IM ANFANG WAR DER TOD. Eberhard Weidner

IM ANFANG WAR DER TOD - Eberhard Weidner


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      Dieses Mal drang das Messer in den Bauch des weißhaarigen Mannes und grub sich wesentlich tiefer hinein, als hätte der Angreifer aus seinem ersten Versuch gelernt und wollte das Gelernte sogleich in die Tat umsetzen.

      Es schien sich zunächst nur wie ein heftiger Faustschlag in den Magen anzufühlen. Der Geistliche krümmte sich, beugte sich nach vorn und stöhnte laut, während er die Augen sogar noch weiter aufriss. Das Stöhnen klang in der leeren nächtlichen Kirche unheimlich und ließ den Angreifer erschaudern.

      Als die blutige Klinge erneut zurückgezogen wurde, folgte der alte Pfarrer mit den Augen unwillkürlich der raschen Bewegung. Er schüttelte den Kopf, als könnte er nicht glauben, dass dies alles tatsächlich geschah; oder als wollte er es einfach nicht wahrhaben. Doch der einsetzende Schmerz dieser zweiten, wesentlich schwerwiegenderen Verletzung belehrte ihn zweifellos eines Besseren. Die stechenden Schmerzen signalisierten ihm, dass ihm dies alles wirklich widerfuhr. Es war kein Traum, aus dem er jeden Moment erwachen würde, um sich dankbar zu bekreuzigen und anschließend auf die andere Seite zu drehen und weiterzuschlafen. Dies alles war real! Und es würde zweifellos noch viel schlimmer werden, wenn er nicht bald etwas dagegen unternahm.

      Mittlerweile wurde der Baumwollstoff seines Hemdes auch in der Bauchgegend vom ausströmenden Blut durchtränkt. Es breitete sich dort sogar wesentlich rascher aus als bei der an sich harmlosen Schulterwunde. Außerdem wurde der Geruch nach frischem Blut so intensiv, dass der Geistliche das Gefühl haben musste, er könnte es sogar auf seiner Zunge schmecken. Er taumelte leicht, als spürte er bereits den Blutverlust, obwohl dieser noch nicht wirklich dramatisch und lebensbedrohlich war.

      Dennoch schien der Gedanke, dass er hier verbluten könnte, noch einmal alle Kräfte zu mobilisieren, die in seinem schlanken Körper steckten. Denn mit einer Geschwindigkeit, die ihm sein Gegenüber überhaupt nicht mehr zugetraut hätte, wirbelte er plötzlich herum und rannte davon.

      Er lief gebückt und wirkte dadurch von hinten wesentlich kleiner, als er tatsächlich war. Dabei presste er beide Hände gegen die Körpermitte, auch wenn er die Blutung dadurch nicht verringern, geschweige denn stoppen konnte.

      Sein Angreifer hingegen hatte keine Eile. Er sah sich um, als interessierte er sich plötzlich mehr für das Innere des Sakralbaus als für sein Opfer oder als hielte er nach Zeugen seiner Tat Ausschau. Doch um diese Uhrzeit war die Kirche bis auf sie beide menschenleer. Und außerhalb des Gebäudes waren die Stimme des Pfarrers und sein Stöhnen gewiss nicht zu hören gewesen.

      Es gab also keinen einzigen Zeugen der Tat.

      Zufrieden richtete die Person mit dem Messer in der behandschuhten Hand ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihr flüchtendes Opfer. Sie trug dunkle Kleidung und hatte die Kapuze ihres Pullis über den Kopf und tief ins Gesicht gezogen.

      Der schwer verletzte Geistliche hatte inzwischen beinahe die Stufen zum Altarraum erreicht. Es war jedoch deutlich zu erkennen, dass er mit seinen Kräften am Ende und vom starken Blutverlust geschwächt war. Er rannte längst nicht mehr, sondern taumelte nur noch voran. Es erschien wie ein Wunder, dass er sich überhaupt noch auf den Beinen halten konnte.

      Vermutlich würde er ohnehin verbluten, auch wenn der Angreifer plötzlich beschlossen hätte, von einer Verfolgung abzusehen und den verletzten alten Mann sich selbst zu überlassen. Doch daran verschwendete dieser überhaupt keinen Gedanken. Stattdessen setzte er sich nun ebenfalls in Bewegung und folgte dem Priester. Und obwohl er nicht rannte, sondern gemessenen Schrittes ging, war er dennoch schneller als sein waidwundes Opfer.

      Als der Pfarrer schließlich die Stufen erreichte, hob er die blutbesudelte rechte Hand, um sich an der weiß getünchten Wand abzustützen. Dann blieb er schwer atmend stehen, als fehlte ihm nun doch die Kraft, um auch nur eine einzige der sechs Stufen zu bewältigen. Er hatte allem Anschein nach nicht einmal mehr genug Energie, um den Kopf zu drehen und sich nach seinem Verfolger umzusehen.

