Engel und Dämon. Shino Tenshi
weitergehen, sonst würden sie den Winter nicht überleben können.
„Der Winter kommt immer näher! Wenn wir es nicht bald aufhalten, dann werden wir sterben!“, erhob der nächste Einwohner seine Stimme, während der alte Mann schwer seufzte: „Ich weiß, meine Kinder. Aber wir sind machtlos. Die Götter meinen es gerade nicht gut mit uns.“
Er wollte noch etwas sagen, doch ein wütender Bürger unterbrach ihn: „Kevin! Daran ist bestimmt Kevin Schuld! Die Bestie ist erst seit dem Abend da, an dem der Junge verschwunden ist. Bestimmt hat der Bengel irgendwas getan, was die Götter erzürnt hat. Das Balg war noch nie zu irgendetwas nutze!“
„Nein! Kevin war das nicht! Er ist ein lieber Junge! Niemals würde er etwas tun, was uns schaden könnte“, widersprach die Mutter von Kevin sofort, wobei man ihr ansah, dass der Kummer auch sie gezeichnet hatte. Sie wirkte wie eine alte, schwache Frau, die mit ihren zitternden Händen verzweifelt ein Taschentuch umklammert hielt.
„Euer Vieh lebt doch noch, oder? Und das obwohl ihr so nah am Rand wohnt. Wie kommt das denn?“, schaltete sich nun ein weiterer Bewohner ein, wobei die Frau diesen verunsichert ansah und somit meldete sich der Vater zu Wort: „Das hat nichts zu bedeuten. Wir hatten einfach Glück. Aber mein Junge ist zu so etwas nicht fähig. Er kann ja nicht einmal vernünftig Holz hacken.“
„Jetzt fällt es mir wieder ein. Ich habe Kevin an dem Tag, bevor er verschwunden war, bei dem verfluchten Haus gesehen. Bestimmt ist er in der Nacht dort hinein gegangen und hat somit den Zorn des Gemäuers auf uns gezogen!“ Kaum war dieser Anklagepunkt ausgesprochen, richteten sich alle Augen voller Hass und Zorn auf die verzweifelten Eltern.
„Ihr seid an diesem Unheil Schuld! Ihr alleine! Wegen euch werden wir alle sterben! Ihr habt uns verflucht!“ Die Worte vermischten sich und die Stimmung drohte umzukippen, wodurch der Dorfälteste laut mit seinem Stock auf den Boden schlug, um die Aufmerksamkeit zurück zubekommen.
„Das Letzte, was wir jetzt noch brauchen können, ist, dass wir uns nun gegenseitig abschlachten. Wir haben keine Beweise dafür, dass Kevin das Monster ist. Aber was ich vorher sagen wollte, bevor man mich unterbrach.“ Sein Blick legte sich zornig auf den Bauern, der ihn vorhin ins Wort gefallen war. „Ich habe mit unseren Nachbardörfern geredet. Sie werden uns ein paar ihrer Vorräte abgeben, dass wir den Winter überleben können. Natürlich nicht umsonst. Ich habe ihnen versprochen, dass wir ihnen im nächsten Jahr bei den Feldarbeiten ein wenig unter die Arme greifen werden. Das ist ein geringer Preis dafür, dass wir den Winter überleben werden.“
Die Stimmung lockerte sich durch diese gute Nachricht ein wenig auf, doch der Hass blieb. Und als sich die Versammlung auflöste, wurden die verachtenden Blicke, die man den Eltern von Kevin zuwarf, nicht weniger, sondern schienen sich sogar mit Mordlust zu füllen. Sie waren für alle schuld. Sie alleine und dafür würden sie bezahlen...
Der Schnee begann mittlerweile zu schmelzen, als eine neue Familie in das Dorf kam. Sie hatten zwei Kinder, eine Tochter und einen Sohn, die ungefähr das gleiche Alter wie Kevin hatten.
Der Sohn schritt ruhig durch die Straßen des Dorfes um sich ein wenig um zu sehen. Die Blicke der Menschen bemerkte er sehr wohl. Sie waren voller Groll und Misstrauen. Keiner sprach ihn an. Jeder wandte sich ab, wenn sich ihre Augen trafen, derweil sah er nicht ganz so merkwürdig aus. Seine roten, schulterlangen Haare waren nichts Besonderes. Auch seine Kleidung bestand aus einfachem Leinenstoff, der nicht sonderbar gefärbt war.
„Von was ernährten sich die Dorfbewohner hier überhaupt?“, schoss es ihn in den Kopf, als er weder Vieh noch Ackerfelder sah und erst jetzt bemerkte er die eingefallenen Gesichter und die mageren Körper.
„Sie waren am verhungern!“, schoss es ihn voller Entsetzen in den Kopf. Warum war seine Familie nur hier her gezogen? Er begriff es immer weniger. Dieser Ort hatte nichts zu bieten. Es war nur ein trauriger Flecken Erde. Nicht mehr und auch nicht weniger. Er wollte hier nicht länger als nötig bleiben. Hoffentlich hatten das auch seine Eltern vor.
