VIER TODESFÄLLE UND EIN TANKSTELLENRAUB. Eberhard Weidner

VIER TODESFÄLLE UND EIN TANKSTELLENRAUB - Eberhard Weidner


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zum Büro ging auf, und Kriminalkommissar Lutz Baum, Schäringers Mitarbeiter in der Mordkommission, trat ein. Er schlurfte zu seinem Schreibtisch und ließ sich dann auf den Drehstuhl fallen, als hätte er zu dieser frühen Stunde schon einen Marathonlauf hinter sich. Baum war mittelgroß, hatte kurzes, gelocktes Haar in der Farbe frisch geernteter Karotten und neigte zum Übergewicht, was sich allerdings noch nicht an seinem ganzen Körper, sondern momentan bevorzugt in den Regionen um Bauch und Hüften und im Gesicht zeigte und vermutlich auf seine Vorliebe für gutes, reichhaltiges Essen und Berge von Süßigkeiten zwischen den Mahlzeiten zurückzuführen war. Der 38-Jährige stöhnte, ehe er den Becher mit Automatenkaffee an die Lippen setzte und schlürfend einen großen Schluck nahm.

      Schäringer sah zu und verzog angewidert das Gesicht. Er konnte beim besten Willen nicht nachvollziehen, wie man die Brühe aus dem sogenannten »Kaffeeautomaten« im Aufenthaltsraum trinken konnte, ohne sich Mund, Speiseröhre und Magen zu verätzen. Er hatte ein einziges Mal vor vielen Jahren einen Schluck getrunken, aber sofort wieder ausgespuckt, weil der Geschmack ihn an viele andere eklige Dinge, nur nicht an Kaffee erinnert hatte. Sein jüngerer Kollege trank hingegen jeden Morgen seine zwei bis drei Tassen mit extra viel Zucker, ohne mit der Wimper zu zucken oder unter ernsthaften Folgen für seine Gesundheit zu leiden. Manchmal trank er auch mehr Automatenkaffee, wenn er, so wie es nach seinem Aussehen zu schließen auch heute Morgen wieder der Fall war, in der Nacht zu wenig Schlaf bekommen hatte und übermüdet war.

      »Brauchst du eigentlich gar keinen Schlaf, Franz?«, fragte Baum, nachdem er seinen Kaffeebecher ächzend auf den Schreibtisch gestellt, vorsichtig ein tonnenschweres Augenlid gehoben und einen Blick auf Schäringer geworfen hatte. »Wahrscheinlich bist du schon seit Stunden hier und hast die beiden Mordfälle von letzter Nacht längst gelöst, habe ich recht?«

      Schäringer schüttelte bedauernd den Kopf. »Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, Lutz. So lange bin ich auch noch nicht da. Allerdings habe ich schon allein durch das morgendliche Zeitungsstudium genügend Ideen gesammelt, wo ich heute mit meinen Ermittlungen ansetzen werde. Übrigens brauche ich sehr wohl meinen Schlaf, vielleicht nur ein bisschen weniger als du.«

      Im Gegensatz zu seinem jüngeren Kollegen war Kriminalhauptkommissar Franz Schäringer sehr schlank und mit seinen ein Meter neunzig um mehr als einen Kopf größer. Obwohl er schon deutlich auf die Sechzig zusteuerte – es waren gerade mal zweieinhalb Jahre bis dahin –, war in seinem aschblonden Haar mit Ausnahme der Schläfen nur wenig Grau zu entdecken. Wie immer trug er einen der 2-teiligen Anzüge, die er vor ein paar Jahren im Katalog eines Versandhandels gesehen und der Einfachheit halber gleich in den Farben braun, mittelgrau, mitternachtsblau und schwarz bestellt hatte – am heutigen Tag war der mittelgraue an der Reihe –, ein weißes Hemd und eine Krawatte.

      Lutz Baum war in der letzten Nacht ebenfalls über die Morde informiert und zu den Tatorten gerufen worden. Zum Glück war das Spiel der Bayern gegen Juve schon vorbei gewesen, als sein Telefon geklingelt hatte, sonst wäre er vermutlich ziemlich sauer und unausstehlich gewesen. Nach zweieinhalb Stunden in der Tankstelle und im Stadtpark, wo sich die beiden Kriminalbeamten einen ersten Eindruck von den Mordopfern, Tatorten und Tatumständen verschafft und erste, noch sehr vage und vorsichtige Informationen von der Spurensicherung und der Gerichtsmedizin erhalten hatten, waren Schäringer und Baum wieder nach Hause gefahren – es war mittlerweile zwanzig nach zwei –, um in dieser Nacht wenigstens noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen, bevor sie heute Vormittag mit vollem Elan in die Ermittlungen der beiden Morde einstiegen. Baum ließ von diesem Elan momentan allerdings wenig erkennen.

      »Selbst heute schon Zeitung gelesen?«, fragte Schäringer.

