Der Tunnel. Bernhard Kellermann
hatte eine Menge von Weisheit und Wissen in ihren kleinen Kopf hineingestopft, um es wieder zu vergessen. Obwohl nicht übermäßig musikalisch begabt, hatte sie sich auf dem Klavier ausgebildet und ihr Studium in München und Paris bei ersten Lehrern abgeschlossen. Sie war mit ihrer Mutter auf Reisen gewesen (der Vater war lange tot), sie hatte Sport getrieben und mit jungen Männern geflirtet wie alle jungen Mädchen. Sie hatte eine Jugendschwärmerei gehabt, an die sie heute nicht mehr dachte, sie hatte Hobby, dem Architekten, der sich um sie bewarb, einen Korb gegeben, weil sie ihn nur wie einen Kameraden lieben konnte, und sie hatte den Ingenieur Mac Allan geheiratet, weil er ihr gefiel. Noch vor ihrer Verheiratung war ihre kleine, angebetete Mutter gestorben, und Maud hatte bittere Tränen vergossen. Im zweiten Jahr ihrer Ehe hatte sie ein Kind geboren, ein Mädchen, das sie abgöttisch liebte. Das war alles. Sie war dreiundzwanzig Jahre alt und glücklich.
Während sie in einer Art von herrlicher Betäubung die Musik genoß, erblühte wie durch einen Zauber ein Reichtum von Erinnerungen in ihr, einander scheinbar willkürlich ablösend, alle sonderbar klar, alle merkwürdig bedeutungsvoll. Und ihr Leben erschien ihr plötzlich geheimnisvoll, tief und reich. Sie sah die Züge ihrer kleinen Mutter in unendlicher Vergeistigung und Güte vor sich, aber sie empfand keine Trauer dabei, nur Freude und unaussprechliche Liebe. Als weile die Mutter noch unter den Lebenden. Gleichzeitig erschien ihr eine Landschaft in den Berkshire-Hills, die sie als Mädchen häufig auf dem Rade durchquert hatte. Aber die Landschaft war voll geheimnisvoller Schönheit und von einem merkwürdigen Glänzen erfüllt. Sie dachte an Hobby, und im gleichen Augenblick sah sie ihr Mädchenzimmer, das vollgestopft mit Büchern war, vor sich. Sie sah sich selbst, wie sie am Klavier saß und übte. Aber unmittelbar darauf tauchte Hobby wieder auf. Er saß neben ihr auf einer Bank am Rande eines Tennisplatzes, der schon so dämmerig war, daß man nur die weißen Streifen der Courts noch unterscheiden konnte. Hobby hatte ein Bein übergeschlagen und klopfte mit dem Rakett auf die Spitze seines weißen Schuhs und plauderte. Sie sah sich selbst, und sie sah, daß sie lächelte, denn Hobby sprach nichts als verliebten Unsinn. Aber eine heitere, übermütige, ein wenig spöttische Passage wehte Hobby hinweg und rief ihr jenes fröhliche Picknick ins Gedächtnis zurück, bei dem sie Mac zum erstenmal gesehen hatte. Sie war zu Besuch bei Lindleys in Buffalo, und es war im Sommer. Im Wald standen zwei Autos, und sie waren im ganzen wohl ein Dutzend, Damen und Herren. Jedes einzelne Gesicht erkannte sie deutlich wieder. Es war heiß, die Herren waren in Hemdärmeln, und der Boden brannte. Nun aber sollte Tee gekocht werden und Lindley rief: „Allan, wollen Sie das Feuer anmachen?“ Und Allan antwortete: „All right!“ Und Maud schien es jetzt, als habe sie schon damals seine Stimme geliebt, seine tiefe, warme Stimme, die im Brustkorb resonierte. Da sah sie nun, wie Allan das Feuer zurechtmachte. Wie er still, unbeachtet von allen, Äste zerbrach, zerknackte, wie er arbeitete! Sie sah, wie er mit aufgestülpten Hemdärmeln vor dem Feuer kauerte und es behutsam anblies, und plötzlich entdeckte sie, daß er auf dem rechten Unterarm eine blaßblaue Tätowierung trug: gekreuzte Hämmer. Sie machte Grace Gordon darauf aufmerksam. Und Grace Gordon (dieselbe, die neulich den Eheskandal gehabt hat) sah sie erstaunt an und sagte: „Don’t you know, my dear?“ Und sie berichtete ihr, daß dieser Mac Allan der „Pferdejunge von Uncle Tom“ war und erzählte das romantische Jugenderlebnis dieses braunen, sommersprossigen Burschen. Da kauerte er, ohne sich um all die schwätzenden, fröhlichen Menschen zu kümmern, und blies das Feuer an, und sie liebte ihn in diesem Augenblick. Gewiß tat sie es, sie wußte es nur nicht, bis heute. Und Maud überließ sich nun ganz ihrem Gefühl für Mac. Sie erinnerte sich an seine merkwürdige Werbung, an ihre Trauung, die ersten Monate ihrer Ehe. Dann aber kam die Zeit, da ihr Mädchen, die kleine Edith, zur Welt kommen sollte und zur Welt kam. Nie würde sie Macs Fürsorge vergessen, jene Zärtlichkeit und Ergebenheit in dieser Zeit, die für jede Frau ein Maßstab der Liebe des Mannes ist. Es zeigte sich plötzlich, daß Mac ein fürsorgliches, ängstliches Kind war. Nie würde sie diese Zeit vergessen, in der sie sah, wie wahrhaft gut Mac war! Eine Welle von Liebe strömte durch Mauds Herz und sie schloß die Augen. Die Gesichte, die Erinnerungen versanken und die Musik trug sie fort. Sie dachte nichts mehr, sie war ganz Empfindung ...
