VIER TODESFÄLLE UND EIN TANKSTELLENRAUB. Eberhard Weidner
die darüber angebracht war.
Fabian seufzte leise, als der Fahrradfahrer die Tankstelle betrat, und biss ein weiteres Stück von seinem Baguette ab. Er behielt den Kunden noch ein paar Sekunden im Auge, bis dieser, nachdem er sich kurz umgesehen und offenbar orientiert hatte, zum Zeitschriftenregal ging.
Der Radfahrer trug einen grünen Overall, wie ihn sonst nur Bundeswehrpiloten anhatten, allerdings ohne Rangabzeichen, und schwarze Stiefel. Er wirkte merkwürdig unförmig, so als trüge er unter dem Overall noch einen Pullover und ein zweites Paar Hosen, aber das war bei den derzeitigen niedrigen Temperaturen und der Tatsache, dass er nachts mit dem Fahrrad unterwegs war, nicht weiter verwunderlich. Darüber hinaus hatte er eine dunkelblaue Baseballkappe auf dem Kopf, deren langer Schirm die obere Hälfte seines Gesichts und seine Augen beschattete, und einen sehr dichten, schwarzen Vollbart.
Irgendetwas an der Art, wie sich der Typ bewegte und umsah, kam Fabian merkwürdig vor. Er kam jedoch nicht darauf, was ihn daran störte. Außerdem war das momentan auch nicht so wichtig. Wichtiger war das Fußballspiel, dem er nun schon zu lange keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
Fabian biss vom Baguette ab, kaute mechanisch und richtete den Blick wieder auf den Bildschirm. Es war die 52. Spielminute und stand zum Glück immer noch null zu null. Thomas Müller dribbelte in den gegnerischen Strafraum. Fabians Pulsfrequenz stieg, während er auf das erste Tor für die Münchener hoffte. Doch daraus wurde nichts, denn der Bayern-Spieler wurde abgeblockt.
Fabian sah rasch auf die Uhr. Es war bereits 21:55 Uhr, in 5 Minuten würde er die Eingangstür abschließen.
In diesem Moment fuhr draußen ein Auto an die Zapfsäule Nummer 2. Fabian bemerkte es erneut aus dem Augenwinkel und richtete den Blick nach draußen. Ein Mann, vermutlich ein paar Jahre älter als Fabian, stieg aus dem Wagen, umrundete den BMW und öffnete den Tankdeckel. Dann nahm er den Zapfhahn und steckte ihn in die Tanköffnung. Während das Benzin in den Tank floss, sah er sich aufmerksam um.
Fabian warf ganz automatisch einen Blick auf den Monitor der Überwachungskameras seitlich unter der Theke, doch der Bildschirm war dunkel. Erst jetzt fiel ihm wieder ein, dass die Anlage defekt war und erst am folgenden Vormittag repariert werden sollte.
Er sah stattdessen wieder zum Fahrradfahrer am Zeitschriftenregal, der die Ankunft des Autofahrers ebenfalls bemerkt hatte und in diesem Moment über die Schulter nach draußen blickte. Das Auftauchen eines weiteren Kunden schien ihn zu größerer Eile anzutreiben, denn er kam mit einer Zeitschrift in der Hand und zügigen Schritten durch den linken der beiden Gänge, die zwischen den Warenregalen entlangführten, auf die Kasse zumarschiert.
Fabian nahm noch einen Bissen von seinem verspäteten Abendessen, bevor er es in die Ablage unter dem Verkaufstresen legte. Dann griff er nach der Fernbedienung für den Fernseher, die direkt daneben lag, und stellte das Gerät mit einem Knopfdruck stumm. Er warf einen letzten Blick auf den Bildschirm, aber es schien sich zwischenzeitlich nichts Dramatisches ereignet zu haben, denn die Partie war noch immer torlos.
Nachdem Fabian die Fernbedienung neben das Baguette gelegt und den Blick gehoben hatte, sah er, dass draußen ein Motorrad gehalten hatte. Allerdings stand es nicht an einer der Zapfsäulen, sondern zehn Meter vom Eingang entfernt bei den Münzstaubsaugern.
Verdammter Mist!, dachte Fabian verärgert. Da er erst den Radfahrer abkassieren musste und zwischenzeitlich vermutlich auch noch der Auto- und der Motorradfahrer in die Tankstelle kamen, würde er es wohl heute nicht schaffen, die Eingangstür pünktlich zu verriegeln.
Der Radfahrer war kurz stehengeblieben und hatte über die Schulter hinweg ebenfalls die Ankunft des Motorradfahrers verfolgt. Nun ging er rasch weiter.