      Baum schüttelte wie in Zeitlupe den Kopf, nahm den Kaffeebecher und trank ihn leer. »Steht heute etwa etwas Interessantes drin?«

      »Kann man so sagen. Es gibt zum Beispiel schon erste Berichte über unsere beiden Morde.«

      Baum hob die Augenbrauen und machte ein überraschtes Gesicht. »Das ging aber schnell. Allerdings weiß ich über die Morde schon Bescheid, weil ich persönlich an den Tatorten war und mir dort die halbe Nacht um die Ohren schlagen musste. Da muss ich also nichts mehr in der Zeitung darüber lesen. Sonst noch was?«

      Schäringer wiegte den Kopf hin und her. »Kommt ganz drauf an. Was hältst du davon, wenn ich dir sieben Schlagzeilen vorlese, die ich ausgewählt habe. Mal sehen, was du darüber denkst. Pass auf!«

      »Ich bin ganz Ohr. Die Augen muss ich dazu ja nicht unbedingt offen haben, oder?«

      »Hauptsache, du spitzt die Ohren, der Rest deines Körpers interessiert mich nicht. Also, hier kommt die erste Schlagzeile: Champions-League: Bayern gewinnt Viertelfinal-Rückspiel gegen Juventus Turin. Zwei Bundesligisten unter den letzten vier Mannschaften. Was sagst du dazu!«

      »Das finde ich als Roter natürlich super«, sagte Baum, der von einer Sekunde zur anderen viel aufgeweckter wirkte, als das Gespräch auf seinen Lieblingsverein kam. »Die Bayern haben verdient gewonnen und sind völlig zu Recht weitergekommen, findest du nicht auch? Aber seit wann interessierst du dich eigentlich für Fußball?«

      »Ich habe mich noch nie für Fußball interessiert und interessiere mich auch jetzt nicht besonders dafür. Allerdings steht es in Zusammenhang mit dem Tankstellenüberfall und dem Mord am Kassierer.«

      »Ach ja? Inwiefern das?«

      »Als wir am Tatort waren, lief auf dem kleinen Fernseher hinter der Verkaufstheke noch immer der Sender, der zuvor das Spiel übertragen hatte. Der Kassierer, sein Name war, Moment, …« Schäringer beugte sich nach vorn, schlug eine der beiden dünnen Akten auf, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen, und las auf der ersten Seite den Namen des Opfers. »… genau, Fabian Becker verfolgte also während der Arbeit das Champions-League-Viertelfinale, als er erschossen wurde. Allerdings war der Ton stumm geschaltet, vermutlich, weil ein Kunde – höchstwahrscheinlich sogar der Mörder – zur Theke gekommen war.«

      »Okay. Aber ist das überhaupt von Bedeutung?«

      Schäringer zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. In einem Mordfall weiß man am Anfang nie, was später noch wichtig werden kann.«

      Baum seufzte und verdrehte die Augen. »Du denkst mal wieder viel zu kompliziert und um tausend Ecken herum, Franz. Aber wenn du dich unbedingt wieder in solchen Kleinigkeiten verrennen willst, die mit dem Fall ohnehin nichts zu tun haben, von mir aus. Ich ziehe es stattdessen vor, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren, und kläre damit unsere beiden Fälle in der Hälfte der Zeit. Aber du hast von sieben Schlagzeilen gesprochen. Lies doch mal die nächste vor!«

      »Gut. Hör zu! Tödlicher Tankstellenraub. Unbekannter Täter erschießt Kassierer und entkommt unerkannt mit Beute.«

      »Jetzt beginnt es endlich, interessant zu werden, denn das ist unser Fall Numero Uno. Allerdings können es auch durchaus mehrere Täter gewesen sein. Schade, dass die Überwachungsanlage defekt war, dann wären wir jetzt schon erheblich schlauer. Meinst du, da hat jemand absichtlich dran gedreht oder nur die Gunst des Augenblicks genutzt?«

      »Es schadet zumindest nichts, die anderen Beschäftigten des Tankstellenpächters und die Firma zu überprüfen, die sich um die Überwachungsanlage kümmert. Das kannst ja du heute Vormittag übernehmen.«

      »Hatte ich ohnehin vor. Wie gesagt, ich konzentriere mich aufs Wesentliche. Ich kann mir allerdings schon denken, wie deine dritte Schlagzeile lautet.«

      »Ach ja. Und wie?«

      »Junkie im Park erstochen! Hab ich recht?«

      »Leider nicht. Die kommt erst später und hört sich im Original auch ein bisschen eleganter an.«

      »Aha. Und was kommt dann an dritter Stelle? Und wieso eigentlich nicht der Mord im Park, schließlich ist das unser zweiter Fall? Alles andere geht uns doch gar nichts an.«

      »Ich hab mir erlaubt, die Schlagzeilen der letzten Nacht, die ich hinsichtlich unserer Ermittlungen für bedeutsam halte, in eine eigene, sinnvolle Reihenfolge zu bringen.«

      »Und wieso das?«

      »Das verrate ich dir, wenn ich


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