Hautmalerei. David Goliath
Hand, eine echte Notwendigkeit im alltäglichen Dschungel aus Kundenakquise, Networking, Social Media, Haftungsausschlüssen und Buchhaltung. Ohne sie wäre ich verloren. Ohne sie könnte ich mich nicht entfalten. Der Kram, den sie erledigt, nervt mich. Ich will nur die Haut, kann auf das Drumherum verzichten. Dafür erhält sie einen guten Lohn, der sich auch ihre Verschwiegenheit erkauft. Die kolportierte Totenasche ist lediglich ein Bruchteil meiner Sonderbarkeiten.
Die Kaffeemaschine bekommt Wasser und Pulver. Ich verabscheue Nikotin, aber ich brauche Koffein. Schon beginnt das Gerät zu brummen und dampfen – ein kleiner Morgenmuffel, der meinen Morgen in Schwung bringt. Während der Apparat kocht, schließe ich den Laden auf. Zuerst entriegele ich innen die Glastür, dann den Aluminiumpanzer davor, den ich nach oben schieben muss. Draußen empfängt mich eine leere Reihe von Parkplätzen, wo ich drei Stellflächen für das Studio reserviert habe. Aret stellt sich immer auf die erste Stellfläche davon. Sie nutzt den honiggelben Firmenwagen – ein schnittiges, leistungsfähiges Cabriolet mit dem Tintenschmerz-Schriftzug, den Kontaktdaten und einem kecken Spruch: geht unter die Haut! Die zwei anderen Parkplätze stehen den Kunden zur Verfügung. Einer für den zu behandelnden Kunden, der zweite für den interessierten Kunden, der sich den Pranger der Pein anschauen möchte. Über ein Gässchen zu erreichen. Kiefern, Buchen und Eichen säumen die Umgebung. Eine fehlende Überflutungsfläche verkürzt meinen Weg zu dem mittelgroßen Fluss – derselbe, den ich zur Entsorgung der Leiche benutzte. Die Strömung fließt zur Großstadt hin gen Westen, also wird der Körper in die andere Richtung getrieben und nicht vor mein Studio. Ich rechne außerdem jede Nacht mit der strafenden Sintflut, weil mein Schlafkeller unterhalb des Wasserpegels liegt, aber bis jetzt bin ich immer wieder aufgewacht. Das letzte Hochwasser, welches nicht durch die Staustufen reguliert werden konnte, trat vor meiner Zeit in diesem kleinen, dörflichen Stadtteil über die aufgeschütteten Ufer mit ihren mickrigen Flutmauern.
Die Sonne gewinnt an Stärke. Ich spüre die Strahlung auf meiner veränderten Hautoberfläche beim Kontrollgang außerhalb. Ein paar Getränkebecher liegen herum, zusammen mit einigen gerauchten Kippen. Die vorlaute, despektierliche Jugend hat sich offenbar herumgetrieben. Ich werfe den Müll in den öffentlichen Abfalleimer keine zehn Meter entfernt und nutze die Gelegenheit über den Parkplatz bis zur Böschung zu schlendern. Die sonstige Stellfläche gehört zur Fähre, die täglich der Strömung auf 130 Meter Breite trotzt, und dabei fahrbare Untersätze bis dreieinhalb Tonnen chauffiert, genauso wie Fußgänger.
Erste Radfahrer schießen an mir vorbei, denn direkt am Fluss führt ein beliebter, frequentierter Radweg entlang. Das Grün der Vegetation beruhigt mich. Ich blicke über das fließende Wasser. Gegenüber liegt ein Campinggelände, das von Flora geschützt wird. Richtung Westen folgt ein kleiner Bootshafen. Mit der Sonne auf der zweiten Gesichtshälfte tapse ich zurück zu meiner Liegenschaft. Ich drehe den Kopf in beide Richtungen. Auf der einen Seite sehe ich die dreiflüglige Schlossanlage, die mittlerweile mit Eigentumswohnungen vollgepumpt ist, und den angrenzenden Schlosspark. Auf der anderen Seite sehe ich ein dünnes Gewerbegebiet, an das sich ein Naturschutzgebiet anschließt, zentriert von einer gefluteten Kiesgrube, an deren Zipfel sich ein niedliches Strandbad anhängt.
Während ich flaniere, bleibt die Ladentür sperrangelweit geöffnet. Etwas frische Luft vertreibt den Muff aus dem Kabuff. Auf dem Rückweg betrachte ich die bescheidene Selbstständigkeit, die Monat für Monat meine Schulden begleicht. Und die Nachbarschaft. Provinzialer Einzelhandel, der sich gegen das Internet und die geballten Einkaufszentren stemmt, abhängig von den wenigen Stammkunden aus dem unmittelbaren Umfeld. Darüber ein paar Wohnungen. Neugierige Augen erspähen mich. Sie blinzeln durch die antiquierten Gardinen hindurch und denken, ich sehe sie nicht. Dabei weiß ich ganz genau, wie das Rentnerehepaar der Nachbarschaftswache über mich und mein Treiben denkt. Am meisten schreckt sie meine Erscheinung ab, vor allem meine dunklen Augen, bei denen man nicht sieht, wohin ich eigentlich schaue, weil einfach alles schwarz ist. Ich winke freundlich und gehe in mein Geschäft. Erwidert wird die Geste nicht. Jeder von beiden hat sein eigenes Fenster. Der eine hockt im Wohnzimmer; die andere in der Küche; beide starren den halben Tag hinaus zum grünen Ufer, an dem dutzende Blechkisten parken. Ich stelle mir vor, dass sie sich fromm bekreuzigen, wenn sie mich sehen.
