Hautmalerei. David Goliath
Gefühle, die jahrelang unter der Oberfläche schlummerten, brachen vollständig hervor. Während der Affäre hatte sich das verstärkt, was er seit ihrer ersten Begegnung gespürt hatte: Zuneigung. Er konnte es verbergen, konnte mit ihr lachen oder ernste Sachen machen, konnte neben ihr agieren, ohne sich von ihrer Anmut, ihrer Stimme oder ihrem Duft vereinnahmen zu lassen. Er träumte von ihr, wünschte sich, er würde ihr genauso viel bedeuten wie sie ihm. Im Dienst riss er sich aber am Riemen. Es brauchte seine Zeit, bis er wieder locker mit ihr umgehen konnte, platonisch, professionell, wie ganz am Anfang, als er sich nur dachte, was für ein Glück er hatte, mit so einer attraktiven Frau zusammenzuarbeiten. Ihre Art, ihr Gespür und ihre Vorgehensweise deckten sich einfach perfekt mit seinen Eigenheiten. Was der eine dachte, sprach der andere aus und umgekehrt. Manchmal war es schon ein bisschen gruselig, wenn ihre Mägen gleichzeitig grummelten, weil Nachschub fehlte, oder wenn ein Lied im Radio unverhofft zu einem Duett ausuferte. Jasmin wahrte jedoch Distanz. Privat traf man sich sehr selten. Und wenn, dann nur der Form halber, weil ein Familienbrunch der Kriminaldirektion 10 – Kapitaldelikte – anstand, oder weil Richard als Abendbegleitung ausfiel - lieber mit der Bruderschaft im Suff, denn mit der Frau im Theater. Gut, dass sie Abstand hielt, Nathan hätte die Grenzen der Dienstvorschriften ohne Zögern überrannt, die Karriere beider gefährdend. Der Spagat, den sie während der Affäre ausführten, konnte nur gelingen, weil Dunkelheit, Bedeutungslosigkeit und Tristesse keinen Platz für Romantik ließen.
Das Obergeschoss hatte er schnell durchkämmt, nachdem er den leeren, nicht ausgebauten Dachstuhl gesichtet hatte, wo ihn Leitungen, Rohre und Kabel überrascht und abweisend anglotzten. Tageslichtwannenbad, Schlafzimmer, Büro/Abstellraum im OG. Auch im Erdgeschoss fand er nichts Verdächtiges, nur das Wohnzimmer mit offener Küche, das Kinderzimmer und ein kleines Duschbad für Gäste oder zankende Eheleute. Nirgends konnte er einen Hinweis entdecken, warum sich Richard Wagner in die Fluten gestürzt haben könnte. Auch nicht, ob er dies freiwillig tat.
Sicher, dass Jasmin noch weggetreten war, huschte er nach unten in den Keller. Dort empfingen ihn Umzugskartons und Rollkisten, alte Schrankteile und Unrat, eine Gastherme, ein verstaubter Fitnessturm, eine kleine Werkstattwand und die Fahrräder der Familie. Stichprobenartig öffnete er ein paar Behältnisse, die ihm Kinderspielzeug und Faschingskleidung präsentierten, lugte in ein paar Schubladen, die ihm Sammlerleidenschaft und Entsorgungsphobie offenbarten und prüfte den Luftdruck der Fahrradreifen, indem er beiläufig, aus zwangsneurotischer Gewohnheit, das Gummi zwischen seinen Fingern zusammendrückte. Den Baseballschläger, der ihn drohend aus der Ecke fixierte, ignorierte er geflissentlich. Was damit angestellt wurde, wollte er nicht wissen. Genauso ignorierte er das drohende Brummen der Gastherme, die sich wie die gedämpfte Version eines höllischen Brodems anhörte. Ohne Hinweise auf Verzweiflung oder Vergeltung oder Verleugnung ging er wieder hinauf ins Erdgeschoss.
Jasmin lag unverändert auf dem Sofa, mit getrockneten Tränen und tiefer Atmung. Er schaute einen Augenblick zu lang auf die Silhouette, die sich unter der Decke formte. Ihre Brüste drückten sich gegen den gewebten Stoff. Szenen schoben sich in Nathans Geist. Ihre Nacktheit hatte ihn stets überwältigt. Ihr Körper war textillos noch anziehender als mit den engen Blusen, die ihren Busen bedeckten.
Das Telefonklingeln riss beide aus der Trance. Nathan suchte nach der Quelle. In Jasmins Holster, das unter der Jacke in der Garderobe hing, fand er ihr Diensttelefon.
»Hallo? … Kriminalkommissar Nathanael Ysop am Apparat … Die ist gerade nicht zu sprechen … Wir ermitteln zusammen in dem Fall … Ja … Ich schaue es mir gleich an, vielen Dank!«
Das Telefonat war beendet. Er öffnete die App für den verschlüsselten Mailversand zwischen Dienststellen, wo er eine neue Mail von der Rechtsmedizin vorfand. Er klickte auf den Anhang – das Gutachten. Durch die integrierten Fotos dauerte der Download eine ganze Weile.
