Der Bauch von Paris: mehrbuch-Weltliteratur. Emile Zola

Der Bauch von Paris: mehrbuch-Weltliteratur - Emile Zola


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»dieses lumpige Gemüse« überspannt, toll, erhaben. Und er behauptete, es sei nicht tot; am Abend vorher ausgerissen, erwarte es die Sonne des nächsten Tages, um ihr auf dem Pflaster der Markthallen Lebewohl zu sagen. Er sah es leben, seine Blätter öffnen, als steckten seine Wurzeln noch ruhig und warm in der gedüngten Erde. Er sagte, er höre hier das Röcheln aller Gemüsegärten im Weichbild der Stadt. Inzwischen erfüllte die Menge weißer Hauben, schwarzer Mieder und blauer Kittel die engen Durchgänge zwischen den Haufen. Das Ganze war ein summendes Feld. Schwer schwankten die großen Kiepen der Lastträger über den Köpfen. Die Hökerinnen, die Straßenhändler und die Obstverkäufer kauften ein und hatten es eilig. Korporale und Gruppen von Nonnen umstanden die Berge von Kohl, während Internatsköche umherschnüffelten und einen guten Fund suchten. Immer noch wurde abgeladen; die Fuhrwerke warfen ihre Ladung auf die Erde wie eine Ladung Pflastersteine und gossen eine neue Woge zu den anderen Wogen, die jetzt an den gegenüberliegenden Bürgersteig brandeten. Und hinten aus der Rue du PontNeuf trafen unaufhörlich Wagenzüge ein.

      »Das ist trotz allem verwegen schön«; murmelte Claude verzückt.

      Florent litt. Wie eine übermenschliche Versuchung kam ihm das vor. Er wollte nichts mehr sehen; er betrachtete die Kirche SaintEustache, die schräg vor ihm stand, wie mit Sepia10 auf das Blau des Himmels getuscht mit ihren Rosetten und breiten Bogenfenstern, ihrem Glockenturm und ihren Schieferdächern. Er verweilte beim dunklen Einschnitt der Rue Montorgueil, wo Enden von schreienden Schildern aufblitzten, und bei der stumpfen Ecke der Rue Montmartre, deren mit goldenen Buchstaben überladene Balkons glänzten. Und als er sich wieder der Straßenkreuzung zuwandte, bestürmten ihn weitere Schilder, wie »Drogerie und Apotheke«, »Mehl und Dörrgemüse«, mit dicken roten und schwarzen Großbuchstaben auf verschossenem Grund. Die winkligen Häuser mit schmalen Fenstern erwachten nun und fügten in das breite Straßenbild der neuen Rue du PontNeuf einige gelbe und schöne alte Fassaden des Paris von einst. An der Ecke der Rue Rambuteau standen in den leeren Schaufenstern des großen Neuheitenwarenhauses gutgekleidete Handlungsgehilfen in Weste mit ihren enganliegenden Hosen und ihren breiten blendenden Manschetten und ordneten die Auslage. Weiter weg stellte die Firma Guillot, streng wie eine Kaserne, hinter ihren Fensterscheiben goldgelbe Biskuitpäckchen und Kompottschalen voller Petitfours zur Schau. Alle Läden waren geöffnet. Arbeiter in weißen Kitteln, die ihr Werkzeug unter dem Arm hielten, beschleunigten ihre Schritte und überquerten die Straße.

      Claude war noch immer nicht von seiner Bank heruntergestiegen. Er reckte sich hoch, um bis hinten in die Straßen zu sehen. In der Menge, die er überschaute, gewahrte er einen blonden Kopf mit üppigem Haar, dem ein ganz krauses und zerzaustes schwarzes Köpfchen folgte.

      »He! Marjolin! He! Cadine!« rief er. Und da sich seine Stimme in dem Getümmel verlor, sprang er von der Bank herunter und lief davon. Dann fiel ihm ein, daß er Florent vergessen hatte. Mit einem Satz war er wieder zurück und sagte rasch: »Das letzte Haus der Impasse des Bourdonnais, Sie wissen ja ... Mein Name ist mit Kreide an die Tür geschrieben, Claude Lantier ... Kommen Sie hin und sehen Sie sich die Radierung von der Rue Pirouette an.«

      Er verschwand. Er wußte nicht Florents Namen. Wie er ihn aufgegriffen am Rande eines Bürgersteigs, so verließ er ihn, nachdem er ihm erklärt hatte, was er als Künstler bevorzugte.

