Hautmalerei. David Goliath
im Job?«, rätselte Nathan. »Hat er was vergeigt?«
»Das hat ihn noch nie aus dem Tritt gebracht.«
»Es gibt immer ein erstes Mal. Ist dir was aufgefallen?«, beharrte er auf der latenten Vernehmung, die er schon vor ein paar Minuten durchführen wollte.
»Er redete nicht über die Arbeit. Aber verhalten hat er sich normal.« Jasmin rekapitulierte die letzten Tage aus der Sicht der Kommissarin. Schwierig, denn sie hatte die Tage als fürsorgliche Mutter und zurücksteckende Ehefrau durchlebt. »Wirklich, mir ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen.«
»Hatte er Feinde?«
Sie sah ihn an. »Du musst mir keine Fragen stellen, die ich selbst nicht als relevant betrachte«, erwiderte sie scharfzüngig. »Denkst du, ich hätte den üblichen Fragenkatalog nicht schon mehrfach abgegrast?«
»Also, hatte er welche?«, ließ Nathan nicht locker. Wenn sie so gut mit dem Tod ihres Mannes umgehen konnte, konnte sie auch unangenehme Fragen und offensive Fragestellungen vertragen.
»Dich«, antwortete sie.
Nathan grinste bitter. Sie versuchte auszuweichen.
»Feinde, die bereit wären, ihn in die Ecke zu drängen oder um die Ecke zu bringen?«, konkretisierte er deshalb.
»Bauern in Asien, Minenarbeiter in Afrika, Ureinwohner in Südamerika«, zählte sie zynisch auf, »Hausbesetzer und Steinewerfer im linken Spektrum, arabische Clans, semitische Motorradgangs.«
Nathan verstärkte den Griff um ihren Arm. Er benutzte die Handgreiflichkeit als Druckmittel.
»Aua!«, empörte sie sich. »Du tust mir weh!«
Seine hochgezogenen Augenbrauen forderten geerdete Antworten.
»Seine Kameradschaft agiert im Untergrund. Sie treffen sich lediglich, um die Vergangenheit aufleben zu lassen oder sich über die leeren Versprechungen und die lasche Haltung der Politik aufzuregen. Verbohrte Narren, die Bier und Musik zur Kanalisierung einsetzen. Nichts, was den Staatsschutz oder irgendwelche zwielichtigen Organisationen auf den Plan ruft.«
Staatsschutz. Sie hatte es selbst erwähnt. Nathan behielt die Verknüpfung in der Hinterhand. Wenn sie keine Informantin wäre, schützte sie jemand anderes im Präsidium. Und derjenige musste großen Einfluss ausüben.
»Wo verkehrte er noch?«
Jasmin zischte giftig. »Gute Frage! Das hätte ich auch gern gewusst! Und noch besser: mit wem verkehrte er?«
Nathan tadelte sich für das Fettnäpfchen.
»Mord aus Leidenschaft«, konstatierte sie wie eine schwarze Witwe. »Das würde auch seine fehlende Kleidung erklären.«
Er musste ihr Recht geben. Der Ansatz war gar nicht schlecht. »Du wusstest, dass er sich auswärts vergnügte?«, fragte er diplomatisch.
»Wir beide vergnügten uns auswärts«, nahm sie seine Worte auf und fügte einen garstigen Unterton dazu.
Ein kleiner Stich durchfuhr Nathan. Ihm war bewusst, dass sie beide erwachsen waren, kein Paar, und sich auslebten, ausleben mussten. Aber die bloße Erwähnung reichte, um Eifersucht zu erzeugen. Wo es herkam, wusste er nicht. Es fühlte sich aber sehr schmerzhaft an. Er versuchte die Tatsache auszublenden, dass sie mit anderen ins Bett stieg. Mit seinem Liebesleben konnte er gewiss nicht angeben. Beinahe und was wäre wenn zählten nicht. Er lenkte sich mit seinem Schreibblock ab, der mittlerweile viele durchgestrichene Ansätze beinhaltete. Einzig Rotlicht, Hedgefonds und Xander blieben ohne Streichung. Eigentlich wollte er es vermeiden, aber letztlich schaffte es Jasmin doch noch auf die Liste seiner Verdächtigen. Er drehte den Block, damit sie es nicht sehen konnte. Bei dem Wirrwarr an Tinte dürfte es ihr ohnehin schwerfallen, überhaupt irgendetwas herauszulesen.
Nathan machte den Motor an.
»Was hast du vor?«, murmelte Jasmin.
