Der Bauch von Paris: mehrbuch-Weltliteratur. Emile Zola
endlich die geliebte, große Stadt, nach der er sich so gesehnt, nach der er so verlangt hatte, vor ihm. Hier würde er sich verbergen, hier würde er sein friedliches Leben von einst führen. Die Polizei würde nichts davon erfahren. Übrigens mußte er für sie drüben gestorben sein. Und er rief sich seine Ankunft in Le Havre ins Gedächtnis zurück, bei der er nur noch fünfzehn Francs in einem Zipfel seines Taschentuchs gefunden hatte. Bis Rouen konnte er einen Wagen nehmen. Von dort ging er zu Fuß weiter, weil ihm kaum noch dreißig Sous3 blieben. In Vernon aber kaufte er sich für seine letzten zwei Sous Brot. An das, was danach kam, konnte er sich nicht mehr erinnern. Er glaubte mehrere Stunden in einem Graben geschlafen zu haben. Einem Gendarmen hatte er die Papiere, die er sich beschafft hatte, zeigen müssen. Das alles tanzte in seinem Kopf. Ohne etwas zu essen, war er von Vernon bis hierher gekommen unter plötzlichen Wut und Verzweiflungsanfällen, die ihn dazu trieben, die Blätter der Hecken zu kauen, an denen er entlangkam; und er ging weiter, von Krämpfen und Schmerzen gepackt, den Bauch zusammengekrümmt, den Blick getrübt, die Füße, ohne sich dessen bewußt zu sein, wie angezogen von jener Vision von Paris, das weit, ganz weit hinter dem Horizont, ihn rief, ihn erwartete. Als er in Courbevoie anlangte, war es stockfinstere Nacht. Paris, das einem Stück bestirnten Himmels glich, der auf eine Ecke der schwarzen Erde herabgefallen war, kam ihm streng vor und gleichsam erzürnt über seine Rückkehr. Da befiel ihn Schwäche, und die Beine wie zerschlagen, ging er die Höhe hinunter. Als er den Pont de Neuilly überquerte, lehnte er sich auf das Geländer, beugte sich über die Seine, die tintenschwarze Wogen zwischen den dichten Massen der Ufer dahinwälzte; eine rote Schiffslaterne über dem Wasser sah ihn mit blutendem Auge nach. Jetzt mußte er bergauf, um Paris ganz da oben zu erreichen. Unermeßlich erschien ihm die Straße. Die Hunderte von Meilen, die er zurückgelegt hatte, waren nichts; dieses Wegstück brachte ihn zur Verzweiflung. Niemals würde er diesen von jenen Lichtern gekrönten Gipfel erreichen. Glatt dehnte sich die Straße mit ihren Reihen großer Bäume und niedriger Häuser, den breiten, grauen, vom Schatten der Zweige gefleckten Bürgersteigen, den düsteren Löchern der Querstraßen, all ihrer Stille und all ihrer Finsternis; und allein die in regelmäßigen Abständen aufgereckten Gaslaternen belebten mit ihren kurzen gelben Flämmchen diese Öde des Todes. Florent kam nicht mehr von der Stelle; die Straße wurde immer länger und rückte Paris weiter zurück in die Tiefe der Nacht. Es schien ihm, als liefen die Gaslaternen mit ihrem einen Auge rechts und links davon und trügen die Straße mit fort. Er taumelte in diesem Wirbel; wie eine leblose Masse sackte er auf dem Pflaster zusammen.
Jetzt rollte er sanft auf diesem Lager von Grünzeug dahin, das ihm weich wie Federn vorkam. Er hatte das Kinn ein wenig gehoben, um den leuchtenden, immer mehr zunehmenden Dunst über den schwarzen Dächern zu sehen, die er am Horizont ahnte. Er kam an, er wurde getragen, er brauchte sich nur den langsamer werdenden Stößen des Wagens zu überlassen, und bei diesem mühelosen Näherkommen litt er nur noch unter dem Hunger. Der Hunger war wieder erwacht, unerträglich, grausam. Seine Glieder schliefen; er spürte nur, wie sich sein Magen um und um drehte und wie von glühenden Zangen zerrissen wurde. Der frische Duft des Gemüses, in das er versunken war, dieser scharfe Geruch der Möhren ließ ihn fast ohnmächtig werden. Mit aller Kraft preßte er die Brust gegen dieses tiefe Bett von Nahrung, um seinen Magen abzuschnüren, um ihn am Schreien zu hindern. Und hinter ihm die neun anderen Fuhrwerke mit ihren Bergen von Kohl, ihren Bergen von Schoten, ihren Haufen von Artischocken, Salat, Sellerie und Porree schienen langsam auf ihn zuzurollen und ihn in seinem Ringen mit dem Hungertode wie unter einer Lawine von Fraß begraben zu wollen.
Plötzlich gab es einen Aufenthalt, ein Lärmen grober Stimmen: das war der Schlagbaum. Die Zollbeamten untersuchten die Wagen.
Dann zog Florent auf den Rüben in Paris ein, seiner Sinne nicht mächtig, die Zähne zusammengepreßt.
»He! Sie, Mann, da oben!« schrie Frau François barsch. Und da er sich nicht rührte, stieg sie hinauf und rüttelte ihn.
Florent setzte sich auf. Er hatte geschlafen und spürte seinen Hunger nicht mehr; er war völlig abgestumpft.
Die Gemüsebäuerin ließ ihn herunterkommen und sagte zu ihm: »Sie werden mir abladen helfen, ja?«
Er half ihr.
