Der Bauch von Paris: mehrbuch-Weltliteratur. Emile Zola
Die Fleischer mit großen weißen Schürzen zeichneten das Fleisch mit einem Stempel, fuhren es weg, wogen es ab und hängten es an Stangen zur Versteigerung aus. Das Gesicht an die Gitter gepreßt, beobachtete Florent diese Reihen herunterhängender Leiber, die roten Rinder und Hammel, die vom Fett und den Sehnen gelbgefleckten blasseren Kälber mit ihren aufgeschlitzten Bäuchen. Weiter ging er zum Kaldaunenmarkt hinüber, unter die bleichen Kalbsköpfe und füße, die säuberlich zu Packen zusammengerollten Kaidaunen in Kisten, die lecker in flachen Körben aufgereihten Hirne, die blutigen Lebern, die blaßvioletten Nieren. Er blieb bei den langen zweirädrigen, mit bauschigen Planen gedeckten Karren stehen; sie brachten halbe Schweine heran, die zu beiden Seiten an den Wagenleitern oberhalb einer Strohschicht befestigt waren. Die offenen Hinterteile der Karren ließen im flammenden Schimmer dieser regelmäßigen und nackten Fleischmassen von brennenden Kerzen umgebene Katafalke und Tabernakelvertiefungen sehen, und auf der Strohschicht standen Weißblechbüchsen voll Schweineblut. Eine dumpfe Wut erfaßte Florent; der fade Schlachthofgeruch und der scharfe Kaldaunengeruch brachten ihn zur Verzweiflung. Er trat aus der überdachten Straße und zog es vor, noch einmal zum Bürgersteig der Rue du PontNeuf zurückzukehren.
Es war ein Ringen mit dem Tode. Morgendliches Frösteln überkam ihn, er klapperte mit den Zähnen; er hatte Angst, hinzufallen und auf der Erde liegenzubleiben. Er suchte und fand nicht eine Ecke auf einer Bank; er wäre dort eingeschlafen, und es war ihm gleich, von Schutzleuten geweckt zu werden. Dann lehnte er sich, die Augen geschlossen, ein Sausen in den Ohren, mit dem Rücken an einen Baum, als blende ihn ein Flimmern. Die rohe Mohrrübe, die er, fast ohne sie zu kauen, hinuntergeschlungen hatte, zerriß ihm den Magen, und das Glas Punsch hatte ihn benebelt. Er war benebelt vor Elend, Erschöpfung und Hunger. Ein glühendes Feuer brannte ihm von neuem in der Brusthöhle; für Augenblicke faßte er mit beiden Händen dahin, wie um ein Loch zu verstopfen, durch das er, wie er glaubte, sein ganzes Sein entfliehen fühlte. Der Bürgersteig schwankte weit; sein Schmerz wurde so unerträglich, daß er wieder gehen wollte, um ihn zum Schweigen zu bringen. Er ging geradeaus, geriet in Gemüse und verlor sich darin. Er schlug einen schmalen Seitenweg ein, bog in einen anderen ab, mußte umkehren, irrte sich und war wieder mitten im Gemüse. Einige Haufen waren so hoch, daß die Menschen zwischen zwei aus Packen und Bunden errichteten Mauern umhergingen. Die Köpfe ragten ein wenig darüber hinaus; an dem weißen oder schwarzen Fleck der Kopfbedeckungen sah man sie vorüberziehen, und die großen, in Höhe der Blätter schwankenden Kiepen glichen Nachen aus Weidenruten, die auf einem See von Moos schwammen. Florent stieß gegen tausend Hindernisse, gegen Träger, die Lasten aufnahmen, gegen Händlerinnen, die mit ihren rauhen Stimmen herumstritten. Er glitt aus auf der dicken Schicht von Kehricht und Obstresten, die den Fahrdamm bedeckte. Der starke Geruch der zertretenen Blätter benahm ihm den Atem. Da blieb er stumpfsinnig stehen; er nahm die Stöße der einen und die Schimpfworte der anderen hin. Er war nur noch eine Sache, die auf dem Grunde des steigenden Meeres hin und her geschlagen und gewälzt wurde.
Eine tiefe Mutlosigkeit befiel ihn. Er hätte am liebsten gebettelt. Sein alberner Stolz in der Nacht brachte ihn außer sich. Wenn er das Almosen von Frau François angenommen, wenn er nicht wie ein Blödling vor Claude Angst gehabt hätte, wäre er nicht mehr hier am Verröcheln zwischen diesen Kohlköpfen. Und er ärgerte sich vor allem, daß er sich nicht bei dem Maler über die Rue Pirouette erkundigt hatte. Jetzt war er allein und konnte auf dem Pflaster verrecken wie ein verlorener Hund.
