Endlich gefunden. Anna Katharine Green
Ansicht die Entführung bewerkstelligt worden ist?
Ja, und er sagte darauf: »Höchst wahrscheinlich!« Er hat auch recht, denn ich selbst habe ja die Männer in ihrem Zimmer reden hören.
Männer – in ihrem Zimmer – wann?
Es mag wohl halb ein Uhr vorbei gewesen sein. Ich schlief schon, und das Geflüster weckte mich auf.
Warten Sie, sagte ich, wo ist denn des Mädchens Zimmer und wo das Ihrige?
Ihres ist das Hinterzimmer und meines das. Vorderzimmer im dritten Stock.
Wer sind Sie selbst? Welche Stellung haben Sie bei Herrn Blake?
Ich bin die Haushälterin.
Herr Blake war nämlich Junggeselle.
Und Sie wurden letzte Nacht durch das Flüstern von Stimmen geweckt, die aus dem Zimmer jenes Mädchens zu kommen schienen?
Ja, zuerst glaubte ich, es seien die Leute im Nebenhause – wir hören sie oft, wenn sie lauter als gewöhnlich sind – aber bald war ich sicher, daß das Geräusch aus ihrem Zimmer kam. – Sie ist ein braves Mädchen, unterbrach sie sich, mir einen strengen Blick zuwerfend, als fürchte sie eine wegwerfende Aeußerung von mir, ein braveres gibt es nicht in der ganzen Stadt; hoffentlich untersteht sich niemand Anspielungen zu machen, sonst –
Ich besänftigte sie, so gut es ging. Wir nehmen als erwiesen an, daß sie treu ist wie Gold, sagte ich; nur weiter!
Wo war ich denn? fuhr sie fort, sich mit bebender Hand über die Stirne fahrend. Richtig, ich vernahm Stimmen, erschrak und eilte nach ihrer Türe. Die Räuber werden wohl das Geräusch gehört haben, das ich dabei machte. Alles war totenstill, als ich hinkam. Ich wartete einen Augenblick, dann drückte ich auf die Klinke und rief ihren Namen; sie gab keine Antwort, und ich rief wieder. Nun kam sie an die Türe, aber sie schloß nicht auf. »Was gibt es?« fragte sie. »Mir war, als hörte ich hier drinnen Stimmen,« erwiderte ich, »und die Angst hat mich hergetrieben.« »Es wird wohl nebenan gewesen sein,« gab sie zur Antwort. Ich entschuldigte mich wegen der Störung und ging in mein Zimmer zurück. Es blieb nun auch alles still; aber als wir am Morgen bei ihr eindrangen und sie nicht fanden, nur das geöffnete Fenster und alle Anzeichen des stattgefundenen Kampfes, da wußte ich, daß ich mich nicht geirrt hatte. Als ich an ihrer Türe stand, waren wirklich Männer bei ihr im Zimmer, die sie mit fortgeschleppt haben.
Diesmal konnte ich nicht an mich halten.
Glauben Sie denn, daß die Räuber das Mädchen zum Fenster hinausgeworfen haben? fragte ich.
Das nicht, aber es wird ein Anbau am Hause gemacht; die Männer können die Leiter benützt haben, die bis zum dritten Stock führt, um sie herunterzuschaffen.
Wirklich – sie scheint doch kein ganz willenloses Opfer gewesen zu sein.
Die Frau blieb stehen und hielt meinen Arm wie mit eisernem Griff umfaßt.
Ich sage Ihnen, daß ich die Wahrheit spreche, keuchte sie. Die Einbrecher, oder was sie sein mögen, haben sie fortgeschleppt. Sie ist nicht freiwillig gegangen. Todesqual hat sie ausgestanden, es war für sie ein entsetzliches Unheil, das ihr noch das Leben kosten wird, wenn sie nicht bereits tot ist. Sie wissen nicht, wovon Sie reden, Sie haben sie nie gesehen. –
War sie hübsch? fragte ich, zufrieden, daß die Frau jetzt wieder vorwartseilte, denn schon fingen die Vorübergehenden an, sich nach uns umzusehen. Die Frage schien sie förmlich zu beunruhigen.
Was soll ich darauf sagen? murmelte sie; manche mögen sie nicht für hübsch halten, in meinen Augen war sie es immer; es kam darauf an, wie man sie ansah.
Ihr Ton klang seltsam, sie schien mit sich nicht im reinen und sah starr zu Boden. Dies sonderbare Wesen erregte meinen Argwohn, und ich beschloß, ein wachsames Auge auf sie zu haben.
Wie kommt es, fragte ich, sie scharf anblickend, daß die Behörden durch Sie von dem Verschwinden des Mädchens in Kenntnis gesetzt worden sind? Weiß denn Herr Blake nichts davon?
