Schüchterne Gestalten. Peter Bergmann
CodeWriter in Lemberg, um ein Geschäft dort einzufädeln. Das war offensichtlich so weit, dass die Account Managerin des neuen Kunden gleich mit zurück nach Vesberg gekommen ist, um die Vertragsunterzeichnung vorzubereiten. Das war die zweite Tote.“ Jetzt war es an Hanns-Peter Ulrich, einen weiteren Erkenntnisbaustein beizusteuern.
„Und das ist alles?“, wollte der Staatsanwalt wissen.
Dietering übernahm jetzt wieder das Zepter: „Auf das Haus des Vaters von dem Toten, Georg Weilham, ist in der Nacht ein Brandanschlag verübt worden. Das Ganze wurde von der Straßenseite des Hauses aus, gleich durch zwei Fenster, versucht; führte aber letztlich nur zu geringem Schaden. Offensichtlich sollte Weilham sen. beiseitegeschafft werden. Ob beide Taten miteinander im Zusammenhang stehen, wissen wir noch nicht.“
Staatsanwalt Stiegermann war es inzwischen anzusehen, dass sein Puls bedrohliche Frequenzen angenommen haben muss. Gestik und Gesichtsfarbe deuteten auf einen baldigen Ausbruch hin.
„Sind Sie denn hier alle bekloppt? Für was bezahlt sie der Steuerzahler eigentlich? Seit 48 Stunden haben wir zwei Tote und sie haben noch immer keine Ahnung, wer dahintersteckt. Was machen sie eigentlich den ganzen Tag? Soviel Ablenkung hat Vesberg doch gar nicht zu bieten. Wir haben gleich eine PK und nichts zu liefern. Ich nehme sie mir alle einzeln vor.“
Stiegermann nahm sich eine kurze Pause, um nicht minder leiser weiterzumachen. „Sie sind die längste Zeit in der Mordkommission gewesen. Remsen, sehen Sie mich an, wenn ich mit Ihnen rede.“
Remsen zeigte sich unbeeindruckt und hegte keinerlei Ambitionen, seine deutlich sichtbar ablehnende Position am Fenster zu ändern oder gar aufzugeben: „Ein Gespräch findet mindestens zwischen zwei Personen statt. Bisher haben Sie hier nur rumgeschrien. Ich für meinen Teil beteilige mich nicht an ein Gespräch; mit Ihnen gleich gar nicht. Sir, bei allem Respekt.“
„40 bitte; 40 Stunden ist die Tat etwa her, dazwischen zwei Nächte und ein ganzes Wochenende.“ Kriminaloberkommissar Ulrich setzte auf Deeskalation, wohlwissend, dass auch er noch nicht mehr Informationen zur Aufklärung beisteuern konnte.
„Wir haben eine PK, mit Fernsehen. Heute Abend sehen die da draußen, wie dilettantisch die Mordkommission in Vesberg arbeitet. Und ich soll das vertreten?“
Wenn Stiegermann so weitermachte, kollabiert der Mensch und die PK findet tatsächlich ohne ihn statt. Eine amüsante Vorstellung, wie Remsen fand, denn prinzipiell gehört ein schreiender Staatsanwalt nicht in die Öffentlichkeit. „Hören Sie: Die Tote ist eine Ukrainerin. Gleich den großen Fall dahinter zu vermuten, klingt eher nach Karrieregeilheit. Vielleicht war das ein Auftragsmord von jemandem, der mit CodeWriter oder dem Weilham über Kreuz lag. Wir haben das Umfeld ausgeleuchtet und noch nicht viel gefunden. Weilham's Frau, ich meine die Junge, sprach von einer intakten Familie und ein Umfeld mit dem üblichen Stress.“
„Remsen, das klingt ja alles ganz toll. Darf ich das der Presse nachher erzählen?“
„Das kann der Herr Krimimalrat machen, der hätte nicht so viele Probleme damit. Wenn Sie aber auf Fahndungserfolge aus sind, die Sie verkaufen wollen, dann denken Sie sich was aus. Meinen Segen haben Sie dabei jedenfalls nicht.“ Remsen fand Gefallen an dem Spiel und trieb inzwischen Stiegermann vor sich her. Nur merkte der das noch nicht.
„Vergessen Sie es Remsen. Sie machen da. Ich will Sie dort oben auf der Bühne haben. Sie werden Rede und Antwort stehen und schön auf die Fragen antworten. Zeigen Sie der Öffentlichkeit, wie wenig Sie an zwei Tagen zustande bringen. Versager.“ Man sollte Stiegermann irgendwelche Tabletten besorgen; die könnte er bei dem roten Kopf jetzt gut brauchen, befand Remsen.
Die anderen im Raum haben sich wohlweislich aus dem Streit herausgehalten. Entweder trauten sich Ulrich und Dietering nicht, dem Staatsanwalt Paroli zu bieten oder aber sie waren selbst mit der bisherigen Arbeit nicht zufrieden und hatten für den Streit nicht das richtige Blatt. Soll Remsen doch den ‚Bad Guy‘ spielen und allein den Schutzwall für die Mordkommission bilden. Immerhin ist er deren Leiter.