      Beim Näherkommen konnte dieser die angestrengten, pfeifenden Atemzüge des alten Mannes hören, mit denen er verzweifelt nach Luft schnappte. Es war das einzige Geräusch in der Kirche, denn er selbst bewegte sich absolut lautlos voran.

      Der alte Mann hörte ihn daher nicht kommen, obwohl er damit rechnen musste, dass sein Angreifer die Sache hier und jetzt zu einem Ende bringen würde. Aber vielleicht hatte er nun, am Ende sowohl seiner Kräfte als auch seines Lebens, letztendlich resigniert und sich mit seinem Schicksal abgefunden.

      Der Verfolger stach, ohne einen Augenblick zu zögern, ein drittes Mal zu. Die Klinge blitzte im Kerzenlicht auf, bevor sie sich tief in den ungeschützten Rücken vor ihm bohrte.

      Der Geistliche stieß daraufhin ein weiteres lang gezogenes Stöhnen aus. An diesem Ort und zu dieser Uhrzeit klang es noch gespenstischer als beim ersten Mal und bescherte dem Angreifer ein weiteres Erschaudern.

      Dann verstummte das Opfer abrupt und sackte in sich zusammen, als hätten sich sämtliche Knochen seines Skeletts in Gelatine verwandelt. An der Kirchenwand, an der er sich abgestützt hatte, blieb wie eine stumme Mahnung der blutige Abdruck seiner Hand zurück.

      Der Angreifer beugte sich zu dem reglosen Körper hinunter.

      Der Priester lebte noch, wenn auch nur gerade so. Die Messerklinge hatte sein Herz knapp verfehlt und stattdessen einen Lungenflügel durchbohrt. Bei jedem seiner schwächer werdenden Atemzüge bildeten sich blutige Luftbläschen zwischen seinen geöffneten Lippen.

      Der Angreifer stellte befriedigt fest, dass die verbliebene Lebenszeit des alten Mannes gezählt war. Allerdings nicht länger in Jahren, Monaten, Wochen, Tagen und Stunden, sondern allenfalls in Minuten, wenn nicht sogar in Sekunden. Doch scheinbar genügte das der Person mit dem blutigen Fleischmesser nicht. Entweder wollte sie auf Nummer sicher gehen und nichts dem Zufall überlassen. Oder ihr lag daran, das Leid des Geistlichen zu beenden. Wie auch immer. Auf jeden Fall setzte sie die Klinge an den Hals ihres bewusstlosen, sterbenden Opfers und schnitt ihm mit einer raschen Bewegung kurzerhand die Kehle durch.

      KAPITEL 2

      I

      Sie wurde von einem schrillen Schrei geweckt.

      Anja war von einem Augenblick zum anderen hellwach. Ruckartig setzte sie sich auf. Gehetzt und schwer atmend sah sie sich um. In der Finsternis konnte sie allerdings nichts erkennen.

      Ihr Herz klopfte so rasch und heftig, dass es schon beinahe wehtat. Sie fühlte sich, als hätte sie nach einem der Extremmarathons, die ihr Kollege mit Vorliebe lief, gerade die Ziellinie überquert.

      Schließlich realisierte sie, dass sie selbst es gewesen war, die geschrien hatte. Sie war von ihrem eigenen Schrei geweckt worden.

      Anja hob die Hände und vergrub ihr schweißnasses Gesicht darin.

      Nur ein Albtraum!

      Zweifellos.

      Aber was für einer!

      Die Bilder ihres Traums standen ihr noch immer so deutlich und lebhaft vor Augen, als handelte es sich nicht nur um bloße Traumbilder, die ihr Unterbewusstsein während des Schlafs produziert hatte, sondern als wären es reale Geschehnisse, die sie selbst erlebt hatte und die sich wegen ihrer Brutalität und Abscheulichkeit in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten.

      Und wie eine ungeliebte Erinnerung spielte sich die schreckliche Szene nun erneut vor ihrem inneren Auge ab. Sie erschauderte unter dem Ansturm der Albtraumbilder, war aber unfähig, ihn zu stoppen, und musste die brutale Ermordung des Priesters noch einmal miterleben. Und erneut sah sie alles aus der Perspektive und durch die Augen des Mörders. Als wäre sie selbst die Mörderin gewesen und hätte das tödliche Messer eigenhändig geführt, um ihrem Opfer einen Stich nach dem anderen zu versetzen; bis hin zum letzten, dem finalen, lebensbeendenden Schnitt durch die Kehle des alten Mannes.

      Anja schüttelte den Kopf. Sie wollte diesen furchtbaren Gedanken abschütteln, bevor er sich in ihrem Verstand verwurzeln und sie weiter quälen konnte.

      Nur ein Albtraum!, wiederholte sie trotzig den einzig tröstlichen Gedanken, der ihr in diesem


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