Fabian hatte noch immer einen vollen Mund, als der Fahrradfahrer auch schon den Kassentresen erreichte, auf den er mit einer lässigen Bewegung aus dem Handgelenk die Zeitschrift warf, bevor er in den Overall griff, der vorne bis zur Höhe des Bauchnabels offen stand, und einen Gegenstand hervorholte, dessen glänzende Oberfläche das Licht der Leuchtstoffröhren unter der Decke reflektierte.
»Das ist ein Überfall!«, sagte der Fahrradfahrer mit tiefer, offenkundig verstellter Stimme. »Lass dir bloß keine Dummheiten einfallen, Freundchen …!«
Es war 21:57 Uhr, und Fabian hatte nur noch wenige Minuten zu leben.
2.
Sieben Schlagzeilen aus dem Lokalteil des Oberhofberger Kuriers vom 11. April 2013:
»Champions-League: Bayern gewinnt Viertelfinal-Rückspiel gegen Juventus Turin. Zwei Bundesligisten unter den letzten vier Mannschaften.«
»Tödlicher Tankstellenraub. Unbekannter Täter erschießt Kassierer und entkommt unerkannt mit Beute.«
»Autodieb fährt gestohlenen Wagen in Weiher und ertrinkt.«
»Fahrraddiebstahl in der Rosenstraße. Hochwertiges Trekking Bike aus offener Garage gestohlen.«
»Mord im Stadtpark. Erstochener Drogensüchtiger vermutlich Opfer eines misslungenen Drogendeals.«
»Unbekannte von ICE überrollt. Behörden gehen von Suizid aus.«
»Bürgermeister entsetzt über Häufung von Gewaltdelikten. Laut Polizei keine Verbindung zwischen den Ereignissen der letzten Nacht.«
ERSTER TEIL
Die Ermittlungen
1.
Fürstenfeldbruck, Büro der Mordkommission
11. April 2013, 8:58 Uhr
Kriminalhauptkommissar Franz Schäringer von der Kriminalpolizei Fürstenfeldbruck nahm einen Kugelschreiber aus dem Stifthalter seines Schreibtischs und umrandete mehrere Schlagzeilen auf der ersten Seite des Lokalteils des Oberhofberger Kuriers, einer Lokalausgabe des Münchner Merkurs, vom heutigen Tag mehrmals.
Es wunderte ihn nicht einmal, dass die Zeitung so flott gewesen war und noch alle Vorkommnisse der zurückliegenden Nacht in ihrer aktuellen Ausgabe untergebracht hatte, denn er hatte einen ihrer Reporter gesehen, den er von früheren Begegnungen kannte, als er selbst kurz vor Mitternacht am ersten Tatort in Oberhofberg eingetroffen war. Der Polizeireporter war vermutlich schon viel früher, wahrscheinlich sogar unmittelbar nach den alarmierten Streifenbeamten vor Ort gewesen, weil er entweder einen Informanten bei der Polizei hatte oder illegal den Polizeifunk abhörte. Schäringer hatte ihm grüßend zugenickt, während der Reporter mit seinem Handy am Ohr bereits die ersten Berichte an seine Zeitung durchgegeben hatte, die unmittelbar danach in Druck gegangen sein mussten, damit die Tageszeitung noch rechtzeitig fertig werden konnte.
Anwohner hatten nach einem Schuss in der Tankstelle in der Fürstenfeldbrucker Straße kurz nach 22 Uhr umgehend die Polizei alarmiert. Nachdem die Besatzung des Streifenwagens die Tankstelle überprüft und den toten Kassierer gefunden hatte, hatte sie sofort die Zentrale informiert und Verstärkung angefordert, um den Tatort zu sichern, die Umgebung abzusuchen und erste Fahndungsmaßnahmen einleiten zu lassen. Im Verlauf dieser Suche nach dem Täter oder den Tätern in Oberhofberg war dann auch der erstochene Motorradfahrer im öffentlichen Park entdeckt worden. Und nur kurze Zeit später hatte ein Anwohner, der mit seinem Hund Gassi gegangen war, einen Einsatzwagen angehalten und von einem Loch im Zaun, der den Weiher umgab, berichtet. Es sehe ganz so aus, als sei da ein Auto durchgebrettert, hatte er gesagt. Und tatsächlich war bei der anschließenden Überprüfung im Weiher ein versunkener BMW gefunden worden, der kurz zuvor 50 Kilometer entfernt gestohlen worden war. Der Fahrer und mutmaßliche Autodieb hatte noch immer am Steuer gesessen, offensichtlich ertrunken. Und als wäre das alles noch nicht genug für einen Ort und eine Nacht gewesen, war die Meldung von einem Selbstmord an den Bahngleisen eingegangen, wo sich eine junge Frau allem Anschein nach vor den ICE geworfen hatte, der gerade aus einem Tunnel gekommen war.
Nachdem Schäringer alle Artikel markiert hatte, die ihm interessant