Ein letztes Mal blickte er auf und betrachtete die Markthallen. Sie flammten in der Sonne. Ein großer Strahl drang hinten in den Eingang der überdachten Straße und durchbohrte die Masse der Hallen mit einem Säulengang von Licht; und prasselnd fiel auf die Fläche der Dächer ein glühender Regen. Das ungeheure Eisengebälk verschwamm, wirkte blau und war nur noch ein dunkler Schattenriß auf den Flammen der Feuersbrunst im Osten. Oben entzündete sich ein Fenster. Ein Tropfen Helligkeit rollte an den schrägen breiten Zinkblechplatten bis zu den Dachrinnen hinab. Das war jetzt eine in fliegendem Goldstaub brodelnde Stadt. Das Erwachen war angewachsen vom Schnarchen der Gemüsebauern, die unter ihren Mänteln dalagen, bis zum lebhafteren Wirbel der eintreffenden Waren. Die ganze Stadt zog jetzt die Gitter hoch; das Straßenpflaster summte, die Hallen dröhnten. Alle Stimmen setzten ein – man möchte sagen – in einem meisterhaften Erstrahlen dieses Tonsatzes, den Florent seit vier Uhr morgens im Dunkel sich dahinschleppen und anschwellen hörte. Rechts, links, von allen Seiten brachte Versteigerungsgekreisch die spitzen Töne der Pikkoloflöte in die dumpfen Bässe der Menge. Das war beim Seefisch, das bei der Butter, das beim Geflügel, das beim Fleisch. Glockenläuten wehte herüber, und hinterdrein bebte das Murmeln der Märkte, die geöffnet wurden. Rings um Florent setzte die Sonne das Gemüse in Flammen. Er erkannte das zarte Aquarell der bleichen Morgendämmerung nicht mehr wieder. Die weiter gewordenen Herzen des Salats brannten. Die Tonleiter des Grüns rauschte in strotzender Pracht. Die Möhren bluteten; die Rüben wurden weißglühend in diesem sieghaften Brand. Links von Florent stürzten noch immer Fuhrwerke mit Kohl unter ihrer Last fast zusammen. Er wandte den Blick und sah in der Ferne Rollwagen, die unaufhörlich aus der Rue Turbigo einmündeten. Das Meer stieg weiter. Er hatte es an seinen Knöcheln gefühlt, dann an seinem Bauch; jetzt drohte es, ihm über den Kopf zu gehen. Geblendet, ertränkt, mit sausenden Ohren und den Magen zermalmt von allem, was er gesehen, und neue unendliche Tiefen von Nahrung ahnend, bat er um Gnade, und ein wahnsinniges Weh ergriff ihn, so Hungers zu sterben in diesem vollgefressenen Paris, in diesem funkelnden Erwachen der Markthallen. Große heiße Tränen quollen aus seinen Augen.
Er war in einen breiteren Gang gekommen. Zwei Frauen, eine kleine Alte und eine lange Dürre, gingen plaudernd an ihm vorbei zu den Hallen.
»Sie wollen Ihre Einkäufe machen, Mademoiselle Saget?« fragte die lange Dürre.
»Oh, Madame Lecœur, wenn man so sagen kann ... Sie wissen ja, eine alleinstehende Frau. Ich lebe von nichts ... Ich wollte einen kleinen Blumenkohl kaufen, aber alles ist so teuer ... Und was kostet heute die Butter?«
»Vierunddreißig Sous ... Ich habe sehr gute. Wenn Sie zu mir herankommen wollen ...«
»Ja, ja, ich weiß nicht, ich habe noch ein bißchen Fett ...«
Mit einer übermenschlichen Anstrengung folgte Florent den beiden; er erinnerte sich, den Namen der kleinen Alten von Claude in der Rue Pirouette gehört zu haben, und nahm sich vor, sie anzureden, wenn sie die lange Dürre verlassen hätte.
»Und Ihre Nichte?« fragte Fräulein Saget.
»Die Sarriette tut was ihr gefällt«, antwortete Frau Lecœur bitter. »Sie wollte sich selbständig machen. Das geht mich nichts mehr an. Wenn die Männer sie dann ausgenommen haben, wird sie von mir auch kein Stück Brot bekommen.«
»Sie waren so gut zu ihr ... Sie müßte doch Geld verdienen; Obst bringt in diesem Jahr immerhin etwas ein ... Und Ihr Schwager?«
»Ach der ...!« Frau Lecœur kniff die Lippen zusammen und schien nichts weiter sagen zu wollen.
»Immer noch derselbe, wie?« fuhr Fräulein Saget fort. »Ist mir schon der Richtige ... Ich habe mir sagen lassen, daß er sein Geld in einer Weise durchbringt ...«
»Weiß man denn, ob er sein Geld durchbringt?« entfuhr es Frau Lecœur. »Ein Geheimniskrämer ist er, ein knickeriger Kerl, ein Mann, sehen Sie, Mademoiselle, der mich eher verrecken ließe, als daß er mir hundert Sous leihen würde ... Er weiß sehr gut, daß Butter ebenso wie Käse und Eier in dieser Jahreszeit nicht gehen. Er dagegen kann soviel Geflügel verkaufen, wie er will ... Na, nicht ein einziges Mal hat er mir seine Hilfe angeboten. Ich bin zu stolz, etwas anzunehmen, verstehen Sie, aber ich hätte mich doch darüber gefreut.«
»Ach, da ist ja Ihr Schwager«, bemerkte Fräulein Saget leise.
Die beiden Frauen drehten sich um und blickten jemandem nach, der den Fahrdamm, überquerte und in die große überdachte Straße ging.
»Ich habe es eilig«, murmelte Frau Lecœur. »Ich habe meinen Stand allein gelassen. Außerdem will ich nicht mit ihm reden.« Auch Florent hatte sich unwillkürlich umgedreht. Er erblickte einen kleinen, untersetzten, vergnügt aussehenden Mann mit grauen, bürstenartig geschnittenen Haaren, der unter jedem Arm eine fette Gans trug, deren Kopf herunterhing und ihm beim Gehen gegen den Schenkel schlug. Und plötzlich