Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen. Tobias Fischer
nicht einmal einen verächtlichen. »Steigt wieder in den Wagen zurück, Meister Swift. Wir halten keine Nachtruhe. Gönnt Euch Schlaf, wenn Ihr wollt. Sobald die Tiere wieder bei Kräften sind, geht es weiter«, sagte die Seelenkönigin im Befehlston und wandte sich ab.
»Was ist mit unserem Fenriswolf? Er braucht Fleisch, oder nicht? Wir haben keines dabei. Ihr vielleicht?«, rief Jane der Dämonin zu.
Die Seelenkönigin zeigte ihr ein abfälliges Grinsen. Dann schloss sie die Tür. Wozu, meint Ihr, seid Ihr wohl dabei?, glaubte sie die boshafte Stimme dieser Hexe in ihrem Kopf zu hören. Jane ballte die Fäuste. Sie an die Bestie zu verfüttern, würde sie der Seelenkönigin durchaus zutrauen.
»Keine Sorge«, flüsterte Veyron neben ihr. »Fenriswölfe sind Langstreckenjäger. Sie können tagelang ohne Nahrung auskommen. Ich bin sicher, unser alter Fenris wurde ausgiebig gefüttert, bevor wir aufbrachen.«
Jane verzog das Gesicht. »Ich frage mich nur, mit was; oder mit wem.«
Veyron gab ihr darauf keine Antwort. Sie stiegen in die Postkutsche und zogen sich in ihre Schlafkojen zurück. Jane nahm eine Schmerztablette und schlief danach zu ihrer Überraschung gleich ein. Irgendwann in der Nacht weckte sie das Ruckeln der Kutsche. Die Reise ging weiter, aber schon im nächsten Moment umfingen sie die Träume aufs Neue.
Veyron bereitete ihnen ein kleines Frühstück, welches aus einer Tasse kalten Kaffees und Trockenkeksen bestand. Nicht gerade eine Mahlzeit, um ihre Stimmung zu heben. Er entschuldigte sich dafür, aber mehr Proviant hätte er nicht eingepackt.
»Klar. Sie brauchten den Platz für Ihre Bomben. Das war ja viel wichtiger«, maulte sie, trank missmutig den Kaffee, und nach zwei Keksen war ihr der Hunger bereits wieder vergangen. Die Enge in der Postkutsche schlug Jane aufs Gemüt, ebenso die pausenlose Fahrt. Draußen gab es nichts Interessantes zu sehen, und so legte sie sich wieder hin, kramte ihr Smartphone heraus und spielte ein paar gespeicherte Spiele. Später las sie alte Nachrichten von ihren Freundinnen und Bekannten durch. Da Veyrons Beitrag zur Unterhaltung weitgehend aus Schweigen bestand, drehte sie ihm den Rücken zu und schloss die Augen, aber trotz des monotonen Gerüttels fiel es ihr überraschend schwer, wieder in Schlaf zu finden. Sie warf sich hin und her und gab sich alle Mühe, Veyron, der auf einem Notizblock herumkritzelte, zu ignorieren. Irgendwann musste sie wohl doch eingedöst sein, denn sie fuhr hoch, als die Kutsche stoppte, und stellte fest, dass die Nacht hereingebrochen war. Die Tiere legten eine weitere Pause ein, dafür war Jane nun hellwach. Draußen vertrat sie sich ein wenig die Beine und beobachtete die Sterne, bis sie sich müde genug fühlte, wieder in den Wagen zu steigen und weiterzuschlafen.
Als sie die Augen wieder aufschlug, war es helllichter Tag, doch einen Unterschied machte es nicht. Die Kutschen ruckelten weiter durch die endlos scheinende Grassteppe. Veyron war natürlich bereits auf – schlief er überhaupt je? – und servierte ihr erneut kalten Kaffee und dazu einen Becher Sahne.
Nun war Jane wirklich überrascht. »Wo haben Sie die denn her?«, wollte sie wissen, tunkte den Finger in den Becher und leckte ihn genüsslich ab. »Mh, lecker. Sogar echte Schlagsahne, keine aus der Dose. Sie sind ja doch ein Zauberer.«
Veyron musste kurz grinsen. »Das ist keine Sahne«, sagte er, »das ist Riesenwollnashornmilch.«
Jane zuckte kurz zusammen, dann nahm sie noch einen Finger von der weißen Flüssigkeit. »Okay. Ist was Neues. Wo haben Sie die Milch her?«
»Natürlich von den Riesenwollnashörnern. Man kann sie melken, falls Sie es wissen wollen. Alle vier Tiere sind Weibchen, eines ist sogar trächtig«, meinte er.
Jane nickte. »Haben Sie das extra meinetwegen auf sich genommen? Das war doch sicher gefährlich, oder?« Ungewöhnlich für Veyron, in diesem Maße an andere zu denken, staunte sie.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, das hebt vielleicht Ihre Laune ein wenig. Es ging sogar leichter als das Melken von Kühen. Die Tiere sind ausgesprochen zahm.«
Ein wenig verlegen wandte sich Jane zur Seite und schaute aus dem Fenster. So gemein und herzlos Veyron auch sein konnte, hin und wieder zeigte er doch seine guten Seiten. Ja, die Vormundschaft für Tom hatte ihn deutlich verändert. Veyron Swift war auf dem Weg, ein besserer Mensch zu werden – natürlich mit Einschränkungen.
