Der Fisch. Gerhard Nattler

Der Fisch - Gerhard Nattler


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      Wenige Minuten später erreichten die Drei das Lager. Eine Fertighalle aus Beton zwischen Schermbeck und Wesel in einem Industriegebiet, eingerichtet mit einer Rezeption hinter Sicherheitsglas und allerlei Glücksspielgeräten, an denen die Leute aus der Umgebung ihr Geld verlieren durften. Er setzte das Auto vom Parkplatz aus rückwärts in die Einfahrt zur Halle vor die Rampe, die die Geldtransporter anfuhren. Sobald das Garagentor geschlossen war, luden sie die fünfzig Kokainbeutel und die zwei leeren Koffer, die Kris vom Don zurückerhalten hatte, auf die Rampe. Mit Hilfe seines Smartphones ließ er die für nicht eingeweihte Leute nicht auszumachende Plattform absinken. Die hundert Plastikbeutel verstaute er in einem Raum, der durch Verschieben eines Wandschranks zu begehen war. Edwin und Nana wogen die Beutel nach. Fünfhundert Gramm exakt. Er selbst nahm stichprobenartig einige Prisen aus verschiedenen Beuteln und analysierte das weiße Pulver auf Gehalt. Dazu öffnete er eine Phiole mit Testmittel, gab das Pulver hinein, verschloss das Gefäß und schüttelte. Anhand der beiliegenden Farbskale ermittelte er einen »Sehr hohen Gehalt«. Genau wie er erwartet hatte. »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser«. Dieses war ein gutes Wort von Lenin. Das zweite, was er von ihm kannte, war »Ein Mensch mit einer Waffe kann hundert Leute ohne eine Waffe kontrollieren«. Dieses Zitat war für ihn nicht weniger wichtig.

      Kapitel 8.

      Es war schon spät, als Berendtsen in die Puccinistraße einbog. Die Garage seines Nachbarn war geschlossen. Daher nahm er an, dass Franz Roloff, Chefredakteur der Ruhrzeitung, noch nicht in die Redaktion gefahren war. Die Entscheidung, ob er ihn noch stören dürfe, wurde ihm abgenommen.

      »Hallo Albert. Ich habe schon auf dich gewartet. Habt ihr viel Arbeit mit der Explosion im Schrebergarten?«

      »Wir fangen mit den Ermittlungen gerade erst an. Ich weiß noch nicht, ob es viel Arbeit wird. Wir haben einige Handyfotos von Umstehenden. Ich habe sie mir angeschaut. Für Handys nicht schlecht, aber manche sind einfach zu unscharf. Die meisten Leute haben den automatischen Blitz nicht ausgeschaltet und nicht bedacht, dass das Handy daran die Belichtung ausrichtet. Im Vordergrund ist alles hell belichtet und gestochen scharf, aber das, was uns interessiert, ist nur mit Vorbehalt zu verwenden. Lediglich ein Fotograf, der dort ein paar Tage verbringt, hat vernünftige Aufnahmen abgeliefert. So kommst du mir gerade recht. Dein Mann hat auch Aufnahmen von dem Geschehen gemacht. Könntest du mir davon einige zeigen? Ich denke, sie sind besser als die Laienfotos.«

      »Möchtest du kurz reinkommen? Ich habe die Bilder auf meinem Rechner. Du kannst sie gerne anschauen.«

      Berendtsen fiel sofort ins Auge, dass diese Bilder ein Profi gemacht hatte. Der Mann hatte neben den Aufnahmen vom Brand und Feuerwehreinsatz, die für die Zeitung vorgesehen waren, nicht vergessen, Details zu fotografieren, die nicht für eine Veröffentlichung geeignet waren. Darunter eindeutig zu identifizierende Leute, sehr derangiert in ihren Schlafgewändern mit übergeworfenen Jacken. Diese waren für Berendtsen interessant.

      »Du brauchst sie nicht sofort zu analysieren, Albert. Ich habe sie alle als Kopie gespeichert.« Er drückte ihm den Stick in die Hand. »Nimm sie mit ins Büro als Dank für die Hilfsbereitschaft.«

      »Keine Ursache. Bist du auf dem Weg in die Redaktion?«

      »Ich wollte längst dort sein, aber ich habe auf dich gewartet, damit du die Aufnahmen noch bekommst.«

      »Ganz vielen Dank, Franz. Morgen hast du wieder einen Exklusivbericht auf der ersten Lokalseite. Freue mich schon drauf.«

      »Es wird sogar auf der Seite ›Geschehen im Vest‹ abgedruckt. Ein Obolus für Leying, den Redakteur, wird wohl dabei herausspringen. Schönen Feierabend wünsche ich dir. Gruß an Irmgard.«

      »Richte ich aus.«

      »Na, mein lieber Mann, wie geht es dir? Du hattest einen anstrengenden Tag. Ich sehe es dir an. Hast du Rückenschmerzen? Du hast heute Nacht vergessen, deine Jacke anzuziehen.«

      Irmgard nahm ihn in ihre Arme und drückte ihn. Sie kannte ihren Albert und wusste, was er jetzt brauchte. Es hatte eine Leiche gegeben. Sie hatte ihn heute Nacht nicht mehr gesprochen. Er hatte in Maximilians Bett geschlafen, der wegen seines Studiums zurzeit in Aachen weilte. Sie wusste von dem Vorfall im Schrebergarten, weil er ihr eine kurze Nachricht geschrieben hatte. Sie war bereits in der Schule, als sie die Nachricht erhielt.