Sein Blick fiel ebenfalls auf ein Haus, das einsam in der Mitte des Dorfes stand, wobei er sich diesem langsam näherte. Es wirkte alt und verfallen, doch der Garten darum war gepflegt und gehegt. Nur die Mauer war von Efeu überwachsen und schien das Menschenwerk langsam wieder in die Natur einzufügen.
„Wer dort wohl wohnt? Er scheint das Haus ja nicht sonderlich zu mögen“, sprach er eher zu sich selbst, als er näher trat, aber bevor er das Grundstück betreten konnte, wurde er hart am Arm gepackt.
"Autsch!", verließ ein Schmerzenslaut seine Lippen, als er sich zu jenem umdrehte und in das schwache Gesicht eines Bauers sah, welches gar nicht vermuten ließ, dass so viel Kraft noch in diesem Arm steckte.
„Nicht, Junge. Das Haus ist verflucht. Niemand darf sich ihm nähern. Verstehst du? Niemand. Du würdest Unheil über dich und deine Familie bringen. Bitte, Junge, bleib davon fern.“ Die Augen des Mannes wurden flehend und sie füllten sich langsam mit Tränen, bevor er den Arm des Jungen wieder losließ und dann einen Schritt nach hinten ging.
„Sei bitte vernünftiger als er.“ Die Worte waren fast zu leise, um verstanden zu werden, allerdings gelang es dem Jungen. Jedoch noch bevor dieser etwas erwidern konnte, drehte sich der Bauer um und ging zurück an seine Arbeit.
Noch ein Mal sah der Junge zurück zu dem Haus, bevor er den Kopf schüttelte und sich abwandte. Er konnte spüren, dass etwas Unheimliches davon ausging und er wollte dies nicht erforschen. Dafür war er nicht mutig genug. Noch nie hatte er Abenteuer gesucht, sondern war froh, wenn er seine Ruhe hatte. Er wollte nirgends hineingezogen werden, sondern nur sein Leben beschreiten. Die Welt war schon grausam genug, da musste man sich nicht noch verzweifelt in jedes Problem stürzen.
Ein Seufzer schlich sich über seine Lippen, als er sich dann auf den Heimweg machte, denn schließlich musste er noch seine Sachen auspacken und irgendwie hatte ihm die Reaktion des Bauers Angst gemacht. Sein Oberarm schmerzte noch an der Stelle, an der er gepackt wurde und so strich er ein wenig darüber. Irgendwas stimmte hier nicht. War das der Grund, warum sie hierher gekommen waren? Wollten seine Eltern diesen Fluch lösen? Hoffentlich schafften sie es, denn irgendwie hatte er das Gefühl, dass es dieses Mal anders war. Bedrohlich anders...
„Und, Sebi, wie ist das Dorf so?“ Seine Schwester saß neben ihm auf dem Boden und half ihm die letzte Kiste auszupacken. Der Junge besaß nicht fiel, doch dafür hing sein Herz an seinen Sachen. Dank der häufigen Umzüge hatte er es sich angewöhnt nicht zu viel zu besitzen. Erleichterte die Sache des Ein- und Auspacken ungemein.
„Es ist tot.“ Seine Stimme war leise und deprimiert, wobei er seinen Blick senkte und kurz in seiner Handlung innehielt.
„Wieso ist es tot? Es laufen doch noch genügend Leute draußen herum. Also wie ausgestorben hat es nicht auf mich gewirkt.“ Das Mädchen lächelte und strich sich eine ihrer taillenlangen, blauen Strähnen hinters Ohr, damit sie ihr nicht im Weg umging.
„Ja, es leben noch Menschen hier, Sarah. Aber sie sind dürr, ausgehungert und schwach. Sie werden nicht mehr lange überleben. Hier gibt es nichts zu essen. Kein Tier und kein Getreide.“ Sebastian seufzte schwer und räumte schließlich eine kleine Schleuder in eines seiner Regale. Sie war das Letzte und somit war er hier eingezogen. Die Frage war nur für wie lange.
„Der Winter ist ja jetzt vorbei. Sie werden es schon schaffen. Mach dir da keine Sorgen.“ Sie winkte mit einem Lächeln ab und erhob sich schließlich, wobei sie ihr braunes Kleid glatt strich.
„Ich würde es gerne, aber da ist ein Haus.“ Sebi wollte weiter sprechen, doch seine Schwester unterbrach ihn spöttisch: „Ach wirklich? Ein Haus? Stell dir vor, in einem Dorf gibt es mehr als nur ein Haus.“
Ihr Bruder strafte sie dadurch mit einem bösen Blick, bevor er dann schwer seufzte: „Nein, so meinte ich das nicht. Als ich mich dem Gebäude nähern wollte, hielt man mich auf und warnte mich davor, dass es Unglück bringen würde. Ich frage mich, ob es an dem Leid der Bauern schuld ist.“
„Du wirst es aber nie herausfinden. Warum zerbrichst du dir dann den Kopf darüber?“ Sie sah ihn fragend an, wobei er ihren Blick verwirrt erwiderte.