Raban und Röiven Eine magische Freundschaft. Norbert Wibben

Raban und Röiven Eine magische Freundschaft - Norbert Wibben


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in der von ihm gelesenen Geschichte, also vor etwa einhundert Jahren, einen Kampf mit zwei Wölfen. In dem Moment der Erinnerung läuft ihm ein leichter Schauer über den Rücken. Wie sollte er mit so einem gefährlichen Tier fertig werden?

      »Ich kann nicht zaubern und eine Waffe habe ich auch nicht. Mein Taschenmesser wird mir kaum gegen ein derartiges Raubtier nützen.« Der Junge versucht sich zu beruhigen. Er atmet bewusst langsamer. Warum sollte ausgerechnet jetzt ein Wolf auftauchen. Hier gibt es doch nichts für ihn zu erjagen, oder? Zweifelnd schaut er um sich. Nein, hier sind nur einige Vögel. Amseln und Rotkehlchen bemerkt er. Ach ja, und eine grünblau schillernde Eidechse wärmt sich im schönen Sonnenschein auf einem der Steinhaufen. Aber das ist doch alles nichts für einen hungrigen Wolf!

      Raban seufzt und sucht weiter.

      »Wann werde ich meinen gefiederten Freund finden?« Er schaut zu den Resten eines kleinen Turmes.

      Erschrocken dreht sich der Junge um. Er spürt ein Kribbeln im Nacken. War da nicht eben ein Geräusch? Es könnte von einem größeren Tier verursacht worden sein. Gibt es noch Ziegen hier? Vielleicht verwilderte aus Erdmuthes Herde? Oder könnte das eine Wildkatze gewesen sein? Die sind aber doch nicht zu hören, wenn sie auf ihren Samtpfoten auf Jagd sind!

      Raban fühlt, wie sich die Härchen in seinem Nacken aufrichten. Lauert hier doch eine Gefahr?

      Sein Blick irrt hastig umher. Wo ist die mögliche Bedrohung und wo gibt es eine Waffe? Neben dem Turm wuchern Brombeersträucher und ein alter Haselbusch.

      »Ich breche mir eine langen Stab von der Hasel ab. Genau. Dann habe ich wenigstens eine kleine Verteidigungsmöglichkeit.«

      Mit wenigen Schritten steht Raban bei dem Busch. Schnell hat er einen etwa zwei Finger dicken, langen Trieb ausgewählt. Das Abbrechen hat er sich aber einfacher vorgestellt. Er greift weit nach oben und zieht den geraden Zweig zu sich. Der Junge rüttelt verzweifelt, aber der Stab bricht nicht. Er blickt sich um. Nein. Noch ist kein Angreifer zu sehen.

      Plötzlich hat Raban eine Idee. Schnell kniet er sich nieder und macht mit seinem Messer möglichst tiefe Einschnitte in den Trieb. Der Junge greift wieder nach oben und zieht an dem Holz. Ein leises Knistern ist zu hören. Plötzlich ertönt ein scharfes, lautes Knacken. Es ist geschafft. Doch der von ihm verursachte Lärm muss weit zu hören gewesen sein! Hastig schweift sein Blick über das Gelände. Ist dort ein Schatten vor dem Steinhaufen vorbeigehuscht? Ach, das war nur eine Amsel auf Futtersuche.

      »Was soll ich machen?« Den langen Stecken in der linken Hand, werden die Treppenstufen des Turms erklommen. Reicht die gewonnene Höhe? Nein, lieber bis ganz nach oben, jedenfalls so weit, wie es möglich ist. Etwa zehn Meter über dem Boden muss Raban schnaufend anhalten. Die Stufen enden im Nichts.

      Wenn der Junge nicht so aufgeregt wäre, könnte er einen traumhaften Ausblick auf den jenseitigen Höhenzug genießen. Seine Augen suchen hastig das Gelände ab.

      »Was war das für ein Schatten? Er muss zu etwas Großem gehören.« Während der Anstrengung, den Stab von dem Haselbusch zu brechen, war das Kribbeln im Nacken nicht zu spüren gewesen. Aber jetzt ist es wieder da.

      Unruhig sucht er den Boden und das Gelände ab, während er den Stab automatisch entblättert und auf eine Länge kürzt, die etwas mehr als seine Körpergröße beträgt. Tiefe Kerben und sein Körpergewicht reichen aus, den Stab wie gewünscht zu brechen. Erneut knackt es dabei laut.

      »Die Suche muss systematisch erfolgen! Wo hatte ich den Schemen gesehen? Richtig! Das war bei dem Schutthaufen dort drüben.« Doch der Schatten ist ebenso wenig wie dessen Verursacher auszumachen.

      Halt, was ist das? Etwas Schwarzes mit einem weißen Fleck liegt dort unterhalb stehengebliebener Reste eines Giebels. Ist das der Schemen gewesen?

