IM ANFANG WAR DER TOD. Eberhard Weidner
der Bewegung automatisch mit den Augen und starrte die verdeckte Leiche an.
Seit Krieger ihr gesagt hatte, wohin sie kommen sollte, hatte sich die düstere Ahnung, um wen es sich bei dem Mordopfer handelte, in schreckliche Gewissheit verwandelt. Doch sie ließ sich davon nichts anmerken und spielte weiterhin die Ahnungslose. Noch wusste sie schließlich nicht, was hier eigentlich los war.
Bis zum gestrigen Tag war ihr Leben im Grunde noch halbwegs in Ordnung gewesen. Dann hatte sie im Traum aus der Perspektive des Täters die Ermordung eines Priesters miterlebt, den sie vor vielen Jahren gekannt hatte. Anschließend hatte sie auch noch feststellen müssen, dass sie nach Monaten der Abstinenz wieder trank. Das alles hatte dazu geführt, dass Anja sich mittlerweile so fühlte, als säße sie in einem führerlosen Fahrzeug, das sie in halsbrecherischer Fahrt an ein unbekanntes Ziel beförderte, ohne dass sie eine Möglichkeit gehabt hätte, den Kurs zu beeinflussen oder den Wagen abzubremsen.
»Wer ist das?«
»Jetzt tu bloß nicht so, als wüsstest du das nicht schon längst«, sagte Krieger und funkelte sie zornig an.
»Und woher soll ich das bitte schön wissen? Ich bin schließlich gerade erst gekommen. Und außerdem ist der Leichnam zugedeckt.«
»Verarsch uns bloß nicht, Spangenberg!«
Anja wandte den Blick ab und sah stattdessen Englmair an. »Kannst du mir vielleicht sagen, was in deinen Kollegen gefahren ist? Hat er gerade seine Tage oder was?«
»Weißt du, wo wir hier sind?«, reagierte Englmair mit einer Gegenfrage.
Anja machte sich gar nicht erst die Mühe, sich genauer umzusehen. Sie wusste ganz genau, wo sie sich befanden. »Wir sind in einer katholischen Kirche im Stadtteil Obermenzing. Sie heißt Leiden Christi.«
Englmair nickte bestätigend. »Warst du schon mal hier?«
Anja nickte seufzend und sah sich jetzt doch um. Zusätzlich zu den Decken- und Wandlampen hatten die Kriminaltechniker mobile Scheinwerfer aufgestellt, sodass der Innenraum der Kirche taghell ausgeleuchtet wurde. So hatte sie diesen Ort noch nie gesehen. Dennoch war er ihr noch immer vertraut, denn seit ihrer Kindheit hatte sich hier drin kaum etwas verändert.
»Ich bin in der Nähe aufgewachsen und wurde an diesem Ort getauft«, sagte sie. »Als Kind bin ich hier oft zum Gottesdienst gegangen. Und hier habe ich auch meine Erstkommunion gefeiert.«
»Wenn du diesen Mordschauplatz schon so gut kennst, dann kannst du doch sicherlich auch erraten, wer hier ermordet wurde«, sagte Krieger und grinste höhnisch.
Anja sah erneut auf den zugedeckten Leichnam. Auch wenn sie heute Nacht nicht von der Ermordung eines Geistlichen geträumt hätte, hätte sie allein aufgrund des Fundorts als Erstes darauf getippt, dass der Pfarrer dieser Kirchengemeinde das Mordopfer war.
»Ich nehme mal an, dass es sich um den Pfarrer handelt«, sagte sie daher.
»Du nimmst es also mal an.« Krieger schüttelte den Kopf, als könnte er nicht glauben, was er gehört hatte. »Oder ist es nicht eher so, dass du ganz genau weißt, wer das Opfer ist, weil du ihn kennst.«
»Was soll das hier eigentlich werden, Englmair?«, beschwerte sie sich. »Bin ich etwa plötzlich die Verdächtige in einem Mordfall? Wenn ja, sollten dieser Knallkopf und du mir besser erst einmal meine Rechte vorlesen.«
»Quatsch!«, sagte der Angesprochene und schüttelte den Kopf. »Du bist keine Verdächtige.«
»Ach, ist sie das nicht?« Krieger sah seinen Kollegen verärgert an.
»Nein!«, antwortete Englmair entschieden und schränkte dann ein. »Zumindest im Moment noch nicht. Sie ist noch immer eine geschätzte Kollegin von der Vermisstenstelle. Und alle Verdachtsmomente, die sich hinsichtlich dieses Mordfalls gegen sie ergeben, werden wir klären. Oder traust du der Kollegin wirklich zu, einen derartig kaltblütigen und brutalen Mord zu begehen?«
»Warum nicht?«, erwiderte Krieger wie aus der Pistole geschossen und sah Anja finster an. »Schließlich hat sie auch den Apokalypse-Killer getötet.«
»Das war Notwehr!«, sagten Anja und Englmair wie aus einem Mund.
