Hautmalerei. David Goliath
Motiven auf dem Körper des Mannes fühlte sich der Vogel recht wohl. Meine versierte Vorgehensweise im Halbdunkel und das Selbstverständnis, das ich versprühte, verblüfften die Menschen so sehr, dass sie mein Handeln nicht in Frage stellten. Sie gingen einfach weiter, wunderten sich über diesen merkwürdigen Straßenkünstler und den bereitwilligen Mann, der das hell erleuchtete Panorama der Großstadt genoss, während man seinen Rücken malträtierte. Die glanzlosen Augen des Rassisten konnten die blitzlichtaffinen Schlitzaugen nicht sehen, da lediglich der Hinterkopf grüßte.
Manchmal lächelte ich einen dieser Menschen an, aus Spaß. Ich wollte die Reaktion testen. Die meisten erschraken, senkten den Kopf und huschten schnell an mir vorbei. Einer lächelte zurück. Ich sah seine glasigen Pupillen, die mich nicht fixieren konnten, stattdessen um mich herumschwirrten wie Fliegen um einen Freiluftabort. Torkelnd und lallend passierte er mich, ohne mich zu belästigen. Vielleicht hatte er die ratternde, akkubetriebene Tätowiermaschine in meiner Hand zucken sehen und vibrieren hören oder war irritiert von den Blutspritzern, die mein Gesicht besprenkelten, oder den schwarzen Tintenbächen, die von Werkzeug und Latexhandschuhen herunter platschten. Oder er war schlicht von Sinnen, fokussiert auf den Gehweg, ständig am Lächeln.
Vorbeifahrende Autos hielten nicht an. Die Insassen beachteten mich nicht. Zu dieser späten Sunde staute sich der Verkehr auch nicht mehr an beiden Ufern. Es gab also keinen Grund den Bürgersteig fernab von Übergängen unter die Lupe zu nehmen. Selbst Polizeistreifen ließen mich achtlos liegen. Straßenkunst kennt in dieser Stadt so viele komische Formen, dass man es vermeidet, sich mit allen Abartigkeiten zu belasten. Einmal winkte ich dem Einsatzfahrzeug sogar, ohne Resonanz zu erhalten. Die Nacht schützte mich sehr gut.
Als ich fertig war, stellte ich mich lässig an die Brüstung, um mein Umfeld zu beobachten. Ich hatte keine Lust die Beine in die Hand zu nehmen, weshalb ich einen günstigen Moment abpasste, in dem mich bauliche Wölbung der Alten Brücke, Uneinsehbarkeit durch Vegetation und abebbendes Nachtgewimmel für einen Moment zur einsamsten Person auf der Flussüberquerung machten. Dann warf ich einen letzten Blick auf das Tattoo – so wie er es wollte, dachte ich – und den Bastard in den Main. Neben dem Ruderverein plumpste er ins kalte Wasser und verschwand in der Tiefe. Ich wartete noch ein paar Minuten, lauschte dem Verkehr, dem entfernten Rauschen aus Nachtleben, Glockenspiel und Sirenen, das der seichte Wind zu mir trug. Niemand hatte den Sturz gesehen. Niemand hatte den Aufschlag vernommen. Also packte ich meine Sachen zusammen, klappte den Rollstuhl auseinander, mit dem ich den Körper geschoben hatte, setzte mich hinein und kurvte gemütlich von dannen, mit sauberen Händen an den Greifreifen, denn die Handschuhe hatte ich - die schmutzige Seite ineinander gestülpt - ausgezogen und eingesteckt. Passanten schenkten mir mitleidige Blicke – mir, meinen schlaffen Beinen, auf denen ich einen leeren Eimer balancierte, und dem ächzenden Rollstuhl. Ich lugte unter der Kapuze hervor, an der Kamera für Verkehrsüberwachung und öffentliche Sicherheit vorbeirollend, die mich als blinden Fleck aufzeichnete. Mein Adrenalinrausch näherte sich der Klimax und nährte sich von Geltungssucht, Sadismus, Exhibitionismus und Selbstjustiz.
Tinte & Schmerz
Ich erwache.
Ich weiß nicht, wie spät es ist. Der Keller ist dunkel. Mein Zeitgefühl sagt mir, dass die Nacht vorüber ist. Mein Körpergefühl sagt mir, dass ich ausgeschlafen habe. Ich taste mich zum Lichtschalter. Als ich ihn drücke, zündet die Leuchtstoffröhre durch, Quecksilberdampf und Argon bilden ein leitfähiges, strahlendes Plasma, und die fluoreszierende Röhrenbeschichtung aus Luminophor erhellt schließlich den kargen Keller.
