Der Bauch von Paris: mehrbuch-Weltliteratur. Emile Zola
mit einem Mann, der einen Sack auf der Schulter trug und ihr für ihre Möhren einen Sou für das Bund zahlen wollte.
»Hören Sie, Sie sind wohl nicht bei Trost. Lacaille ... Sie verkaufen sie für vier und fünf Sous an die Pariser weiter, streiten Sie das nicht ab ... Für zwei Sous, meinetwegen.« Und als der Mann ging, fuhr sie fort: »Die Leute glauben, das wächst von selber, wahrhaftig ... Soll er ich Möhren für einen Sou suchen, dieser versoffne Lacaille ... Passen Sie auf, er kommt zurück«, wandte sie sich an Florent. Sich neben ihn setzend, redete sie dann weiter: »Sagen Sie mal, wenn Sie lange von Paris fort waren, kennen Sie vielleicht die neuen Markthallen noch gar nicht? Es ist ja höchstens fünf Jahre her, daß sie gebaut wurden ... Da, sehen Sie, das neben uns ist die Blumen und Obsthalle, etwas weiter die für Seefische, die für Geflügel und dahinter die für Grobgemüse, für Butter und Käse ... Sechs Hallen sind auf dieser Seite und dann gegenüber auf der anderen Seite noch vier – für Fleisch, für Kaldaunen – und La Vallée5... Alles sehr groß, aber im Winter schauderhaft kalt. Sie wollen ja noch zwei Hallen bauen und die Häuser bei der Getreidehalle abreißen. Kannten Sie das alles schon?«
»Nein«, antwortete Florent. »Ich war im Ausland ... Und diese große Straße, die hier vor uns, wie heißt die?«
»Das ist eine neue Straße, die Rue du PontNeuf, die von der Seine ausgeht und bis hierher, bis zur Rue Montmartre und zur Rue Montorgueil, führt ... Wenn es Tag wäre, würden Sie sich gleich zurechtfinden.« Sie stand auf, weil sie eine Frau sah, die sich über ihre Kohlrüben beugte. »Ach, Sie sind es, Mutter Chantemesse?« sagte sie freundlich.
Florent blickte die Rue Montorgueil hinunter. Dort war es, wo ihn in der Nacht vom 4. Dezember ein Trupp Schutzleute festgenommen hatte. Er war gegen zwei Uhr den Boulevard Montmartre mitten in der Menge gemächlich hinuntergegangen und hatte über alle diese Soldaten gelächelt, die das Elysée6 auf der Straße herumspazieren ließ, damit man es ernst nehme, als plötzlich die Soldaten rücksichtslos innerhalb einer Viertelstunde die Straße räumten. Gestoßen und zu Boden geworfen, fiel er an der Ecke der Rue Vivienne hin; und er wußte nichts mehr. In entsetzlicher Angst vor den Schüssen stürzte die wahnsinnig gewordene Menge über ihn hinweg. Als er nichts mehr hörte, wollte er sich aufrichten. Auf ihm lag eine junge Frau mit einem rosa Hütchen, deren Schal herabgeglitten war und ein in kleine Falten gelegtes Brusttuch sehen ließ. Oberhalb des Busens hatten zwei Kugeln das Brusttuch durchschlagen; und als er sanft die junge Frau wegschob, um seine Beine freizubekommen, flossen aus den Löchern zwei dünne Fäden Blut auf seine Hände. Da sprang er mit einem Satz auf und lief wie besessen ohne Hut und mit nassen Händen davon. Bis zum Abend streifte er kopflos umher und sah immerzu die junge Frau quer über seinen Beinen liegen mit ihrem ganz bleichen Gesicht, ihren großen blauen offenen Augen, ihren schmerzlichen Lippen und ihrem Erstaunen, so schnell gestorben zu sein. Er war schüchtern; mit dreißig Jahren wagte er nicht, Frauen ins Gesicht zu sehen, und bewahrte diese hier für sein Leben in seinem Gedächtnis und seinem Herzen. Es war gleichsam eine Frau, die ihm gehörte und die er verloren hatte. Am Abend fand er sich, ohne zu wissen wie, noch erschüttert von den schrecklichen Ereignissen des Nachmittags, in der Rue Montorgueil, in einem Weinausschank, wo Männer tranken und dabei vom Barrikadenbauen sprachen. Er ging mit ihnen, half ein paar Pflastersteine herausreißen und setzte sich, müde vom Herumlaufen in den Straßen, auf die Barrikade und sagte sich, daß er kämpfen würde, wenn die Soldaten kommen sollten. Er hatte nicht einmal ein Messer bei sich und war noch immer barhäuptig. Gegen elf Uhr schlummerte er ein; er sah in dem weißen Brusttuch mit den kleinen Falten die beiden Löcher, die ihn wie zwei rote Augen voller Tränen und Blut anschauten. Als er aufwachte, hielten ihn vier Schutzleute fest, die ihm Faustschläge versetzten. Die Männer von der Barrikade hatten die Flucht ergriffen. Die Schutzleute aber wurden wütend und hätten ihn beinahe erwürgt, als sie gewahrten, daß er Blut an den Händen hatte. Es war das Blut der jungen Frau.
