IM ANFANG WAR DER TOD. Eberhard Weidner
Krieger sprang nicht darauf an. Seine Stimme klang normalerweise immer etwas ölig und einschleimend und erinnerte an einen Gebrauchtwagenhändler oder Versicherungsvertreter unmittelbar vor dem Vertragsabschluss; vor allem, wenn er mit Frauen oder Vorgesetzten sprach. Doch dieses Mal war nichts davon herauszuhören. Stattdessen klang seine Stimme geradezu geschäftsmäßig ernst.
»Ich weiß, was laufen ist«, sagte er humorlos.
Anja seufzte. Sonst ärgerte sie sich immer über Kriegers dumme und geradezu primitive Kommentare. Aber wenn er wie jetzt vollkommen darauf verzichtete, war ihr das dann auch wieder nicht recht, weil es alles andere als normal war. Ihr Instinkt sagte ihr, dass mit ihm irgendetwas nicht stimmte und er sich deshalb so seltsam verhielt. Sie wusste allerdings nicht, was nicht stimmte. Vermutlich hatte es mit dem Grund seines Anrufs zu tun. Deshalb wollte sie endlich wissen, worum es eigentlich ging.
»Wie wär’s, wenn du mir endlich sagst, warum du mich um diese Uhrzeit anrufst? Bestimmt nicht nur, um mit mir zu plaudern. Vor allem, weil du heute anscheinend nicht zum Plaudern aufgelegt bist.«
»Stimmt«, war alles, was er darauf erwiderte.
Seine ungewohnte Wortkargheit trieb Anja allmählich zur Weißglut. Sie hatte eine furchtbare Nacht hinter sich und wusste noch nicht einmal, was eigentlich genau passiert war. Da konnte sie so etwas nicht auch noch gebrauchen. Sie stöhnte daher laut, sodass er es hören musste. »Ich verliere wirklich bald die Geduld mit dir, Krieger. Entweder lässt du mich mit deinem Partner reden, damit ich endlich mit einem vernunftbegabten Erwachsenen sprechen kann, oder du sagst mir gefälligst, was los ist.« Sie wartete seine Antwort jedoch gar nicht erst ab, sondern fuhr unverzüglich fort: »Lass mich raten: Ihr habt ein neues Mordopfer. Und nach einem Blick in die Datei über Vermisste, unbekannte Tote und unbekannte hilflose Personen beim BKA habt ihr festgestellt, dass es sich um einen meiner Vermissten handelt. Und jetzt rufst du mich an, damit ich zu euch ins Institut für Rechtsmedizin komme, um die Leiche zu identifizieren. Und? Habe ich recht oder habe ich recht?«
»Teilweise«, erwiderte Krieger knapp. Welche Laus auch immer ihm über die Leber gelaufen war, sie musste riesig gewesen sein.
»Was meinst du damit?« Anja runzelte die Stirn, während sie darüber nachdachte. »Jetzt lass dir nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen und rede gefälligst in ganzen und verständlichen Sätzen mit mir!«
»Wir haben tatsächlich ein neues Mordopfer …«
»Aber …?«
»Wir kennen bereits seine Identität. Und ausnahmsweise handelt es sich nicht um einen deiner Vermisstenfälle.« Damit wollte er vermutlich darauf anspielen, dass sie im Fall des Apokalypse-Killers gleich mehrere vermisste Frauen verloren hatte, weil der Täter sie zunächst entführt und anschließend getötet hatte. »Außerdem sollst du nicht ins Institut für Rechtsmedizin, sondern zum Tatort kommen.«
»Aber wieso? Was habe ich mit eurem Mordopfer zu schaffen, wenn es keiner meiner Fälle ist? Und wozu braucht ihr mich dann am Tatort, wenn ich euch ohnehin nicht bei der Identifizierung helfen muss?«
Einerseits war Anja erleichtert, dass sich nicht schon wieder einer ihrer Fälle durch den Tod der vermissten Person erledigt hatte. Andererseits beunruhigte sie Kriegers Anruf über alle Maßen. Sie musste an den Albtraum und den Wodka denken und hatte das unangenehme Gefühl, dass dieses Telefonat nichts anderes war als eine Fortsetzung der Katastrophenserie, mit der dieser Tag begonnen hatte.
»Das erzählen wir dir, wenn du hier bist.«
Anja sah ein, dass sie von einem ungewöhnlich wortkargen und ernsten Krieger keine weiteren Informationen bekommen würde. Es schien ihm im Gegenteil geradezu einen Mordsspaß zu bereiten, sie weiterhin im Unklaren und zappeln zu lassen, auch wenn er sich davon nichts anmerken ließ.
Sie seufzte. »Na schön, ich komme. Wo finde ich euch?«
Als der Mordermittler ihr die Adresse nannte, überlief es sie eiskalt. Die düstere Vorahnung, die sie bislang erfüllt hatte, verwandelte sich jäh in eine schreckliche Gewissheit und ließ sie erschaudern.
