Der Bauch von Paris: mehrbuch-Weltliteratur. Emile Zola
wieder. Er hatte den Kopf voll von Geschichten über die Polizei, über Spitzel, die an jeder Straßenecke lauerten, über Weiber, die armen Teufeln Geheimnisse entlockten und für Geld preisgaben. Sie saß ganz dicht bei ihm und wirkte mit ihrem großen ruhigen Gesicht, das ein schwarzgelbes Seidentuch über der Stirn straff umspannte, durchaus rechtschaffen auf ihn. Sie mochte etwa fünfunddreißig Jahre alt sein, war ein bißchen stark, aber schön infolge ihres Lebens in der frischen Luft; ihre Robustheit wurde durch die wohlwollende Zärtlichkeit ihrer schwarzen Augen gemildert. Sie war sicherlich sehr neugierig, aber mit einer Neugier, die völlig gutmütig zu sein schien.
Ohne Florents Schweigen übelzunehmen, fuhr sie fort:
»Ich hatte in Paris einen Neffen. Er ist nicht gut eingeschlagen, ist freiwillig zu den Soldaten gegangen ... Immerhin, es ist gut, wenn man weiß, wo man bleiben kann. Ihre Angehörigen werden wohl sehr überrascht sein, Sie zu sehen. Und das ist eine Freude, wenn einer wiederkommt, nicht wahr?« Beim Reden ließ sie ihn nicht aus den Augen; zweifellos hatte sie Mitleid mit seiner entsetzlichen Magerkeit, fühlte, daß unter seinen jämmerlichen schwarzen alten Sachen ein »Herr« steckte, und wagte nicht, ihm eine Silbermünze in die Hand zu drücken. Schließlich meinte sie schüchtern: »Wenn Sie inzwischen irgend etwas brauchen sollten ...«
Aber er lehnte mit unruhigem Stolz ab, sagte, er habe alles, was er brauche, und wisse, wo er hingehen könne.
Sie schien froh darüber und wiederholte mehrmals, wie um sich selber über sein Schicksal zu beruhigen:
»Nun ja, dann brauchen Sie ja bloß zu warten, bis es Tag wird.«
Über Florents Kopf begann eine mächtige Glocke an der Ecke der Obsthalle zu läuten. Ihre langsamen und regelmäßigen Schläge schienen nach und nach den auf den Steinplatten herumliegenden Schlaf zu verscheuchen. Es trafen immer noch Wagen ein; die Rufe der Fuhrleute, das Knallen der Peitschen, das Zermalmen des Pflasters unter den eisenbeschlagenen Rädern und den Hufen der Pferde – das alles schwoll an; die Wagen kamen nur noch ruckweise vorwärts, bildeten eine Reihe, erstreckten sich, weiter als der Blick reichte, in grauen Gliedern, aus denen verworrenes Getöse aufstieg. Die ganze Rue du PontNeuf entlang wurde abgeladen, wobei die Karren mit dem Hinterteil gegen die Rinnsteine stießen und die Pferde reglos und dicht nebeneinander aufgestellt wie beim Viehmarkt dastanden. Florent fiel ein riesiger, mit Kot bespritzter Wagen auf, der mit prächtigem Kohl beladen war und sich nur mit großer Mühe an den Bürgersteig zurückschieben ließ; die Fuhre überragte eine unheimlich lange Gaslaterne, die daneben aufgestellt war und deren volles Licht auf den Haufen großer Blätter fiel, die umgeschlagen waren wie Rockschöße aus zugeschnittenem und gaufriertem grobem grünem Samt. Ein Bauernmädchen von etwa sechzehn Jahren in kurzer Jacke und blauer Leinenhaube, das auf den Karren geklettert war und dem der Kohl bis zu den Schultern reichte, ergriff die Köpfe einen nach dem andern und warf sie jemand unten zu, den das Dunkel verbarg. Hin und wieder verlor sich die Kleine unter dieser Lawine, in der sie untertauchte, ausglitt und verschwand; dann erschien ihr rosiges Näschen wieder inmitten des dichten Grüns, und die Kohlköpfe begannen von neuem zwischen der Gaslaterne und Florent vorbeizufliegen. Mechanisch zählte er sie. Als der Wagen leer war, verdroß ihn das.