      »Ist das nicht …?« Raban beugt sich weit vor und strengt seine Augen an. »Röiven?«

      Er will sich bereits freudig umdrehen und den Turm hinabeilen, um zu seinem Freund zu kommen. Da sieht er den Schatten wieder. Nein, nicht den Schatten. Es ist ein großer, grauer Hund mit einer langen Rute.

      Es ist: »Ein Wolf!«, weiß er sofort.

      Das Tier streift, wohl auf der Nahrungssuche, über das Gelände. Voller Sorge erkennt der Junge: der Wolf wird unweigerlich zu der Stelle kommen, an der der Kolkrabe liegt.

      »Was kann ich machen? Der wird Röiven eher erreichen, als ich dort sein kann. Wie ist Hilfe möglich?« Raban sucht verzweifelt nach einer Lösung, während er bereits die Stufen hinuntereilt. Unten angekommen, läuft er laut schreiend in die Richtung des Wolfes.

      »Du gemeine Bestie. Hau ab. Du elendes Vieh. Wehe du kommst meinem Freund zu nahe! Gleich hab ich dich. Dann kannst du was erleben! Ich werde dich über offenem Feuer rösten. Dein Fell wird vor meinem Bett auf dem Boden liegen.«

      Der Wolf hört Raban sofort. Scheinbar erstaunt bleibt dieser stehen und blickt herüber. Kann es so was geben? Ein kleiner Mensch will ihn angreifen? Was der ruft, ist für das Tier unverständlich. Aber es kling bedrohlich. Darum senkt es seinen Kopf und beginnt gefährlich zu grollen, tief in seiner Kehle. Die Ohren sind nach hinten an den Kopf gelegt.

      Meistens sind die Menschen nicht allein, und sie sind schlau! Der Wolf wartet. Doch der kleine Mensch kommt weiter auf ihn zu gestürmt. Er hat einen langen Stab in seiner Hand und hält diesen auf ihn gerichtet. Wenn das eins dieser Dinger ist, mit denen die großen Menschen einem aus großer Entfernung Verletzungen zufügen können, dann sollte er besser verschwinden. Sein Grollen verstummt. Es gibt hier sowieso nur Federvieh zu fressen, und die Federn sind kaum auszuspucken.

      Als der Wolf mit seinen Überlegungen hier angelangt ist, jault er kurz auf und dreht sich hastig um. In langen Sätzen stürmt er davon.

      Raban kann es nicht fassen. Ist es ein Traum?

      Das Raubtier flüchtet tatsächlich!

      Er blickt gebannt dem sich entfernenden Wolf hinterher. Völlig außer Atem und verschwitzt schüttelt er sich kurz.

      »Ich muss sehen, was mit Röiven passiert ist!« Der Junge rennt erneut los, diesmal in Richtung des Giebels, wo der Kolkrabe zu sehen war. Und da liegt der sonst so gern plappernde Vogel. Die Augen sind geschlossen. Raban lauscht, aber die knarzende Stimme ist nicht zu hören.

      Niedergehockt auf den Knien streichen seine Finger das schwarze Gefieder. Er beugt sich über ihn und horcht am Brustkorb des Vogels. Schlägt das Herz noch? Raban muss nach seinem Lauf noch heftig schnaufen. Auch die Auseinandersetzung mit dem Wolf wirkt wohl noch nach. Jedenfalls hört der Junge nur das Rauschen seines eigenen Blutes.

      »Nein, bitte nicht!«, schluchzt er auf. »Du darfst nicht tot sein!« Raban versucht sich zu beruhigen und atmet mehrmals langsam tief ein und aus.

      Mit: »Bitte!«, beugt er sich wieder zu seinem Freund hinab. Sein Ohr ruht lange auf dessen kleinem Körper. Nicht ganz sicher, atmet er noch ein paarmal langsam ein und aus und horcht erneut. Dann ist er sich sicher.

      »Ja! Ja!«, ruft er jubelnd. »Du lebst!«

      Er überlegt: »Was kann ich machen? Ich muss wohl warten und Geduld haben. Die Bewusstlosigkeit dauert schon lange und muss tief sein, sonst wäre er längst aufgewacht. Hm. Es ist für ihn sicher nicht so gut, im direkten Sonnenschein zu liegen. Durch das schwarze Gefieder wird die Wärme richtig angezogen. Bevor Röiven noch gegrillt wird, bringe ich ihn lieber in den Schatten.«

      Vorsichtig nimmt Raban den Kolkraben auf seine Arme und trägt ihn zu dem ehemaligen Heim von Erdmuthe. Dort hatte er vorhin eine Regentonne unter dem überstehenden Dach bemerkt. Daneben befinden sich samtig grüne Moosflecken, auf die er den immer noch bewusstlosen Vogel legt. In der hölzernen Tonne findet er sogar etwas Wasser. Der Junge beugt sich tief hinein und hält sein Taschentuch in das kühle Nass. Er wringt es etwas aus und legt das feuchte Tuch vorsichtig auf den Kopf des Vogels.

      Jetzt heißt es abwarten und hoffen.

      »Krch«,


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