Ich strecke mich. Meine Arme erreichen die Decke – ein dickes Betonfundament. Mein Gardemaß von einem Meter 90 macht aus dem Untergeschoss ein klaustrophobisches Gefängnis, das ich aus freien Stücken wählte. Wie mich eine cannabisverseuchte Gebärmutter und ein alkoholgeschwängerter Samenstrang schufen, stehe ich in dem kleinen Verlies. Mein Gemächt grüßt den Morgen. Die schwarz tätowierte Rüstung auf breiter Brust und flachem Bauch bietet den idealen Hintergrund für die hautfarbige Schlange, die sich auf den Sonnenanbeter versteift. Auf meinen Armen setzen sich die tätowierten Motive fort. Links ein Horrorclown mit Reißzähnen und Blutaugen – eine der ersten Hautmalereien, die ich mir gegönnt habe. Nicht selten wünsche ich mir ein unter die Haut geschobenes Audioabspielgerät, das ein grauenhaftes Gelächter abspielt, wenn ich den Muskel anspanne, weil ich die Menschen um mich herum abschrecken will, ehe sich meine Faust in deren hässliche Visagen rammen muss, weil sie mir auf die Pelle rücken. Den restlichen Arm zieren Äxte, Kettensägen, Macheten und Blutrinnsale. Mein kleines, persönliches Folterkabinett. Auf dem rechten Arm erinnert mich der Sensenmann an meine Sterblichkeit. Ausdruckslos verweilt er auf meinem Oberarm, die schartige Sense wie ein Mahnmal neben sich. Um sich hat er Fliegen, Grabmäler und brennende Erde gescharrt. Unter meiner Gürtellinie folgt ein Potpourri aus Fegefeuer, den vier apokalyptischen Reitern, Atompilzen und schwarzen Engeln. Ach ja, auf meinem gesamten Rücken liegen schwarze Schwingen an. Und auf meinem Hals befindet sich gemalter Stacheldraht. Rundherum. Manchmal fühle ich die Metalldornen, wie sie meine Kehle belagern und sich am liebsten in Halswirbel und Schlagadern bohren wollen.
Mit dem Waschlappen wasche ich mich. Die groben Fasern schleifen wie Sandpapier über die tätowierte Haut. Es plätschert in das Waschbecken. Ich stöhne, weil das Wasser so kalt ist. Kernseife löst den Schmutz von mir. Eine Tinktur aus ätherischen Ölen und Alaunstein überdeckt zuverlässig meinen Körpergeruch – für ein paar Stunden. Ich hasse meinen Körpergeruch! Stattdessen dufte ich nach einer Gebirgswiese – bis die Geißen darauf urinieren.
Eine lange Hose und bequeme Schuhe gestatte ich mir. Meinem dezent trainierten Oberkörper spendiere ich ein vorsätzlich gelöchertes Top. Die Kunden sollen schließlich Vertrauen in meine Arbeit gewinnen, indem sie sich an meinen Tätowierungen ergötzen.
Durch die quietschende Stahltür geht es nach oben. Der Krach warnt mich vor ungebetenen Gästen. Oben erwartet mich der Tag. Mein Gefühl hat mich nicht betrogen. Der Tag ist angebrochen, jedoch noch nicht sehr weit fortgeschritten. Ich betrete ein Tattoo-Studio – mein Tattoo-Studio. Zwei Räume, getrennt durch einen Vorhang. Vorn der Empfang – ein Tresen, ein Klo hinter einer einflügeligen Western-Saloontür und eine schlecht gepolsterte Sitzmöglichkeit, äußerst spartanisch. Hinten meine Folterbank: ein altertümliches Holzgestell mit Eisenketten und –manschetten, getrocknetes Blut inklusive – könnte man meinen, doch es handelt sich um täuschend echte Farbe, falls jemand fragt. Dort beackere ich die Kundschaft. Man bezahlt nicht nur für die Kunst, sondern auch für die Show.
Tintenschmerz heißt das Kind, indem ich eine im Abendland seltene Technik perfektioniert habe. Zwar kann ich damit keinen Fotorealismus auf die Haut zaubern, weil es eher grobschlächtig daherkommt, aber Erfahrung, Erinnerung, Haptik und außergewöhnliche Einmaligkeit lassen die Limitierung im Rausch in Rauch vergehen. Ink Rubbing nennt die sogenannte Fachpresse die Vorgehensweise, wo durch das Ritzen der Haut und das Einreiben von farbgebenden Materialien in die entstehenden Narben Kontur und Struktur geschaffen wird. Ich nutze Asche, am liebsten die Asche Verstorbener. Ein Kontakt im Krematorium versorgt mich mit Nachschub. Den Angehörigen wird dann eine Vermengung von Mensch und Schweingebein in die Urne gefüllt. Natürlich ist es ein Gerücht, dass ich mit Totenasche arbeite, aber weder kommentiere noch dementiere ich. Die Mundpropaganda beschert mir mehr Anfragen als ich abarbeiten kann. Prüfungen durch das Gesundheitsamt verlaufen stets ohne Beanstandungen, dank Buschfunk und guter Refugien. Zu der grauen (Toten-)Asche mische ich noch etwas schwarzes, gemahlenes Schießpulver. Das Skalpell öffnet die Haut und ich bringe das Gemisch ein, knete mit den Händen wie der Bäcker den Teig, reibe mit den Fingerbeeren wie die zierliche Masseuse vorm Happy End. Es ist recht blutig, aber die Kunden schreckt das nicht ab. Im Gegenteil, der Verzicht auf filigrane Kunst wird ersetzt durch die masochistische Faszination der legitimierten, offensichtlichen Körperverletzung. Das Resultat sind vernarbte, wulstige, schattierte Körperpartien, verziert mit einfachen Motiven, Sprüchen oder grotesken Formen. Noch mehr als Skalpell und Einrieb schmerzt die Desinfektion nach der Staubapplikation. Die verzerrten Gesichter der Kunden sehen nicht mein feixendes Konterfeit, wenn ich das bakterizide, fungizide, tuberkulozide, viruzide, bläuliche Mittelchen über sie kippe. Sie zucken wie Stroboskope im Dauerfeuer, wehren sich gegen die Eisenbewehrung meiner