Ein Getöse, wie von einer einstürzenden Mauer, brach plötzlich an Mauds Ohr und sie erwachte und holte tief Atem. Die Symphonie war zu Ende. Mac war schon aufgestanden und reckte sich, die Hände auf der Brüstung. Das Parkett brandete und toste.
Und Maud stand auf, ein wenig schwindlig und benommen, und begann ganz plötzlich wild zu applaudieren.
„So klatsche doch, Mac!“ jubelte sie außer sich, das Gesicht glühendrot vor Erregung.
Allan lachte über Mauds ungewöhnliche Aufregung und klatschte einigemal laut in die Hände, um ihr eine Freude zu machen.
„Bravo! Bravo!“ rief Maud mit ihrer hellen, hohen Stimme und beugte sich mit vor Erregung feuchten Augen weit über die Logenbrüstung.
Der Dirigent trocknete sich das magere, vor Erschöpfung bleiche Gesicht ab und verbeugte sich wieder und wieder. Als aber der Beifall nicht enden wollte, deutete er mit ausgebreiteten Händen auf das Orchester. Diese Bescheidenheit war offenbar geheuchelt und erweckte Allans unausrottbaren Argwohn gegen Künstler, die er nie für volle Menschen nehmen konnte und, offen herausgesagt, für unnötig hielt. Maud aber schloß sich dem neuen Beifallssturm hingerissen an.
„Meine Handschuhe sind geplatzt, sieh, Mac! Was für ein Künstler! War es nicht wunderbar?“ Ihre Lippen waren verzückt, ihre Augen leuchteten hell wie Bernstein, und Mac fand sie ungewöhnlich schön in ihrer Ekstase. Er lächelte und erwiderte, ein wenig gleichgültiger als er wollte: „Ja, das ist ein großartiger Bursche!“
„Ein Genie ist er!“ rief Maud und klatschte begeistert. „In Paris, Berlin, London habe ich nie so etwas gehört —“ Sie brach ab und wandte das Gesicht der Türe zu, denn Hobby, der Architekt, trat in ihre Loge.
„Hobby!“ schrie Maud, immer noch klatschend, denn sie wollte, wie tausend andere, den Dirigenten nochmals herausrufen. „Klatsche, Hobby, er muß nochmals heraus! Hip! Hip! Bravo!“
Hobby hielt sich die Ohren zu und ließ einen ungezogenen Gassenbubenpfiff hören.
„Hobby!“ schrie Maud. „Wie kannst du dich unterstehen!“ Und sie stampfte empört mit dem Fuß auf. In diesem Moment ließ sich der Dirigent, schweißtriefend, das Taschentuch im Nacken, nochmals sehen, und sie klatschte von neuem rasend.
Hobby wartete, bis der Lärm nachließ.
„Die Leute sind vollständig verrückt!“ sagte er dann mit einem hellen Lachen. „So etwas! Ich habe ja nur gepfiffen, um Lärm zu machen, Maud. Wie geht es dir, girl? And how are you, old chap?“
Erst jetzt hatten sie Muße, sich richtig zu begrüßen.
Die drei verband in der Tat eine aufrichtige und selten innige Freundschaft. Allan kannte recht wohl die früheren Beziehungen Hobbys zu Maud, und obwohl nie ein Wort darüber gesprochen wurde, verlieh dieser Umstand dem Verhältnis zwischen den beiden Männern besondere Wärme und einen eigenen Reiz. Hobby war noch immer ein wenig in Maud verliebt, war aber taktvoll und klug genug, es sich nie merken zu lassen. Allein Mauds sicherer weiblicher Instinkt ließ sich nicht täuschen. Sie genoß Hobbys Liebe mit leisem Triumph, der zuweilen in ihren warmen braunen Augen zu lesen war, und entschädigte ihn mit einer aufrichtigen schwesterlichen Zuneigung. Sie hatten sich alle drei in verschiedenen Lebenslagen, voller Freude, sich nützlich sein zu können, Dienste erwiesen, und besonders Allan fühlte sich Hobby gegenüber zu großem Danke verpflichtet: hatte doch Hobby ihm vor Jahren zu technischen Versuchen und zur Errichtung seiner Fabrik fünfzigtausend Dollar verschafft und für diese Summe persönliche Bürgschaft geleistet. Hobby hatte ferner in den letzten Wochen Allans Interessen vor dem Eisenbahnkönig Lloyd vertreten und das bevorstehende Rendezvous vermittelt. Hobby hätte alles für Allan getan, was überhaupt möglich war, denn er bewunderte ihn. Schon in der Zeit, da Allan nichts geschaffen hatte als seinen Diamantstahl Allanit, pflegte Hobby zu all seinen Bekannten zu sagen: „Kennen Sie übrigens Allan? Der das Allanit erfand? Nun, Sie werden noch hören von ihm!“ Die Freunde sahen einander jährlich einigemal. Die Allans kamen nach New York oder Hobby besuchte sie in Buffalo. Im Sommer verlebten sie regelmäßig drei Wochen zusammen auf