IM ANFANG WAR DER TOD. Eberhard Weidner
viel wichtiger war, hatte Anja sie ganz allein ausgetrunken? Es erweckte zumindest den Eindruck, als wäre es so gewesen, denn auf dem Couchtisch stand nur ein einziges halbvolles Glas. Und auch der bohrende Schmerz in ihrem Kopf, der mit jedem Atemzug intensiver wurde, und all die anderen Begleiterscheinungen sprachen dafür, dass sie eine Menge Alkohol getrunken hatte. Aber doch keine ganze Flasche!
Oder etwa doch?
Anja wandte sich rasch ab und eilte ins Badezimmer. Ihr war plötzlich schlecht geworden. Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig, Klodeckel und -brille nach oben zu klappen, bevor sie sich übergeben musste.
Als der Würgereiz endlich nachließ, spülte sie das stinkende Ergebnis ihres Übelkeitsanfalls rasch hinunter. Allerdings war der Geschmack in ihrem Mund um keinen Deut besser.
Während sie sich aufrichtete, wurde ihr erneut schwarz vor Augen. Doch dieses Mal lichtete sich die Schwärze sofort wieder, ohne dass ihr schwindelig wurde und sie umzufallen drohte. Sie ging auf wackligen Beinen zum Waschbecken und wurde dort mit ihrem Ebenbild im Spiegelschrank konfrontiert.
»Na prima!«, sagte sie mit krächzender Stimme, denn sie sah exakt so aus, wie sie sich fühlte.
Die verschwitzte Haut ihres herzförmigen Gesichts mit den markanten Wangenknochen war bleich und sah ungesund aus. Die grünen Augen waren blutunterlaufen und glänzten fiebrig. Und ihre kurzen, dunkelblonden Haare standen auf der linken Seite wie beim Struwwelpeter ab, während sie auf der anderen Seite angeklatscht waren und schweißfeucht glänzten.
Gut, dass Konstantin heute Nacht nicht bei mir übernachtet hat, dachte sie. Ein solcher Anblick hätte ihn ansonsten vielleicht dazu bringen können, sein Heil in der Flucht zu suchen.
Anjas Mund, der, wenn sie ein Mitspracherecht gehabt hätte, gern etwas schmaler hätte sein können, verzog sich zur Andeutung eines Grinsens. Es verschwand allerdings augenblicklich wieder, als sie sich an die leere Wodkaflasche im Wohnzimmer erinnerte.
Ich dachte, der Traum, den ich hatte und in dem der Pfarrer ermordet wurde, wäre der Albtraum, dachte sie. Aber ich habe mich getäuscht. In Wahrheit ist das hier der echte Albtraum!
Als sie den Blick vom Spiegel abwandte und an sich heruntersah, fiel ihr zum ersten Mal auf, dass sie nicht wie sonst in T-Shirt und Schlüpfer geschlafen hatte, sondern eine schwarze Jeans und einen schwarzen Kapuzenpulli trug. Kein Wunder also, dass sie so stark geschwitzt hatte. Die Sachen waren feucht und klebten teilweise auf ihrer Haut.
Sie zog den Pulli über den Kopf. Darunter hatte sie ein dunkelgraues T-Shirt an. Es war völlig durchgeschwitzt. Sie fröstelte, als der Schweiß auf ihrer Haut trocknete und ihr dadurch kalt wurde.
Rasch entledigte sich Anja der übrigen Kleidungsstücke einschließlich ihres verschwitzten Schlüpfers und der Socken, bis sie nackt und frierend vor dem Waschbecken stand.
Aus Gewohnheit öffnete sie den Teil des Spiegelschranks, in dem sich ihre karge Hausapotheke befand.
Bis zum Fall des Apokalypse-Killers, der damit geendet hatte, dass sie ihn auf dem Waldfriedhof in Notwehr getötet hatte, hatte sie nach ihren regelmäßig wiederkehrenden Albträumen stets wie unter Zwang nach einer Schachtel Schlaftabletten gegriffen. Sie waren ihr wegen ihrer zeitweiligen Schlaflosigkeit aufgrund ihrer damaligen Eheprobleme verschrieben worden; doch Anja hatte sie nie eingenommen. Stattdessen hatte sie die Pillen für den Fall aufbewahrt, dass ihr irgendwann einmal alles zu viel werden und sie nach einem leichten Ausweg suchen sollte. Beim Anblick der Tabletten hatte sie stets den Lockruf des Abgrunds vernommen, der jenseits der Schwelle lag, die der Tod für die Lebenden darstellte. Doch zum Glück hatte sie dem Sirenengesang nie nachgegeben, sondern das Rendezvous mit dem Sensenmann, das allen Menschen früher oder später bevorstand, ein ums andere Mal aufgeschoben. Nach den Erlebnissen mit dem Serienkiller Johannes war der Lockruf dann endlich verstummt. Anja hatte die Tabletten am Grab ihres Vaters ins regennasse Gras fallen lassen. Und den Wodka, mit dem sie die Tabletten im Fall des Falles hatte hinunterspülen wollen, hatte sie weggeschüttet.