»Wer war das?« Jasmin hatte sich schwerfällig erhoben. Ihr dezentes, schwarzes Augen-Make-up war verlaufen, ihre Haare struwwelig. Sie taumelte und musste sich an den Möbeln abstützen.
»Die Forensik«, antwortete Nathan, auf das Display starrend. Eine sehr langsam steigende Prozentzahl wollte ihn auf die Folter spannen.
»Und was haben die gesagt?« An der Wand entlang kam sie Schritt für Schritt auf ihren Kollegen zu, der den PIN für ihr Telefon kannte: das Geburtsjahr ihres Sohnes.
Nathan blickte auf und schüttelte den Kopf. Zur Verdeutlichung hob er den Zeigefinger. »Warte noch, ich will mir erst den Bericht ansehen, bevor wir voreilige Schlüsse ziehen.«
Jasmin hatte ihn gleich erreicht. »Du kannst mir doch sagen, was dir gesagt wurde!«, regte sie sich auf, in seichtem Ton, angeschlagen und brüchig.
Die Datei öffnete sich. Nathan überflog die Kästchen und Bemerkungen, dann die Fotos mit den Markierungen. Danach sah er seiner Kollegin in die verheulten, verbeulten Augen.
Jasmin hielt die Luft an, ihn gestisch auffordernd, mehr zu verraten.
»Lungen und Magen waren mit Flusswasser gefüllt«, eröffnete Nathan. »Die Ärzte grenzen den Todeszeitpunkt auf gestern Abend bis Mitternacht ein.« Er beäugte sie, immer ihren Zustand auswertend. »Weiter?«
Jasmin nickte starr. Sie hatte sich mit dem Rücken an die Wand gelehnt und die Augen geschlossen. Sie schien sich ganz auf die Fakten zu konzentrieren.
»Fallhöhe wird auf 20 bis 30 Meter geschätzt, ohne aktive Abfangbewegung.« Er scrollte herunter, ohne anzumerken, dass die Suizidthese noch nicht widerlegt werden konnte. »Er hatte zwei Wunden auf seinem Körper, die weder durch Aufprall auf der Wasseroberfläche noch Strömung oder Anspülen verursacht wurden. Auf dem Bauch wurde eine Schürfwunde entdeckt. Darin fand man rötliche Mainsandsteinreste.«
»Er wurde über etwas geschleift«, meldete sich Jasmin, wankte wie ein Zombie zur Küche und schenkte sich ein Glas Wasser ein. »Du auch?«
»Ja, bitte.«
Sie tranken, während sie in ihren Gedanken versanken. Er folgte ihr aufs Sofa, um die eingesparte Energie fürs Stehen zum Nachdenken zu verwenden, in sitzender Position.
»Er wurde über etwas geschleift und in den Fluss geworfen«, ergänzte Jasmin. »Heute Morgen gefunden, er könnte sonst wo hineingeworfen worden und die ganze Nacht hindurch mit der Strömung gewandert sein.«
Nathan studierte die Fotos der Wasserleiche. Er hatte schon andere, deutlich schlimmere gesehen. Der Leichnam war kaum aufgequollen und sah noch einem Menschen ähnlicher als einem Fisch. Allzu lange dürfte der Mann nicht durchs Wasser getrieben sein. Dann studierte er sie. »Wir müssen nicht darüber reden.«
Jasmin nahm einen weiteren Schluck. »Solange wir noch ermitteln dürfen, machen wir das. Wer weiß, wann uns Schmidt abzieht.«
»Er wird uns nicht nur abziehen, er wird uns ordentlich die Leviten lesen.«
Sie verjagte eine imaginäre Fliege. »Deshalb sollten wir uns beeilen. Wenn die Staatsanwaltschaft Wind davon bekommt, dass die Obduktion bereits durchgeführt wurde, verbreitet sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Schmidt wird uns dann auf direktem Weg ins Präsidium zitieren.«
»Wir müssen vorher ins Präsidium«, warf Nathan ein, »die Kamerabilder von den Brücken auswerten.«
»Das können wir doch Kurz und Klein aufs Auge drücken«, schlug Jasmin mit einem Anflug eines gequälten Schmunzelns vor. Sie kam allmählich zu Kräften.
»Wirklich?«
»Klar! Noch ist es ein Suizid«, setzte sie in Anführungszeichen, »und wir versuchen herauszufinden, wo das Opfer in den Fluss gesprungen ist.«
Das Opfer. Ihre nüchterne Kälte fröstelte Nathan. Immerhin sprach sie von ihrem Ehemann, dem Vater ihres Sohnes. Er fragte sich, ob sie überhaupt im Stande war, wahre Liebe zu empfinden, oder ob er sich vergeblich Hoffnung machte.
Sie nickte ihm auffordernd zu. »Gib mir dein Telefon! Meins ist ja gerade in Gebrauch.«
Nathan gehorchte.
Seine Kollegin entsperrte den Bildschirm. Er hatte erst gar keinen PIN dafür. Man