KAPITEL 4
I
Als sie sich dem Altarraum der Kirche näherte, fiel ihr als Erstes der einzelne blutige Handabdruck an der weißen Wand auf. Er wirkte auf sie wie ein unheimliches Vorzeichen für das, was sie an diesem Ort erwartete.
Sie musste sich zwingen, nicht erschrocken innezuhalten. Beklommen ging sie näher heran und war darum bemüht, sich ihre Beklommenheit nicht anmerken zu lassen. Während sie das tat, erkannte sie weitere Einzelheiten.
Unmittelbar unterhalb des roten Abdrucks lag der leblose Körper, der ihn verursacht hatte, vor den sechs Stufen, die zum erhöhten Altarbereich der Kirche führten. Er war mit einem weißen Tuch abgedeckt, sodass Anja sein Anblick fürs Erste erspart blieb.
Krieger und Englmair, die beiden Mordermittler, standen in der Nähe der Leiche und unterhielten sich flüsternd. Es sah so aus, als wären sie unterschiedlicher Meinung. Während Krieger auf ihn einredete und dabei mit den Händen gestikulierte, schüttelte Englmair, der einen Notizblock und einen Kugelschreiber hielt, immer wieder entschieden den Kopf. Auch das halbe Dutzend Kollegen von der Kriminaltechnik in ihren weißen Overalls, die das Kirchenschiff gründlich unter die Lupe nahmen, sowie zwei uniformierte Beamte verhielten sich ungewohnt leise. Obwohl sich also fast ein Dutzend Personen in der Kirche aufhielten, war es ungewöhnlich ruhig. Das lag vermutlich in erster Linie daran, dass sie sich in einem Gotteshaus aufhielten. In Kirchen senkten die meisten Menschen automatisch ihre Stimmen, als wäre es ein Sakrileg, laut zu sprechen.
Obwohl Anja sich bemühte, leise aufzutreten, verursachten die Absätze ihrer schwarzen Lederstiefel dennoch laut klackende Geräusche auf den Bodenfliesen und kündigten den beiden Mordermittlern ihre Ankunft an. Sie verstummten daher in diesem Augenblick und wandten synchron die Köpfe in ihre Richtung, als die Kollegin von der Vermisstenstelle den Mittelgang verließ und sich ihnen und dem Leichnam näherte.
Wegen der herbstlichen Kühle an diesem frühen Morgen trug Anja über ihrer schwarzen Jeanshose und dem dunkelgrauen Rollkragenpullover einen schwarzen Mantel. Sie begrüßte zuerst Englmair und dann etwas widerwilliger auch Krieger wortlos mit einem Nicken. Zwei Meter von der zugedeckten Leiche entfernt blieb sie schließlich bei den beiden Mordermittlern stehen.
Obwohl sie charakterlich absolute Gegensätze waren, wodurch sie wie die beiden Seiten einer Münze wirkten und sich in ihrer Arbeit als Mordermittlerteam so hervorragend ergänzten, wurden sich die beiden Männer äußerlich von Jahr zu Jahr immer ähnlicher. Beide waren leicht übergewichtig und hatten rasierte Köpfe. Sie unterschieden sich vor allem in ihrer Kleidung und ihrer Körpergröße. Der einundvierzigjährige Englmair war mit seinen eins achtzig nämlich ganze zehn Zentimeter größer als sein drei Jahre jüngerer Kollege. In der Dienststelle wurden die beiden oft als siamesische Zwillinge bezeichnet, da man einen von ihnen fast nie allein, sondern beide in der Regel nur im Doppelpack antraf.
Ein weiterer Unterschied, der Anja in diesem Augenblick besonders bewusst wurde, bestand in ihren Gesichtsausdrücken. Denn während der gutmütig wirkende Englmair Anja mit einem freundlichen Lächeln begrüßte, sah der missmutige Krieger sie mit düsterer Miene so argwöhnisch und vorwurfsvoll an, als wäre sie die Hauptverdächtige in einem Mordfall.
Der Gedanke, der ihr ungewollt und ungebeten in den Sinn gekommen war, machte ihr unwillkürlich Angst. Anja schluckte, bemühte sich aber, sich von ihren wahren Gefühlen nichts anmerken zu lassen.
»Da bin ich!«, sagte sie, als sähen ihre Kollegen das nicht selbst, und breitete die Arme aus. »Könnt ihr zwei mich jetzt endlich darüber aufklären, warum ich um diese Uhrzeit unbedingt hierherkommen musste.« Sie vermied es, einen genaueren Blick auf die Leiche zu werfen, obwohl durch die Decke nur die Umrisse eines auf der Seite liegenden Menschen zu erkennen waren. Stattdessen richtete sie ihren fragenden Blick auf Englmair, von dem sie sich eher eine vernünftige Antwort auf ihre Frage erhoffte.
Doch es war Krieger, der ihr