»Ich fahr dich nach Hause. Wenn das Kartenhaus zusammenbricht, soll jeder denken, dass dich der Suizid deines Mannes mitgenommen hat.« Außerdem wollte er sich bei ihr umschauen. Sein eigenes Heim kann man nicht mit den Augen eines Polizisten sehen. »Bis die Leiche seziert ist, haben wir noch etwas Zeit.«
Vorm Haus der Wagners tippte Nathan eine Nachricht für Schmidt: möglicherweise Suizid – warten auf rechtsmedizinisches Gutachten - Näheres folgt. Meistens genügte dem Leiter der Mordkommission eine knappe Mitteilung über den Sachstand. Nathan hoffte, dass die Staatsanwaltschaft noch kein größeres Fass aufgemacht hatte, als die Leichenöffnung ohne das Zutun der Kripo angeordnet wurde. Ohne Ausweispapiere müssten die Fingerabdrücke herhalten. Ein Nazi würde bestimmt in der Datenbank auftauchen. Fraglich, ob dessen Familienstand auch darin stand.
Jasmin war bereits ausgestiegen und prüfte den Briefkasteninhalt. Werbung. Das Haus war noch verwaist, da ihr Sohn zur Schule ging.
Drinnen wurde Nathan von den vielen Fotos an den Wänden überschüttet, die heile Welt darstellen sollten. Bisher hatte er selten das Vergnügen gehabt, das traute Heim von innen zu sehen und jedes Mal wurde er von der Omnipräsenz gestellter Idylle erschlagen. Als er sich unauffällig durch die Räume schlängelte, hörte er seine Partnerin schluchzen. Erst dachte er, es wäre noch etwas Schlimmes passiert, aber wie er sie im Wohnzimmer auf dem Laminat liegen sah, wusste er, dass die Reaktion eingetreten war, die er schon früher erwartet hätte. Jasmin war zusammengebrochen, weil sie ihren Ehemann tot an einer Böschung identifiziert hatte. Nathan setzte sich zu ihr und legte seine Hand auf ihre Schulter. Sie lag wie ein zusammengepferchtes Ding auf dem Boden, das Gesicht zwischen Laminat und Händen vergraben. Die Berührung forcierte eine Öffnung. Sie robbte sich in seinen Schoß. Ihren Kopf legte sie auf seine Beine, den Blick noch weg von ihm gerichtet. Mit den Armen umschlang sie seine Beine. Er fühlte sich deplatziert. Diese Form der Nähe hatte er zuletzt als Säugling am Busen seiner Mutter mitgemacht. Wie ein Roboter streichelte er ihr über die Schulter. Er ließ sie schluchzen, weil er keine passenden Worte fand. Mein Beileid, zu spät und zu unpersönlich. Schön, dass du doch ein Mensch bist?, unangebracht und nicht gerade einfühlsam. Hast du Alkohol da, um den Schmerz zu betäuben, erstens im Dienst und zweitens wusste er überhaupt nicht, ob es Schmerz war, oder einfach nur Erleichterung, oder Reue, oder Freude.
Jasmin drückte ihre Wange auf seinen Oberschenkel und presste ihre Arme darum. Ihre Tränen benetzten seine Hose, aber das war nebensächlich. Die offenen Tränenkanäle und die Hormone geißelten ihre Wahrnehmung. Sehen, hören und riechen konnte sie nicht. Das Fühlen dominierte ihre Sinne. Sie fühlte ihn, fühlte seine Wärme, seine Stärke, seinen Atem in ihrem Nacken. Er musste sie anschauen und durch die Nase ausatmen. Sie genoss die Aufmerksamkeit, obwohl sie nicht weinen wollte, doch mit einem Schlag schwappte alles über und sie konnte sich nicht mehr beherrschen.
Erst hielt sie sich an der Küchentheke fest, dann stampfte sie mit den Füßen auf, versuchte zu meditieren, versuchte ihre Atmung zu regulieren, doch letztlich übermannte sie ein merkwürdiges Gefühl, ihre Beine zitterten plötzlich und sie verlor den Halt. Nach dem Aufschlag riss man ihr das Steuerruder aus der Hand. Ein Schwall Emotionen übernahm die Kontrolle. Sie konnte nur noch zuschauen und geschehen lassen.
Was geschah, gefiel ihr. Nathan kümmerte sich um sie. Er stand ihr bei, vielmehr saß er bei ihr. Er legte den Kommissar ab und wurde Mensch, wurde ein Kissen, wurde ein Ritter in weißer Rüstung. Sie ahnte nicht, dass sie die Zuneigung eines Mannes so nötig gehabt hatte. Körper und Seele vereinten sich, verbündeten sich, um das einzufordern, was ihnen Jahre verwehrt wurde. Ihre damalige Affäre konnte ihr nicht im Geringsten das bieten, was ihr dieses wortlose Beisammensein lieferte: liebevolle Nähe, wie sie es nur noch manchmal von ihrem Sohn bekam.
In ihrer Umnachtung entging ihr, dass Nathan sie packte und auf das Sofa legte, ihr ein weiches Kissen unter den Kopf schob, sie zudeckte und sanft über die Wange streichelte. Sie glaubte zu hören, dass sie immer noch schluchzte, doch im nächsten Moment schlief sie ein. Die Belastung raubte ihr das Bewusstsein.
Nathan stand langsam aus der Hocke