Auf dem Pflaster erstreckten sich jetzt die abgeladenen Haufen bis zum Fahrdamm. Zwischen den einzelnen Haufen sparten die Gemüsebauern enge Pfade aus, damit die Leute durchgehen konnten. Der ganze breite Bürgersteig war von einem Ende zum andern mit den dunklen Gemüsehöckern bedeckt. In dem jähen und ungleichmäßigen Licht der Laternen war zunächst nur die fleischige Blütenpracht eines Bündels Artischocken, das zarte Grün von Salaten, das Korallenrot der Möhren, das matte Elfenbein der Kohlrüben zu sehen; und dieses Aufblitzen lebhafter Farben lief unter den Laternen die Haufen entlang. Der Bürgersteig hatte sich belebt; eine Menschenmenge erwachte und erging sich, redend, rufend, stehenbleibend, zwischen den Waren. Von weitem rief eine laute Stimme: »He! Schikoree!« Soeben waren die Gittertore der Halle für Grobgemüse geöffnet worden. In weißer Haube und über dem schwarzen Mieder geknotetem Brusttuch, die Röcke aufgeschürzt und mit Nadeln befestigt, um sich nicht zu beschmutzen, deckten die Händlerinnen dieser Halle ihren Tagesbedarf und beluden mit ihren Einkäufen die großen, auf der Erde stehenden Kiepen der Träger. Inmitten von zusammenstoßenden Köpfen, von Schimpfworten, des Lärms von Stimmen, die sich heiser schrien beim viertelstundenlangen Feilschen um einen Sou, wurde das Hin und Her von Kiepen zwischen Halle und Fahrdamm stärker. Und Florent wunderte sich über die Ruhe der Gemüsebäuerinnen mit ihren halbseidenen Kopftüchern und ihrer sonnenverbrannten Haut in diesem schwatzhaften Gezänk der Markthallen.
Hinter ihm wurde auf dem Pflaster der Rue Rambuteau Obst verkauft. Reihen von Körben mit und ohne Henkel standen ausgerichtet da, mit Stroh oder Leinwand zugedeckt; und es roch nach überreifen Mirabellen. Eine sanfte und ruhige Stimme, die er schon eine Weile hörte, ließ ihn den Kopf wenden. Er erblickte eine entzückende kleine brünette Frau, die auf der Erde saß und feilschte.
»Nun sag schon, Marcel, verkaufst du's für hundert Sous?«
Der in seinen Mantel vergrabene Mann gab keine Antwort, und nach fünf langen Minuten begann die junge Frau wieder:
»Also, Marcel, hundert Sous für diesen Korb hier und vier Francs für den andern macht zusammen neun Francs, die du zu bekommen hast?«
Erneut trat Schweigen ein.
»Was hast du nun also zu bekommen?«
»Ach was! Zehn Francs! Du weißt es doch; ich habe es dir bereits gesagt ... Und dein Jules, was machst du mit ihm, Sarriette?«
Die junge Frau lachte auf und holte eine große Handvoll Geld hervor.
»Ach!« entgegnete sie. »Der schläft bis in den hellichten Tag ... Er behauptet, daß die Männer nicht zum Arbeiten geschaffen sind.« Sie bezahlte und trug die beiden Körbe in die Obsthalle, die eben geöffnet wurde.
Die Markthallen bewahrten ihre schwarze Schwerelosigkeit mit den tausend Flammenstreifen der Jalousien; Leute zogen durch die breiten, überdachten Straßen, während die weiter entfernten Hallen inmitten des zunehmenden Gewimmels auf den Bürgersteigen menschenleer blieben. An der Pointe SaintEustache nahmen die Bäcker und Weinhändler ihre Fensterläden ab; längs der grauen Häuser wirkten die roten Kaufläden mit ihren brennenden Gaslampen wie Löcher in der Finsternis. Florent betrachtete links in der Rue Montorgueil eine Bäckerei, die ganz angefüllt und ganz vergoldet war mit frischem Gebäck, und er glaubte geradezu den guten Duft des warmen Brotes zu spüren. Es war halb fünf.
Inzwischen war Frau François ihre Ware losgeworden. Es blieben ihr noch einige Bund Möhren, als Lacaille mit seinem Sack wieder erschien.
»Na, geht es für einen Sou?« fragte er.
»Ich war sicher, daß Sie noch einmal zurückkommen«, antwortete die Frau ruhig. »Also nehmen Sie meinen Rest. Es sind siebzehn Bund.«
»Das macht siebzehn Sous?«
»Nein, vierunddreißig.«
Sie einigten sich auf fünfundzwanzig. Frau François wollte nach Hause. Als sich Lacaille mit den Möhren in seinem Sack entfernt hatte, sagte sie zu Florent:
»Sehen Sie, er hat mir aufgelauert. Auf dem ganzen Markt feilscht er herum, ohne etwas zu kaufen; manchmal wartet er bis zum letzten Glockenschlag, um für vier Sous Ware zu erstehen ... Ach, diese Pariser! Die streiten sich wegen eines halben Sous und gehen dann zum Weinausschank ihr ganzes Geld versaufen.«
Wenn Frau François über Paris sprach, war sie voller Spott und Geringschätzung; sie behandelte es als eine weit entlegene, durch und durch lächerliche und verachtungswürdige Stadt, in die sie nur nachts den Fuß zu setzen gesonnen war.
»Jetzt kann ich fortgehen«, redete sie weiter und setzte sich wieder neben Florent auf das Gemüse einer Nachbarin.
Florent senkte den Kopf, er hatte eben einen Diebstahl verübt. Als Lacaille davongegangen war, hatte er auf dem Erdboden eine Möhre liegen sehen. Er hatte sie aufgehoben und hielt sie in seiner rechten Hand umklammert. Hinter ihm verströmten Selleriebündel und Petersilienhaufen verwirrende Gerüche, die ihn an der Kehle packten.
»Ich