Ein dicker Mann mit Stock und Filzhut, der am linken Mantelaufschlag ein Schildchen trug, wurde ungehalten und stieß mit der Spitze seines Stocks auf den Bürgersteig.
»Los doch, los doch! Ein bißchen schneller! Lassen Sie den Wagen vorfahren ... Wie viele Meter haben Sie? Vier, nicht wahr?« Er händigte Frau François, die ein paar Zweisousstücke aus einem kleinen Leinenbeutel hervorholte, einen Schein aus und ging etwas weiter, um dort ungehalten zu werden und mit dem Stock aufzustoßen.
Die Gemüsebäuerin hatte Balthasar am Zaum genommen, ihn zurückgedrängt und den Wagen mit den Rädern dicht an den Bürgersteig geschoben. Nachdem sie ihre vier Meter auf dem Bürgersteig mit Strohbüscheln abgesteckt hatte, hob sie das Brett hinten am Wagen heraus und bat dann Florent, ihr das Gemüse Bund für Bund zuzureichen. Sie stapelte es ordentlich auf dem Pflaster, putzte die Ware, verteilte die Blätter so, daß ein Streifen Grün die Haufen umrahmte, und richtete mit einzigartiger Behendigkeit eine ganze Auslage her, die im Dunkeln einer Stickerei mit symmetrisch verteilten Farben glich. Als ihr Florent ein großes Bund Petersilie reichte, das er hinten gefunden hatte, bat sie ihn um noch einen Gefallen.
»Es wäre sehr nett von Ihnen, wenn Sie auf meine Ware aufpassen würden, während ich den Wagen unterstellen gehe ... Es sind zwei Schritt von hier, im ›Compas d'Or‹4 in der Rue Montorgueil.«
Er versicherte ihr, sie könne unbesorgt sein. Die Bewegung war nicht gut für ihn; seit er sich rührte, fühlte er, wie sein Hunger wieder erwachte. Er setzte sich mit dem Rücken an einen Haufen Kohl neben der Ware von Frau François, sagte sich, daß er es hier aushalten, daß er sich nicht mehr regen, daß er abwarten würde. Sein Kopf kam ihm ganz leer vor, und er konnte sich nicht deutlich erklären, wo er sich befand. Von den ersten Septembertagen an ist es frühmorgens ganz dunkel. Die Laternen um ihn herum blakten sanft und drangen nicht durch die Finsternis. Er saß am Rande einer breiten Straße, die er nicht wiedererkannte. Weit weg versank sie in der stockdunklen Nacht. Außer der Ware, die er bewachte, konnte er kaum etwas unterscheiden. Drüben türmten sich längs der Steinplatten undeutliche Haufen. In der Mitte des Fahrdamms versperrten grau wirkende Umrisse von großen zweirädrigen Karren die Straße; und ein Schnaufen, das vorüberstrich, ließ von einem Ende zum andern eine Reihe von angeschirrten Tieren ahnen, die nicht zu sehen waren. Zurufe, der Lärm, wenn ein Stück Holz oder eine Eisenkette aufs Pflaster fiel, der dumpfe Lawinenrutsch einer Wagenladung Gemüse, das letzte Rücken eines Wagens, der an die Bordschwelle stieß, brachten in die noch schlafende Luft das sanfte Raunen eines dröhnenden und ungeheuren Erwachens, das man in der Tiefe dieses bebenden Dunkels herannahen fühlte. Als sich Florent umwandte, gewahrte er an der andern Seite seiner Kohlköpfe einen Mann, der, den Kopf auf einem Korb Pflaumen, wie ein Paket in einen Mantel eingewickelt, dalag und schnarchte. Mehr in seiner Nähe erkannte er links ein Kind von ungefähr zehn Jahren, das mit dem Lächeln eines Engels in einer Kuhle zwischen zwei Bergen von Schikoree eingeschlummert war. Und außer den Laternen am Rande des Bürgersteigs, die am Ende unsichtbarer Arme tanzten und über den Schlaf der da herumliegenden Menschen und Gemüsehaufen, die auf den Tag warteten, mit einem Satz hinwegsprangen, war noch nichts richtig wach. Aber was ihn in Erstaunen setzte, waren riesige Hallen zu beiden Seiten der Straße, deren übereinandergetürmte Dächer immer größer zu werden, sich auszudehnen und sich in einem zerstiebenden Schimmer zu verlieren schienen. Sein entkräfteter Geist träumte von einer Reihe unermeßlicher und ebenmäßiger Paläste von kristallener Schwerelosigkeit, die auf ihren Fassaden tausend Flammenstreifen sich unendlich fortsetzender Jalousien entzündeten. Zwischen den schmalen Pfeilern bildeten diese dünnen gelben Stäbe Leitern von Licht, die bis zu der dunklen Linie der ersten Dächer emporstiegen, die darauf gehäuften oberen Dächer erklommen und die großen Gerippe unendlicher Räume in ihrer Vierschrötigkeit sehen ließen, wo unter dem gelben Schein der Gasflammen ein Durcheinander von grauen, verschwommenen und schlafenden Gestalten herumlag. Er wandte den Kopf, ärgerlich darüber, daß er nicht wußte, wo er sich befand, beunruhigt durch diese kolossale und hinfällige Erscheinung; und als er aufblickte, gewahrte er das beleuchtete Zifferblatt von SaintEustache und die graue Masse der Kirche. Das verwunderte