Raban und Röiven Eine magische Freundschaft. Norbert Wibben

Raban und Röiven Eine magische Freundschaft - Norbert Wibben


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steht Röiven still. Sein Kopf hängt traurig herunter. Eine Träne rollt über den Schnabel und tropft von dort auf einen jungen Raben.

      »Arme Roya! Ich weiß noch genau, wie stolz deine Eltern waren, als du geschlüpft bist.«

      »Du kennst ihn?«, fragt Raban vorsichtig.

      »Ja. Aber »er« ist ein Mädchen. Ich erinnere mich noch genau an sie. Es ist erst wenige Wochen her. Sie war so schön. Sie hätte vielleicht meine Freundin werden können. Stark und mutig war sie. Ich habe gesehen, wie sie sich auf mehrere Elstern stürzte, um einem Jungen zu helfen.« Erneut tropft eine Träne auf den stillen Vogel.

      »Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, wie traurig du sein musst. Aber ich fühle mit dir.« Raban streicht seinem Freund über das Gefieder. »Trotzdem müssen wir hier besser verschwinden. Die Musik in der Kapelle hat aufgehört. Die Leute werden gleich herauskommen. Wenn sie uns hier sehen, habe ich vermutlich Fragen zu beantworten, auf die ich keine Antwort geben kann.«

      »…«

      »Hast du mich gehört? Wir müssen fort. Soll ich Roya mitnehmen und an einem sonnigen Platz beerdigen?«

      »Du willst was? Wozu soll das gut sein?« krächzt es traurig, aber erstaunt zurück.

      »Wir beerdigen unsere Toten. Dadurch sind ihre Körper vor …« Pause. Etwas verlegen setzt Raban den Satz fort:

      »… also, sie sind dann vor Tieren geschützt, die sie sonst auffressen würden.«

      »Ist das schlimm? So helfen sie anderen Lebewesen zu überleben. Das ist doch ein steter Kreislauf.«

      »Du hast eigentlich Recht. Trotzdem mögen wir Menschen es nicht, wenn Angehörige oder Freunde in aller Offenheit zerstückelt und aufgefressen werden. In der Erde werden sie letztlich auch langsam aufgelöst und sind Teil des Kreislaufs. Auch wenn die Körper anderen nützlich sind, ihre Seele geht zu Gott.«

      »Die Anam kehrt zum großen Geist heim, der uns alle geschaffen hat«, bestätigt Röiven.

      »Gut. Wir nehmen Roya mit. Los, die Leute kommen schon.« Der Junge hebt den toten Kolkraben auf und nimmt seinen Freund wieder auf den linken Arm.

      »Bringe uns an deinen Lieblingsort!«, fordert er. »Dort kannst du dich in Ruhe verabschieden.«

      Die Luft flirrt. Bevor sie bemerkt werden, sind sie verschwunden.

      Im selben Moment steht der Junge auf einer großen Wiese. Das volle Sonnenlicht lässt die Wildblumen bunt leuchten. Die Insekten summen. Raban blickt sich um. Hier ist es wirklich schön. Aber, wo ist Röiven. Der Junge trägt die tote Roya noch immer vorsichtig auf seinen Händen. Der lebende Kolkrabe fehlt aber.

      »Nicht schon wieder!«, stöhnt er auf und blickt sich suchend um. Die Wiese liegt an einem sanften Berghang. Doch sein Freund ist nicht zu sehen. Suchend wandert er umher und gelangt zu mehreren flachen Erdhügeln. Sie sehen aus wie alte Gräber. Ihnen direkt gegenüber ist ein Grabstein aufgestellt.

      Die Sonnenstrahlen lassen den Grabstein aus graugelbem, hellen Sandstein fast leuchten. Raban tritt näher und erkennt Symbole und Schriftzüge. Sie sind bereits ziemlich verwittert. Er strengt sich an, sie zu entziffern und meint zu träumen.

      »Kann das wahr sein? Da sind tatsächlich, kaum noch sichtbar, eine Ziegenherde und Sterne erkennbar. Dies ist Erdmuthes Grab, wenn sie in dem realen Geschehen so genannt wurde.« Er ist davon überzeugt und durchlebt mit geschlossenen Augen Teile der gelesen Geschichte. Jetzt, mit der Erinnerung vor Augen, sind die Schriftzüge leicht zu lesen:

      Zur Erinnerung an

      Erdmuthe

      Sie half ohne Vorbedingung

      und rettete ihre Freunde.

      Die sie liebten, weinen um sie.