»Behauptet sie«, sagte Krieger trotzig, als wollte er unbedingt das letzte Wort behalten.
Anja schüttelte den Kopf. Mit jeder weiteren Minute, die verging, wuchs ihre Beunruhigung. Was zum Henker war hier bloß los? Krieger hielt sie für eine Verdächtige in diesem Mordfall und traute ihr zu, einen kaltblütigen, brutalen Mord zu begehen. Er bezweifelte sogar, dass sie den Apokalypse-Killer in Notwehr getötet hatte. Englmair hielt zwar zu ihr, hatte jedoch einschränkend gemeint, dass sie noch keine Verdächtige wäre. Außerdem hatte er von Verdachtsmomenten ihr gegenüber gesprochen.
Welche Verdachtsmomente?
Sie erinnerte sich natürlich sofort wieder an den allzu realistisch wirkenden Albtraum, der ausgerechnet an diesem Ort stattgefunden und den Mord an dem Geistlichen gezeigt hatte. War es etwa mehr als nur ein Traum gewesen? Aber wie konnte sie dann davon geträumt haben? Das hieße doch, dass sie zumindest persönlich anwesend gewesen sein musste, um hinterher überhaupt davon träumen zu können.
Der Gedanke machte ihr Angst, deshalb verfolgte sie ihn nicht weiter. Ihr wurde immer mulmiger zumute. Sie wollte endlich Gewissheit darüber haben, was hier geschehen war und was sie damit zu tun hatte.
»Was ist jetzt?«, fragte sie. »Handelt es sich bei dem Opfer um den Pfarrer oder nicht?«
»Sieh es dir am besten selbst an«, sagte Englmair und nickte Krieger zu. Der ging umgehend zur Leiche, bückte sich und zog wie ein Zauberkünstler auf der Bühne mit einem Ruck die Decke zur Seite. Fehlte eigentlich nur noch, dass im Hintergrund eine Kapelle einen Tusch spielte.
II
Anja hätte am liebsten die Augen geschlossen, um dem furchtbaren Anblick zu entgehen oder ihn zumindest hinauszuzögern, damit sie sich mental darauf vorbereiten konnte. Doch dafür war es zu spät. Wie ein Kind, das ins Wasser geworfen wird, damit es auf die harte Tour schwimmen lernt, wurde sie mit dem Anblick der Leiche konfrontiert.
Ihre üblichen Reaktionen beim Anblick eines toten Menschen setzten umgehend ein. Ihr wurde schlecht, ihr Herzschlag beschleunigte sich, und der Schweiß brach ihr aus. Alles in ihr, jede einzelne Faser ihres Körpers, schrie danach, sich herumzuwerfen und aus der Kirche zu rennen. Doch wie immer widersetzte sie sich dem Fluchtimpuls standhaft und blieb an Ort und Stelle, so schwer ihr das auch fiel. Obwohl sie in ihrer Laufbahn schon mehrere Leichen gesehen hatte, wurde es nicht besser, sondern war jedes Mal mindestens genauso schlimm wie zuvor.
Dann legte sich ihre panische Angst endlich ein wenig, sodass sie wieder in der Lage war, vernünftig zu überlegen.
Er ist es tatsächlich!, war ihr erster Gedanke. Aber wie ist das möglich? Wie konnte ich in der Nacht, als er starb, von seiner Ermordung träumen, so als hätte ich selbst das Messer geführt, ohne dabei gewesen zu sein?
Ihre Gedanken wirbelten wie ein Schwarm Schmetterlinge durcheinander, während sie über diese Fragen nachdachte. Die einzig logische Schlussfolgerung, die sich zwangsläufig daraus ergab, ließ sie erschaudern und sorgte dafür, dass sich ein eisiger Klumpen aus ungetrübter Angst in ihrem Magen bildete.
Ich konnte nur davon wissen und den Mord so lebhaft und detailliert im Traum erleben, wenn ich tatsächlich dabei gewesen war!, gab sie sich schließlich selbst die Antwort auf ihre Fragen.
Aber war das wirklich so undenkbar, wie es ihr erschien?
Während ihr all diese Überlegungen blitzartig durch den Kopf schossen, ruhte ihr fassungsloser Blick weiterhin auf dem Leichnam des Mannes, dessen Ermordung sie geträumt hatte.
Er sah exakt so aus wie in ihrem Albtraum, was den Eisklotz aus Angst in ihren Eingeweiden sofort erheblich anwachsen ließ. Seit sie ihn vor dreiundzwanzig Jahren zum letzten Mal bewusst gesehen hatte, war er sichtlich gealtert. Er musste mittlerweile Ende fünfzig oder Anfang sechzig sein. Das kurz geschnittene