Der Anblick eines Tiers riss sie aus ihren Gedanken. Das Geschöpf war lediglich so groß wie ein Schaf, trug ein braunes Fell und auf dem Kopf ein kleines Geweih wie ein Rehbock. Das Erstaunlichste war jedoch der kurze Rüssel auf der Schnauze. Schnell stellte sie fest, dass das seltsame Tier nicht allein war. Die halbe Steppe schien plötzlich von ihnen bevölkert zu sein. Es mussten an die zehntausend Tiere sein, die von West nach Ost zogen. Zwischen dem hohen, braunen Gras waren sie auf den ersten Blick gar nicht so leicht auszumachen. Jane schien es gutes Zeichen, dass sie endlich ein paar neue exotische Wesen Elderwelts erblickte. »Schauen Sie mal diese Tiere an. Mit was die wohl verwandt sind? Rehe oder Ziegen? Was meinen Sie?«
Veyron warf nur einen flüchtigen Blick nach draußen, dann konzentrierte er sich erneut auf seinen Notizblock. »Das sind Saiga-Antilopen«, meinte er beiläufig.
Jane blickte ihn verdutzt an. »Sie kennen diese Tiere?«
»Selbstverständlich. Saigas bevölkern die eurasische Steppe, zum Beispiel in Russland und in Kasachstan. Es wundert mich nicht, sie auch hier in Elderwelt anzutreffen.«
Jane wusste nicht, ob sie vor Scham im Boden versinken oder Veyron eine scheuern sollte. »Ja, klar. Ich bin vielleicht blöd, was?«, grummelte sie, lehnte sich zurück und blickte in eine andere Richtung.
Veyron atmete tief durch und fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Jane«, begann er, nur um dann ins Stocken zu geraten. »Jane, es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht verbessern oder gar mit meinem Wissen angeben. Im Gegenteil, ich wollte lediglich das Ihre mehren. Ich …« Er suchte wieder nach den richtigen Worten, aber irgendwie wollten sie ihm nicht einfallen.
Jane nickte und verbarg ihre Verlegenheit hinter einem Lächeln. »Ich weiß schon, was Sie meinen. Eigentlich hab ich mich über meine eigene Dummheit geärgert. Darf ich was zitieren? ›Tadle nicht den Dummen, denn er wird dich dafür hassen. Tadle den Weisen, denn er wird dich dafür lieben‹«, sagte sie.
Veyron weitete überrascht die Augen. »Die Sprüche Salomos!«, rief er aus, nur um gleich darauf noch verdutzter dreinzuschauen. Ihm fehlten regelrecht die Worte.
Jane begann zu kichern. »Tja, Sie kennen mich halt doch nicht so gut, wie Sie immer meinen. Und mal ganz ehrlich: Allein Ihr jetziger Gesichtsausdruck war das ganze Abenteuer hier wert.«
Den Rest des Tages hielt die gute Laune bei ihnen beiden an, und sie verbrachten ihn mit Gesprächen über alles Mögliche. Veyron zeigte sich sehr interessiert an Janes Privatleben und ihrer Umwelt. Als die Nacht hereinbrach, hatte sie das Gefühl, mehr erzählt zu haben als beabsichtigt. Doch sie wusste, dass Veyron ein sehr verschwiegener Mensch war, besonders was anderer Leute Privatangelegenheiten betraf. Abgesehen von Tom vielleicht würde niemals irgendjemand etwas davon erfahren. Am nächsten Morgen wartete abermals ein Riesenwollnashornmilch-Frühstück auf sie, und Veyron tat auch sonst alles, um sie zu unterhalten und ihr die Zeit zu vertreiben. Auf seinem Notizblock spielten sie zahlreiche Runden Tic Tac Toe, Mühle und Dame. Veyron baute aus Papierfitzelchen sogar winzige Schachfiguren, doch schon nach zwei Runden hatte Jane keine Lust mehr, weil Veyron stets schon nach fünf Minuten gewann.
»Das ist aussichtslos! Außer Sie lassen mich gewinnen. Aber das wäre langweilig«, sagte sie.
Veyron musste seufzend zustimmen. Also schnitt er den Figuren die Köpfe und Beine ab, bis sie alle gleich groß waren, und zeichnete rasch ein Mensch-ärgere-dich-nicht-Spielfeld auf den Block. Von da an lief es für Jane schon sehr viel besser.
Die nächste Nacht verlief so ereignislos und ruhig wie die davor. Jane konnte sogar störungsfrei durchschlafen. Als sie am Morgen erwachte, erwartete sie das inzwischen übliche Frühstück. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass sie sich dem Ende ihrer Reise näherten.
Sie verließen die Steppe und kamen in ein weites Grasland, durchzogen