Der Kaffee ist durchgelaufen. Ich gönne mir eine Tasse. Schlürfend prüfe ich den Briefkasten – Werbeflyer, trotz des eindeutigen Aufklebers, der darum bittet, auf den Einwurf von Werbung zu verzichten. Vielleicht sollte ich einen mehrsprachigen Aufkleber anbringen - oder plakative Piktogramme, die selbst dressierte Affen verstehen. Dann schlurfe ich durch den Laden und sichte das Inventar. Zuerst mein Arbeitsmaterial: Skalpelle, Tupfer, Mullbinden, Kompressen, Formaldehyd und Peressigsäure für die Sterilisation der Geräte, Propanol als Desinfektionsmittel für Wunden und Hände, Hautcreme, Asche und Schießpulver in Töpfen, außerdem noch Beißkeile, Kokain als Lokalanästhetikum und Morphium als Analgetikum. Die Betäubungssubstanzen lagern in einem Geheimfach unter der Sitzfläche meines gepolsterten, höhenverstellbaren Drehhockers und werden als Ultima Ratio angesehen. Besitz und Anwendung sind nicht konform mit dem Gesetz, aber manche Kunden trauen sich mehr zu als sie aushalten. Bevor ich reanimieren muss, sediere ich lieber. Die geringe Dosis verhindert eine Abhängigkeit, rede ich mir ein. Vielleicht ist das auch ein weiterer Grund, warum so viele Wiederholungstäter auf der Matte stehen. Meine Bezugsquelle behalte ich besser für mich. Aret kennt das Spiel, weshalb ich für ihren geschlossenen Mund auch so gut bezahle. Früher bezahlte man sie schlechter, für einen geöffneten Mund. Schlucken ohne Mucken musste sie trotzdem.
Mein Arbeitsplatz ist vom Boden bis zur Decke gefliest – schlichtes Weiß mit weißen Fugen. Gut für Blut. Erleichtert die Reinigung. Es gibt keine Bilder, Skizzen oder Fotos. Nur die Holzbank mit den Eisenbeschlägen, eine alte Kommode mit verglasten Türen für meine Utensilien und Holztüren, wohinter die autarke Tätowiermaschine lagert, die ich auswärts nutze. Außerdem ein Abwurfbehälter für blutiges Verbandszeug und ein Waschbecken aus Edelstahl für Desinfektion und Sterilisation. An der abgehängten Decke beäugen mich dutzende Einbaustrahler, die als Publikum beobachten und als Tribunal verurteilen.
Nach dem morgendlichen Rundgang blättere ich Kalender und Aufträge durch. Heute kommen zwei Kunden. Ein Frischling und ein Dauergast. Bevor der Kaffee kalt wird, trinke ich die Tasse aus. Der Frischling will mir seinen äußeren Oberarm zur Verfügung stellen. Er gibt mir die Freiheit, mich auszutoben, schränkte jedoch das Thema ein: maritim. Ein Seepferdchen würde mir gefallen. Mal sehen, was da für ein Schmalhans kommt. Da Aret den Erstkundenkontakt übernimmt, weiß ich nie, wer mich erwartet. Sie kennt mich und meine Gepflogenheiten, weshalb sie den Interessierten genau sagen kann, was ihnen bevorsteht. Das Wichtigste ist sowieso der Haftungsausschluss. Körperverletzung mit Einwilligung. Der Dauergast ist ein längerfristiges Projekt: Rosenranken vom großen Fußzeh, über Spann, Knöchel, Wadenbein, Knie, Oberschenkel, Hüfte, Po, Rücken und Schulter bis zum Nacken. Es ist der dritte Termin. Den ersten Termin mussten wir wegen der Schmerzen abbrechen. Die zarte Frau kämpfte zudem mit ihrem Kreislauf. Ein koffeinhaltiges Erfrischungsgetränk und ein Schokoriegel halfen. Beim zweiten Termin war sie vorbereitet – mental und körperlich. Bis zu ihrem hübschen Hinterteil sind wir gekommen. Heute wird sie mir den Rest ihres ansehnlichen Körpers zeigen, wenn wir uns vom Po bis zum Nacken hocharbeiten. Möglicherweise muss ich heute eine Prise Morphium spendieren. Da kaum Fettpolster vorhanden sind, werde ich nah an ihren Knochen herumsäbeln.
Bis meine Adjutantin eintrifft, setze ich mich nach vorn in den Empfangsbereich. Der Getränkekühlschrank summt leise und die Wanduhr tickt. Ich atme vor mich hin, zähle die Radfahrer, Kinderwagen und angeleinten Hunde, die vorm Laden vorbeihuschen.
Erinnerungen an die letzte Nacht fluten meinen Geist. Als ich dem verkappten Nationalsozialisten in einer schlecht beleuchteten, mies belüfteten, leicht zugänglichen Parkgarage auflauerte, ihn mit Engelsstaub (PCP – ähnlich halluzinogen wie LSD, aber in der richtigen Dosierung einschläfernd) als Aerosol gefügig machte, ihn und sein Mobiltelefon in einem Eimer mit frischem Flusswasser ertränkte, ihn in dessen übermotorisierten SUV hievte und zur Alten Brücke kutschierte, wo ich einen Behindertenparkplatz in der Nähe besetzte. Er kam gerade aus dem Büro aus einem der Wolkenkratzer im Bankenviertel, mit feinem Zwirn und schicker Aktentasche. Ich passte ihn ab, hockte wie ein Kobold mit dem Eimer voll Wasser zwischen den parkenden Autos. Heute würde ihn die Investmentbank, für die er Bioreservate