Fast erwartete sie nun, die Schlaftabletten wären ebenso wie die Wodkaflasche in ihr Leben zurückgekehrt. Doch das war zum Glück nicht der Fall. Die Stelle, an der sie früher immer gelegen hatten, war noch immer verwaist. Und auch der Lockruf des Abgrunds jenseits des Todes, den sie früher beim Anblick des Einschlafmittels verspürt hatte, blieb ihr erspart. Sie hatte nicht länger das Gefühl, der Tod wäre eine einfache und praktikable Möglichkeit, all ihre Probleme auf einen Schlag zu lösen. Die Begegnung mit dem Apokalypse-Killer, so schrecklich sie auch gewesen war und so vielen Leuten er den Tod gebracht hatte, hatte ihr zumindest den unbedingten Willen zum Weiterleben zurückgegeben. Und dafür war sie zutiefst dankbar.
Dennoch fragte sie sich, als sie den Spiegelschrank wieder schloss, was hier eigentlich los war. Woher kam die Wodkaflasche? Hatte sie selbst sie besorgt, ohne dass sie sich daran erinnern konnte? Und hatte sie dann die Flasche ausgetrunken und auf der Couch das Bewusstsein verloren, um in einem der fürchterlichsten Albträume mitzuerleben, wie ein Geistlicher, den sie vor vielen Jahren gekannt hatte, ermordet wurde?
Das kann doch alles nicht wahr sein!, dachte Anja. Wie an einen Strohhalm klammerte sie sich verzweifelt an den plötzlich in ihr aufkeimenden Einfall, dass sie noch immer träumte. Dass sie weiterhin tief und fest schlief und der Albtraum noch gar nicht zu Ende gegangen war.
Doch dann überzeugte der Schmerz in ihrem Kopf sie davon, dass sie wach war und nicht träumte.
Ihr wurde erneut bewusst, dass sie großen Durst hatte und fror. Außerdem stank sie nach dem Schweiß, der zum größten Teil auf ihrem Körper getrocknet war. Alles in ihr sehnte sich nach einer heißen Dusche. Sie wusste zwar nicht, wie spät es war, doch ihre innere Uhr sagte ihr, dass es noch ein paar Stunden dauern würde, bis der neue Tag heraufdämmerte. Und da sie ohnehin so schnell keinen Schlaf finden würde, weil ihr so viele beunruhigende und beängstigende Gedanken durch den Kopf gingen, konnte sie genauso gut duschen, sobald sie sich die Zähne geputzt hatte, um den üblen Geschmack loszuwerden, und etwas Wasser getrunken hatte, um ihren Durst zu stillen.
Wenn sie hinterher immer noch nicht müde war, wollte sie einen großen Becher Kaffee trinken und anschließend eine Runde durch den Westpark joggen. Vielleicht kam sie dabei auf andere Gedanken.
KAPITEL 3
I
Doch aus dem Laufen wurde leider nichts.
Nachdem sie geduscht hatte, fühlte sie sich schon erheblich besser. So als hätte sie damit nahezu alle körperlichen Nachwirkungen des Alkoholkonsums und des Albtraums einfach wegwaschen können. Obwohl sie sich noch immer lebhafter, als ihr lieb war, an die Ermordung des katholischen Priesters erinnerte, standen ihr die Bilder nicht mehr ständig anklagend vor Augen. Und auch die Kopfschmerzen waren wesentlich schwächer geworden. Deswegen verzichtete sie auch darauf, eine Schmerztablette zu nehmen.
Die Welt sah also schon wieder etwas besser aus, als Anja, lediglich in einem Bademantel gehüllt, in der Küche saß und den ersten Becher Kaffee des Tages trank.
Um das angenehme Gefühl, das sie erfüllte, nicht sofort wieder im Keim zu ersticken, vermied sie es bewusst, an die leere Wodkaflasche im Wohnzimmer zu denken. Oder sich darüber den Kopf zu zerbrechen, warum sie sich nicht daran erinnern konnte, dass sie diese gekauft und den Alkohol getrunken hatte. Denn jedes Mal, wenn sie ihre Gedanken in diese Richtung lenkte, stieß sie nicht auf die fraglichen Erinnerungen, sondern nur auf eine blanke, leergefegte Fläche.
Ein Blackout!
Aus der unrühmlichen Phase ihres Lebens, als sie zu viel und zu regelmäßig getrunken hatte, um ihre Sorgen und Probleme im Alkohol zu ertränken, kannte sie solche Blackouts. Doch irgendwie fühlte es sich heute anders an als früher. Es fühlte sich nicht richtig an! Allerdings konnte Anja zu ihrem Bedauern nicht sagen, was genau sie daran störte. Sie wusste nur, dass es nicht so war, wie es eigentlich sein sollte. Und das beunruhigte sie.
Deshalb vermied sie für den Moment nach Möglichkeit alle Überlegungen, die in diese Richtung gingen. Sie wusste ohnehin,