      Du bist immer in unseren Herzen,

      wir vermissen dich!

      »Ihr Name ist also nicht verändert worden! Dieser Platz gefällt mir! Deine Wahl ist gut. Aber wo steckst du, Röiven?«

      Obwohl er den schwarzen Vogel nirgends entdecken kann, hofft er, dass dieser doch bald auftaucht. Sehr weit entfernt sollte er doch wohl nicht angekommen sein.

      »Hier auf dem Gelände des alten Klosters gibt es sicher keinen Hühnerstall, in dem er jetzt feststecken könnte. Vermutlich kommt er gleich hier an, laut auf den blöden Verband schimpfend!« Der Junge muss unwillkürlich grinsen. Große Sorgen macht er sich nicht. Warum auch?

      Er beginnt damit, direkt neben Erdmuthes Grab, eine kleine Grube auszuheben. Er nutzt sein Taschenmesser und einen flachen Stein. Auch wenn es nur langsam voran geht, stört ihn das nicht. Er hat ja Zeit. Anschließend kleidet er die Vertiefung mit Moos aus.

      »Hat Eila das nicht auch so gemacht, wenn sie Vögel hier beerdigt hat, denen nicht mehr geholfen werden konnte? Ja, aber es fehlen noch schöne bunte Blütenköpfe.«

      Als auch diese platziert sind, bettet er das tote Kolkrabenmädchen vorsichtig hinein.

      »Wo bleibt mein Freund bloß? Er wollte doch Abschied nehmen!«

      Der Junge deckt etwas Moos über Roya, dann verschließt er das Grab provisorisch mit mehreren Ästen. Darauf häuft er die Erde und klopft sie etwas fest.

      »Ich muss jetzt meinen Freund finden. Wir kommen dann zu dir zurück. Bis dahin!«

      Raban freut sich über die gewählte Stelle. Die Sonne erwärmt das Grab, genau wie das daneben liegende.

      »Der Spruch auf dem Stein passt auch ausgezeichnet zu dir, Roya!«

      Er dreht sich um und wandert suchend über die Wiese. Der Junge wählt die Richtung, in der er das Haus von Erdmuthe und die Ruinen des Kloster vermutet.

      Wo steckt Röiven?

      Der Junge erblickt etwas abseits ein niedriges Gebäude. Das muss das Haus sein, in dem Erdmuthe gelebt und Eila ausgebildet hat. Aus dem Schornstein, der aus dem offensichtlich stark einsturzgefährdetem Dach aufragt, steigt keine Rauchsäule in den Himmel.

      »Das ist auch nicht zu erwarten. Hier lebt sicher kein Mensch«, ist Raban überzeugt. Darauf weisen auch die tief in den Mauern liegenden Fenster hin. Sie sind so blind und von Spinnweben eingerahmt, wie er es noch nie zuvor gesehen hat. Hindurch schauen ist nicht möglich. Ob Röiven darin angekommen ist? Der Junge tritt zur Tür und versucht sie zu öffnen. Die Klinke ist stark verrostet, lässt sich aber hinunterdrücken. Die Tür selbst ist dagegen nicht zu öffnen. Sie ist entweder abgeschlossen oder sie hat sich sehr stark verzogen und klemmt. Verzweifelt hämmern seine Fäuste dagegen. Aber es erfolgt keine Reaktion von innen.

      Der Junge schüttelt den Kopf.

      »Da komm ich nicht rein. Ich müsste schon eines der Fenster einschlagen. Weil ich jedoch nicht weiß, ob mein Freund dort drinnen ist, lass ich das lieber. Ich bekäme womöglich Ärger, wegen Sachbeschädigung oder Hausfriedensbruch.« Erneut ruft er mehrmals nach dem Vogel, erhält aber keine Antwort.

      »Ich hoffe, ihm ist nichts Schlimmes passiert. Wer weiß, was alles bei verunglückten Zaubern passieren kann!«

      Als er auf dem Gelände suchend weitergeht, kommt das verfallene Kloster in Sicht. Es muss einmal eine gewaltige Anlage gewesen sein. Reste eines Kirchturms zeigen in den Himmel. Von dort führen eingefallene Verbindungsgebäude zu weiteren Gebäuderesten. Vereinzelte Teile großer Giebel stehen noch, zwischen denen Raban nun sucht. Viele der ehemaligen Gebäude sind jetzt nur noch Schutthaufen. Die mächtigen Mauern, vor denen Raban jetzt steht, lassen ein ehemaliges Vorratshaus erahnen.

      Aber nirgends ist Röiven zu sehen!


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