Der legte aber kräftig nach. „Während Sie Herr Staatsanwalt den Sonnabend im Wellnesstrakt eines Bordells hinter der Grenze verbracht haben, haben wir noch nicht einmal die eigenen Betten seit Freitagabend gesehen. Die Gerichtsmedizin hat gestern ganze Arbeit geleistet und uns ganz genau die Todesursachen erläutert. Wir haben die letzten Tage des Toten, sein Umfeld, seine Freunde und Feinde beleuchtet. Alles harte Polizeiarbeit, Herr Staatsanwalt. Nichts, aber auch gar nichts wird uns geschenkt. Was meinen Sie, wie viele Leute da draußen für uns Akten studieren, Informationen auswerten und Protokolle verfassen. Haben Sie jemals den Stallgeruch von Ermittlungsarbeit in der Nase gehabt?“
„Was interessiert mich Ihr Stallgeruch? Sie könnten übrigens durchaus mal eine Dusche vertragen, Remsen.“
Remsen drehte sich jetzt tatsächlich um und sah sein Gegenüber ins Gesicht. Er starrte ihn verächtlich an und machte Stiegermann damit klar, was er von ihm hielt.
„Wenn Sie bei der PK schmückendes Beiwerk brauchen, dann bedienen Sie sich draußen im Gewerbegebiet-Nord. Da im Thai-Puff werden Sie ganz sicher fündig. Wegen dem Stallgeruch müssten Sie allerdings die Nase nicht so hochtragen; die Damen dort sollen etwas kleiner sein. Einen schönen Tag noch.“
Während der Staatsanwalt vor einigen Minuten seinen ganz speziellen Auftritt zelebrierte, gönnt sich Remsen jetzt seinen Abgang. Gelassen, nahezu majestätisch ging Remsen auf die Tür zu, der er ganz andächtig öffnete und kräftig wieder zuschlug, als der draußen auf dem Flur war.
‚Your Mind is on Vacation‘, sang Van Morrison Mitte der 1990er. Und wird wohl auch nicht mehr wiederkommen, davon war Remsen fest überzeugt.
Was jetzt? Einen Plan B hatte auch Remsen auf die Schnelle nicht. Er sollte mal mit Van Morrison telefonieren, vielleicht fällt ihm ein Song dazu ein. Apropos einfallen: Er könnte sich ja einen ruhigen Sonntagabend machen und die noch ungeöffnete DVD ‚Live at the Hollywood Bowl‘ von ihm anschauen. Das wäre doch ein guter Plan B für heute. Die Ironie in der Idee erkannte Remsen erst später.
Die zum Nachmittag angesetzte Pressekonferenz wurde wie erwartet ein Fiasko. Oben auf dem Podium saß neben dem Staatsanwalt Stiegermann und Kriminalrat Dietering noch Kriminaloberkommissar Ulrich. Dietering gab der Kriminalassistentin Kundoban für den Rest des Tages frei. Er war davon überzeugt, dass die nächsten Tage von der Mordkommission insgesamt und auch von Jutta Kundoban jede Menge abverlangen werden. Sie war schon das ganze Wochenende voll im Einsatz, sodass einige Stunden Freizeit ihr sicher guttun würden.
Er rechnete jedoch fest mit Remsen, der mit Sicherheit die meisten Fakten beisteuern könnte. Auf seine spezielle Art, eine Mischung aus kumpelhaftem Gehabe und freundlich bestimmten Ausweichen von Antworten auf messerscharf gestellte Fragen schaffte er es immer wieder, die Pressemeute auf Distanz zu halten. Remsen ließ dabei nie ein Zweifel aufkommen, dass die Kollegen der W36 hoch professionell und mit Engagement ihrem Job nachgehen.
Dietering versuchte nach dem Crash mit Remsen, den Staatsanwalt zu besänftigen. Er musste bis zur Pressekonferenz Ruhe reinbringen und sich vor allem um Remsen kümmern. Einerseits brauchte er ihn; ihn, den erfahrenen und in vielen Hamburger Jahren gestählten Ermittler. Ja, er war schon sehr eigenwillig; deshalb akzeptierte ihn überhaupt nicht. Andererseits kollaborierte er durchaus mit seinen Kollegen und gab vielen Ermittlungen mit seinen unkonventionellen Ideen immer wieder den entscheidenden Kick. Wenn Remsen bei den Ermittlungen mitmischte, konnte Dietering eine recht hohe Erfolgsquote nachweisen. Auch und vor allem in seinem eigenen Interesse.
Remsen aber war nach dem Streit mit Stiegermann von der Bildfläche verschwunden. Sein Handy war aus, sein Büro unbesetzt und zu Hause schaltete sich der Anrufbeantworter ein.
Dietering konnte Remsen durchaus verstehen. Torsten Stiegermann war karrieregeil und menschlich ein widerlicher Kerl. Im Grunde wusste das jeder im Kommissariat und bei der Staatsanwaltschaft, aber nur Remsen traute sich, seine Antipathie offen zu zeigen.
Das Ganze interessierte ihn jetzt nicht, er brauchte Remsen für die PK. Der Pager war die letzte Möglichkeit, ihn direkt zu erreichen. Remsen durfte den Pager nie ausschalten; eine der wichtigsten