Erfüllt von diesen Erinnerungen blickte Florent zu dem beleuchteten Zifferblatt der Kirche SaintEustache empor, ohne überhaupt die Zeiger zu sehen. Es war fast vier Uhr. Die Hallen schliefen noch immer. Frau François schwatzte im Stehen mit Mutter Chantemesse und handelte um den Preis für das Bund Kohlrüben. Und Florent entsann sich, daß man ihn dort an der Mauer von SaintEustache beinahe erschossen hätte. Ein Zug Gendarmen hatte dort gerade fünf Unglücklichen, die auf einer Barrikade in der Rue Grenéta gefaßt worden waren, die Schädel zerschmettert. Die fünf Leichen lagen auf dem Bürgersteig, an einer Stelle, wo er heute Haufen rosiger Radieschen zu sehen glaubte. Er entging der Erschießung, weil die Schutzleute nur Säbel hatten. Man brachte ihn zu einer Polizeiwache in der Nähe und hinterließ dem Reviervorsteher einen Zettel, auf dem mit Bleistift die Worte: »Festgenommen mit blutigen Händen. Sehr gefährlich!« geschrieben waren. Bis zum Morgen wurde er von Wache zu Wache geschleppt. Der Zettel begleitete ihn. Man hatte ihm Handschellen angelegt und bewachte ihn wie einen Tobsüchtigen. Auf der Wache in der Rue de la Lingerie wollten ihn betrunkene Soldaten erschießen; sie hatten schon die Laterne angezündet, als der Befehl kam, die Gefangenen zum Depot der Polizeipräfektur zu bringen. Am übernächsten Tage befand er sich in einer Kasematte des Forts Bicêtre7. Von diesem Tage an litt er Hunger; in der Kasematte hungerte er, und seitdem hatte ihn der Hunger nicht mehr verlassen. Etwa hundert waren in diesem luftlosen Keller zusammengepfercht und verschlangen die paar Bissen, die man ihnen wie eingesperrten Tieren zuwarf. Als er vor einen Untersuchungsrichter kam ohne irgendwelche Zeugen, ohne Verteidiger, wurde er beschuldigt, einem Geheimbund anzugehören, und als er schwor, daß das nicht stimme, holte der Richter den Zettel mit der Aufschrift: »Festgenommen mit blutigen Händen. Sehr gefährlich!« aus seinen Akten hervor. Das genügte. Er wurde zur Deportation verurteilt. Nach sechs Wochen weckte ihn im Januar eines Nachts ein Gefangenenwärter und brachte ihn zu einigen vierhundert anderen Gefangenen in einen Hof. Zwischen zwei Reihen Gendarmen mit geladenem Gewehr machte sich eine Stunde danach dieser erste Zug mit gefesselten Händen auf den Weg zu den Gefangenenschiffen und in die Verbannung. Sie zogen über die Pont d'Austerlitz, folgten der Reihe der Boulevards und kamen zum Gare du Havre. Es war eine fröhliche Karnevalsnacht; die Fenster der Restaurants am Boulevard leuchteten. In der Höhe der Rue Vivienne, an der Stelle, wo Florent noch immer die unbekannte Tote sah, deren Bild er mit sich trug, gewahrte er in einer großen Kalesche maskierte Frauen mit nackten Schultern und lachenden Stimmen, die ungehalten waren, daß sie nicht vorbei konnten, und beim Anblick »dieser Sträflinge, die kein Ende mehr nahmen«, angewidert taten. Von Paris bis Le Havre erhielten die Gefangenen nicht einen Bissen Brot und nicht ein Glas Wasser. Man hatte vergessen, vor dem Abmarsch Verpflegung an sie auszugeben. Erst sechsunddreißig Stunden später, als man sie im Laderaum der Fregatte »Le Canada« zusammengepfercht hatte, bekamen sie etwas zu essen.
Nein, der Hunger hatte ihn nicht mehr verlassen. Er durchforschte seine Erinnerungen und konnte sich nicht entsinnen, eine Stunde satt gewesen zu sein. Er war dürr geworden, der Magen war zusammengeschrumpft, die Haut klebte auf den Knochen. Und er fand Paris wieder, feist, hochmütig, überquellend von Nahrung in der Tiefe der Finsternis; auf einem Bett von Gemüse hielt er seinen Einzug. Er wälzte sich gleichsam in einer unbekannten Welt von Fraß, die er rings um sich wuchern fühlte und die ihn beunruhigte. Die glückliche Karnevalsnacht hatte also sieben Jahre lang fortgedauert. Wieder sah er die leuchtenden Fenster der Boulevards, die lachenden Frauen, die gefräßige Stadt, die er damals in jener fernen Januarnacht verlassen hatte; und es schien ihm, als sei das alles noch gewachsen, als sei es aufgeblüht in dieser Riesenhaftigkeit der Markthallen, deren mächtigen, noch vom Unverdauten des Vortages stickigen Atem er zu spüren begann.
Mutter Chantemesse hatte sich entschlossen, zwölf Bund Rüben zu kaufen. Sie hielt sie in ihrer Schürze auf dem Bauch, wodurch ihre breite Taille noch umfangreicher wurde; und sie blieb noch da, unausgesetzt schwatzend mit ihrer schleppenden Stimme. Als sie gegangen war, setzte sich Frau François wieder zu Florent und erzählte:
»Die arme Mutter Chantemesse, mindestens zweiundsiebzig ist sie. Ich war noch ein kleines Mädchen, als sie schon bei meinem Vater ihre Kohlrüben kaufte. Und keinen Verwandten hat sie um sich, niemand außer einem Weibsstück, das sie, ich weiß nicht wo, aufgelesen hat und von dem sie bis aufs Blut gequält wird ... Schlägt sich kümmerlich durch, verkauft ein bißchen und verdient noch ihre vierzig Sous den Tag ... Ich könnte nicht in diesem verfluchten Paris von morgens bis abends auf einem Bürgersteig sitzen. Wenn man hier wenigstens Verwandte hätte!«