      Florent war allein. Er fühlte sich zunächst glücklich in dieser Verlassenheit. Seit ihn Frau François in der Avenue de Neuilly aufgelesen hatte, ging er vor sich hin in einem Zustand von Schlaftrunkenheit und Leiden, der ihm die genaue Vorstellung der Dinge entzog. Er war endlich frei, er wollte sich schütteln, diesen unerträglichen riesenhaften Nahrungstraum abschütteln, von dem er sich verfolgt fühlte. Aber sein Kopf blieb leer; er vermochte in seinem Innern nur eine dumpfe Angst wiederzufinden. Es wurde immer heller, man konnte ihn jetzt sehen. Er betrachtete den jämmerlichen Zustand seiner Hose und seines Überziehers. Er knöpfte den Überzieher zu, klopfte den Staub von der Hose, versuchte sich ein wenig herzurichten und glaubte dabei zu hören, wie diese schwarzen Lumpen ganz laut erzählten, wo er herkam. Er saß in der Mitte der Bank neben armen Teufeln, Herumtreibern, die dort gestrandet waren und auf die Sonne warteten. Die Nächte in den Markthallen sind wohltuend für die Vagabunden. Zwei Schutzleute, noch in Nachtuniform mit Umhang und Käppi, gingen, die Hände auf dem Rücken, auf dem Bürgersteig hin und her. Jedes Mal, wenn sie an der Bank vorbeikamen, warfen sie einen Blick auf das Wild, das sie hier witterten. Florent bildete sich ein, daß sie ihn erkannten, daß sie schon zu Rate gingen, um ihn zu verhaften. Da packte ihn die Angst. Es überkam ihn ein wahnsinniges Verlangen, aufzustehen und davonzulaufen. Aber er wagte es nicht mehr; er wußte nicht, wie er sich aus dem Staube machen sollte. Und die regelmäßigen Blicke der Schutzleute, dieses langsame und kalte Examinieren der Polizei, spannten ihn auf die Folter. Endlich verließ er die Bank, an sich haltend, um nicht mit der ganzen Länge seiner großen Beine zu fliehen, Schritt für Schritt sich entfernend und die Schultern einziehend in dem Entsetzen, die rohen Hände der Schutzleute zu spüren, die ihn von hinten am Kragen packten.

      Er hatte nur noch einen Gedanken, nur noch ein Bedürfnis: fortzukommen von den Markthallen. Er würde abwarten, würde später noch suchen, wenn die Straße frei war. Die drei Straßen an der Kreuzung, die Rue Montmartre, die Rue Montorgueil und die Rue Turbigo, beunruhigten ihn. Sie waren mit Wagen aller Art verstopft. Gemüse bedeckte die Bürgersteige. Er ging also geradeaus bis zur Rue PierreLescot, wo ihm der Kresse und der Kartoffelmarkt undurchdringlich erschienen. Er zog es vor, die Rue Rambuteau hinunterzugehen; aber am Boulevard Sébastopol stieß er auf einen derartigen Wirrwarr von Rollwagen, Karren und Breaks11, daß er zurückging, um in die Rue SaintDenis einzubiegen. Dort geriet er wieder in das Gemüse. Auf beiden Seiten hatten die Markthändler gerade ihre Stände aus auf hohe Körbe gelegten Brettern errichtet, und die Sintflut von. Kohl, Möhren und Kohlrüben begann von neuem. Die Hallen flossen über. Er trachtete aus dieser Woge herauszukommen, die ihn in seiner Flucht einholte. Er versuchte es mit der Rue de la Cossonnerie, der Rue Berger, dem Square des Innocents, der Rue de la Ferronnerie und der Rue des Halles. Und er blieb stehen, entmutigt, verstört, weil er sich aus diesem Teufelsreigen von Kraut nicht zu befreien vermochte, der schließlich um ihn herumtanzte und mit seinem feinen Grün seine Beine umschlang. In der Ferne verloren sich bis zur Rue de Rivoli, bis zum Place de l'HôteldeVille hin endlose Züge von Rädern und vorgespannten Tieren in dem Durcheinander der Waren, die aufgeladen wurden. Große Rollwagen schafften den Einkauf der Obsthändler eines ganzen Viertels weg; Breaks, deren Seitenwände krachten, fuhren in die Außenbezirke ab. In der Rue du PontNeuf verirrte er sich vollends. Er stolperte mitten in einen Abstellplatz für Handwagen hinein; Straßenhändler richteten hier ihre fliegenden Stände her. Unter ihnen erkannte er Lacaille, der, eine Karre voll Möhren und Blumenkohl vor sich her schiebend, in die Rue SaintHonoré einbog. Florent folgte ihm in der Hoffnung, daß er ihm helfen werde, aus dem Gewühl herauszukommen. Das Pflaster war glitschig geworden, obwohl trockenes Wetter herrschte: Haufen von Artischockenstielen, welken Blättern und Stengeln machten die Fahrbahn gefährlich. Bei jedem Schritt strauchelte er. Er verlor Lacaille in der Rue Vauvilliers. Bei der Getreidehalle waren die Straßenenden durch ein neues Hindernis von Fuhrwerken und Karren versperrt. Er versuchte nicht mehr dagegen anzukämpfen; die Markthallen hatten ihn wieder eingefangen, die Woge trug ihn zurück. Langsam kehrte er um und fand sich erneut an der Pointe Saint Eustache.

      Jetzt vernahm er ein anhaltendes Rollen, das von den Markthallen ausging. Paris zerkaute die Bissen für seine zwei Millionen Einwohner. Es war, als schlage ein mächtiges Herz wie rasend und schleudere das Blut des Lebens in alle Adern. Geräusch riesiger Kinnladen, polternder Lärm der Nahrungsbeschaffung, vom Peitschenknallen der zu den Märkten der Stadtviertel aufbrechenden Großhändler bis zu den schlürfenden Schlappen der armen Frauen, die von Tür zu Tür gehen, um aus Körben Salatköpfe anzubieten.

      Er betrat eine überdachte Straße links in der Gruppe der vier Hallen, deren großen schweigenden Schatten er in der Nacht bemerkt hatte. Er hoffte, sich dorthin zu flüchten, dort irgendeinen Schlupfwinkel zu finden. Aber um diese Stunde waren sie erwacht wie die andern. Er ging bis ans Ende der Straße. Im Trab kamen kleine Rollwagen angefahren und überfüllten den Markt von La Vallée mit Käfigen voll lebendem Geflügel und viereckigen Körben, in denen totes Geflügel eng aufeinandergeschichtet war. Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig luden andere Rollwagen ganze Kälber aus, die in ein Tuch gewickelt waren und der Länge


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