      Er setzte sich in seinen Sessel, lehnte sich zurück und genoss seinen Single Malt von der schottischen Insel Islay. Er hatte in jungen Jahren mit zwei Freunden eine Fahrt durch Schottland unternommen. Dabei hatten sie verschiedene Destillen besucht und deren Whisky probiert. Er bevorzugte seitdem die Sorte Laphroig. Es gab bessere, aber diese Sorten waren nichts für Whiskyliebhaber, sondern nur für Freaks, die entsprechend Geld dafür ausgaben. Mehr als sechzig Euro für eine Flasche auszugeben, um nach einem gruseligen Arbeitstag die Gedanken herunterzufahren, war er nicht bereit.

      Als Irmgard ihm einige Schnittchen hingestellt hatte, mit Gurke und Tomate verziert, entspannte sich sein Gesicht. Sie hätte gerne gewusst, wie sein Tag verlaufen war, aber sie begann das Gespräch nicht. Sie fühlte seine Stirn.

      »Ich werde mich nie daran gewöhnen«, eröffnete er die Unterhaltung. »Ich bin dreißig Jahre bei der Polizei, davon vierundzwanzig bei der Mordkommission. Die Leute lernen nie, dass sie mit Morden einer Gefängnisstrafe nicht entgehen. Wir schnappen sie früher oder später. Warum glauben manche, dass sie davonkommen? Wie oft sind Morde dazu da, eine Straftat zu vertuschen. Selbst schwere Delikte wie Bankraub oder eine Erpressung werden heute nicht so schwer bestraft wie Tötungsdelikte. Für Mord gehen sie fünfzehn Jahre hinter Gitter. Für einen Banküberfall bist du bei guter Führung nach einigen Jahren wieder draußen. Dennoch begehen Leute Morde, zum Teil an Komplizen, um die eigentliche Tat zu vertuschen. Schon bekommen sie lebenslänglich.«

      Albert besah sich die Schnittchen. »Wunderbar!«, lobte er seine Irmgard.

      »Nicht alle Morde sind Vertuschungstaten. Manche dienen anderen Zwecken, wie Erbe oder Geld oder … was auch immer«, wandte Irmgard ein.

      »Du hast recht, meine liebe Frau.« Er streichelte ihr über die Hand, die auf der Lehne ihres Sessels lag. »Wie war es in der Schule? Sind deine Schüler fleißig und tüchtig wie immer?«

      Sie lächelte ihn an. »Wenn es nur so wäre, Albert. Der Unterricht ginge zügiger voran. Aber ich kann mich nicht beklagen. Meine Kurse sind alle gut dabei. Viele Lehrer vergessen vor der Klasse ihre eigenen Schandtaten. Wenn ich daran denke, was wir uns früher ausgedacht haben … Ich denke gerade an unseren Musiktest.«

      Irmgard lächelte in sich hinein.

      »Erzähle!«

      »Ich habe es dir schon einmal erzählt. Ich glaube bereits zweimal.«

      Er drängte sie, alles noch einmal zu berichten. Die Geschichte war zu schön.

      »Unser Heinzel«, begann sie, »er hieß Heinz Ellermann, schrieb am Ende eines Schuljahres Tests, die im Grunde keinem schwerfielen. C-Dur-Akkord aufschreiben und solche Dinge. ›Wie viele Kreuze hat D-Dur?‹. Dementsprechend war niemals jemand vorbereitet. Eines Tages erfuhren wir unmittelbar vor unserer Musikstunde auf dem Schulhof, dass ›richtige‹ Fragen auf dem Test standen: ›Aufbau einer Symphonie‹. Panik! Johannes – den Hausnamen weiß ich nicht mehr – versprach Abhilfe. Der Test wurde ausgeteilt. Allerseits Schweigen. Plötzlich rief Johannes: ›Hier ist eine Maus!!‹ Er sprang auf den Stuhl und rief weiter: ›Ich schreib kein Wort mehr!« Im selben Augenblick hatten alle Schüler Angst vor der Maus. Heinzel konnte nicht verstehen, dass Schüler der zehnten Klasse Angst vor Mäusen hatten. Der Test fiel aus.«

      Beide lachten so herzhaft, als wäre der Streich heute passiert. Die Folge waren erneute Schmerzen im Rücken.

      Als Albert die Schnitten und einen zweiten Whisky genossen hatte, nahm er eine Tablette gegen die Schmerzen und berichtete auf Nachfrage von seinem Tag. Details über die verbrannte Leiche ließ er weg.

      »Hast du Fieber, Albert?« Gegen seinen Willen zog sie das Fieberthermometer hinzu. Drei Minuten


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