand sie es an der Zeit, ihn zu sich einzuladen.

      Der sechsundfünfzigjährige Hans Hiebler war sehr glücklich, als Anita ihm anscheinend beiläufig vorschlug, das nächste Wochenende bei ihr in München zu verbringen. Das war ein Vertrauensbeweis, den er sehr schätzte, denn Anita hatte durchblicken lassen, dass ihre Wohnung ihr Heiligtum war. Normalerweise hielt es Hans nie lange bei einer Frau, aber diesmal war es anders. Anita war nicht nur eine sehr hübsche und intelligente Frau, sondern auch humorvoll, belesen und nicht auf den Mund gefallen. Es gab kaum eine Minute, in der es langweilig war. Außerdem stand Anita auf eigenen Beinen, auch wenn er sich wegen ihres Jobs sehr um sie sorgte. Hans wusste sehr gut, wie schlecht Menschen sein konnten. Seine Freundin war denen nicht nur ausgeliefert, sondern stellte sich ihnen entgegen. Aber das würde er ihr niemals sagen, dafür hätte sie kein Verständnis.

      Das Wochenende war wieder viel zu schnell vorbei. Hans gewöhnte sich an Anita und genoss jede Sekunde mit ihr, was ihm langsam Angst machte. Ob er nach dem schrecklichen Mord an seiner Doris, der nunmehr drei Jahre zurücklag, endlich wieder jemanden gefunden hätte, mit dem er sich eine gemeinsame Zukunft vorstellen konnte? Noch glaubte er nicht daran, obwohl ihm die Vorstellung durchaus gefiel.

      Anita hatte sich nach der Fahrt nach München sofort auf den Weg ins Autohaus Stürz gemacht. Das war seit Jahren „ihr“ Autohaus und dort wartete der neue Wagen auf sie. Sie hatte lange mit sich gehadert, ob sie sich solch eine Luxuskarosse leisten sollte. Aber warum nicht? Glänzend stand der Wagen im Ausstellungsraum und wartete auf sie. Was Hans wohl dazu sagen würde, wenn er ihn am kommenden Wochenende zu sehen bekam?

      Am liebsten würde sie eine ausgedehnte Spritztour machen, aber die musste warten, denn es gab sehr viel zu tun. Sie fuhr die wenigen Kilometer zurück ins Büro und setzte sich an den Schreibtisch. Die Informationen, die sie am Freitag angeleiert hatte, lagen jetzt vor und sie konnte sich endlich daran machen, den Unbekannten zu suchen, den ihr Klient Bernd Nagel in die Finger kriegen wollte. Sie konnte den Mann verstehen, schließlich war dessen Mutter nicht nur einem Hochstapler aufgesessen, sondern sie hatte sich aus Scham darüber das Leben genommen. Wie sie wohl an Stelle des Klienten reagieren würde? Sie würde ebenfalls nach dem Mann suchen und ihn ganz langsam leiden lassen. In ihrer Phantasie stellte sie sich vor, wie sie ihn für jeden einzelnen Cent quälen würde.

      Anita Seidl sortierte die Unterlagen. Dann druckte sie die Informationen und Bilder aus, die ihr per Mail zugesandt wurden. Stolz pinnte sie eine Information nach der anderen an die Wand, die voller und voller wurde. Es war ihr gelungen, mehrere Fotos von dem Mann zu bekommen. Einige Überwachungskameras hatten ihn aufgenommen, die Bilder waren allerdings unscharf und allein mit diesen konnte man den Mann nicht identifizieren.

      Zu den vier Restaurants, in denen Frau Nagel mit Kreditkarte bezahlte, brach sie sofort auf. Da sie keine Zeit vergeuden wollte, hatte sie ihren


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