In ihrem Benehmen ging eine merkliche Veränderung vor. Ich habe es ihm beim Frühstück mitgeteilt, erwiderte sie, aber Herr Blake kümmert sich nicht viel um seine Dienerschaft; er überläßt mir alle häuslichen Angelegenheiten.
So weiß er gar nicht, daß Sie die Polizei geholt haben?
Nein, und ich bitte Sie auch, es ihm zu verschweigen. Er mischt sich nie in solche Dinge, und braucht es nicht zu wissen. Ich werde Sie durch die Hintertür einlassen.
Wie nahm denn Herr Blake heute morgen Ihre Mitteilung auf, daß dies Mädchen – wie heißt sie eigentlich?
Emilie.
Daß diese Emilie in der Nacht verschwunden ist?
Sehr ruhig. Er saß beim Frühstück, in seine Zeitung vertieft, sah mich zerstreut an, zog die Stirne in Falten und sagte mir, ich möge die Dienstboten-Angelegenheiten besorgen, ohne ihn damit zu behelligen. Da sah ich denn, daß sich nichts weiter tun ließ und schwieg. Herr Blake ist kein Mann, den man zum zweitenmal stören darf.
Das glaubte ich ihr gern nach dem, was man in der Öffentlichkeit von seinem verschlossenen, zurückhaltenden Wesen wußte.
Wir waren jetzt nur noch wenige Häuser von dem altertümlichen Gebäude entfernt, welches jener Abkömmling der Neuyorker vornehmen Welt bewohnte. Ich ließ daher meinen Begleiter in dem nächsten Torweg warten. Auf ein verabredetes Zeichen sollte er Herrn Gryce herbeiholen, im Fall ich seine Hilfe brauchte. Dann fragte ich die Frau, deren Unruhe jetzt bei jedem Schritt wuchs, wie sie mich in das Haus zu bringen gedächte, ohne daß Herr Blake darum wisse.
Sie brauchen mir nur die Hintertreppe hinaus zu folgen, versetzte sie; er wird nichts bemerken und jedenfalls keine Fragen stellen.
Jetzt standen wir an der Seitenpforte; sie nahm einen Schlüssel aus der Tasche, schloß auf und wir traten in das Wohnhaus ein.
Zweites Kapitel.
Frau Daniels, so hieß die Haushälterin, führte mich sofort nach dem Hinterzimmer im dritten Stock. Als wir durch die Gänge und Vorsäle kamen, fiel mir die reiche Verzierung an den altertümlichen Wänden und schweren Freskodecken auf. Mein Beruf hatte mich wohl schon in manches vornehme Haus geführt, aber über eine solche Schwelle war ich doch noch nie geschritten. Törichte Empfindsamkeit ist mir fremd; trotzdem überkam mich eine förmliche Scheu, in dieser aristokratischen Behausung polizeiliche Untersuchungen anzustellen.
Kaum hatte ich jedoch das Zimmer des vermißten Mädchens betreten, so schwand jede andere Rücksicht vor meinem Forschungstrieb, meinem Ehrgeiz. Beim ersten Blick erkannte ich, daß es sich hier nicht um alltägliche Vorgänge handle, daß das Verschwinden des Mädchens von rätselhaften Umständen begleitet war. Ich will die Tatsachen in der Reihenfolge berichten, in welcher sie sich mir aufdrängten.
Die ganze Ausstattung des Zimmers paßte nicht für eine gewöhnliche Näherin. Zwar schienen die Möbel einfach im Vergleich zu dem Reichtum des übrigen Hauses, aber doch waren in dem geräumigen Gemach Luxusgegenstände genug vorhanden, um Frau Daniels Angaben über den Stand des Mädchens als sehr fragwürdig erscheinen zu lassen.
Die Haushälterin bemerkte meinen verwunderten Blick und war gleich mit einer Erklärung bei der Hand. Von jeher ist dieses Zimmer zur Näharbeit benutzt worden, sagte sie. Als Emilie kam, glaubte ich, es sei besser, hier ein Bett hineinzustellen, als sie eine Treppe höher schlafen zu lassen. Sie war ein sehr sauberes Mädchen und hat nichts in Unordnung gebracht.
Ich blickte mich um und sah die Schreibmappe auf dem Tischchen in der Mitte des Zimmers, die Vase mit den halbverwelkten Rosen auf dem Kaminsims, Shakespeares Werke und Macaulays Geschichte auf dem Eckbrett zu meiner Rechten; ich hatte dabei meine eigenen Gedanken, sagte aber nichts. Als ich nun noch genauere Umschau hielt, ward mir dreierlei klar: erstens, das Bett des Mädchens war in der letzten Nacht unberührt geblieben; zweitens, eine Art Kampf oder Ueberrumpelung mußte stattgefunden haben, denn eine der Gardinen war gewaltsam zerrissen,