TODESJAGD. Eberhard Weidner

TODESJAGD - Eberhard Weidner


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      Anjas Onkel hieß Christian Kramer. Er war der Bruder ihres Vaters. Schon bald nach dessen Beisetzung war er für alle überraschend nach Südafrika ausgewandert und hatte jeglichen Kontakt zu seiner Nichte und seiner Schwägerin abgebrochen. Er hatte in Kapstadt als Ingenieur gearbeitet, geheiratet und zwei Kinder bekommen. Seine Frau war vor ein paar Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.

      Vor etwas über einem Jahr war er nach Deutschland zurückgekehrt, um in der alten Heimat seinen Lebensabend zu verbringen. Doch erst nachdem ein paar Monate später sein Sohn Oliver und seine Tochter Judith nachgekommen waren, um hier zu studieren, hatte er Kontakt zu Anjas Mutter aufgenommen. Sie hatten sich daraufhin alle zum Essen getroffen, um sich wieder miteinander vertraut zu machen oder neu kennenzulernen.

      Zur gleichen Zeit hatte der sogenannte Bibel-Killer Menschen aus Anjas Vergangenheit ermordet und versucht, ihr die Morde in die Schuhe zu schieben. Im Laufe ihrer Ermittlungen in diesem Fall war sie allmählich zur Überzeugung gelangt, ihr Onkel könnte der Mörder ihres Vaters sein.

      Jahrelang waren alle davon überzeugt gewesen, ihr Vater hätte Selbstmord begangen, indem er sich in seinem Arbeitszimmer erhängt hatte. Und ausgerechnet die elfjährige Anja war es damals gewesen, die seine Leiche entdeckt hatte; ein traumatisches Erlebnis, dass sie bis heute in regelmäßigen furchtbaren Albträumen verfolgte.

      Der Apokalypse-Killer hatte ihr nach jedem Mord einen Umschlag mit einem Auszug aus der Apokalypse des Johannes, einer historischen Zeichnung der apokalyptischen Reiter und einem Ausweisdokument des jeweiligen Opfers geschickt. Nachdem Anja ihn getötet hatte, entdeckte sie bei einem Besuch am Grab ihres Vaters einen weiteren derartigen Umschlag. Doch da der Apokalypse-Killer tot war, konnte er das Kuvert nicht für sie dort hinterlassen haben. Also musste er einen Komplizen oder Hintermann gehabt haben, der noch immer frei herumlief und vermutlich schon seine nächsten Verbrechen plante.

      In dem Umschlag fand Anja ein Foto ihres Vaters. Es zeigte ihn so, wie sie ihn auch in seinem Arbeitszimmer vorgefunden hatte. Dort hatte sein lebloser Körper mit einem Strick um den Hals am Haken der Deckenlampe gehangen. Doch auf der Aufnahme hatte ihr Vater die Augen geöffnet. Er war noch am Leben und sah mit panikerfülltem Blick und voller Todesangst in die Kamera.

      Seitdem wusste sie, dass ihr Vater keinen Suizid verübt hatte, sondern ermordet worden war. Außer ihr kannten allerdings nur der Mörder und Hans Baumgartner die Wahrheit. Den ehemaligen Freund und Kollegen ihres Vaters hatte sie aufgesucht, um ihn über die Ereignisse unmittelbar vor dem Tod ihres Vaters zu befragen.

      Zum Zeitpunkt seines Todes hatten Frank Kramer und Hans Baumgartner versucht, das spurlose Verschwinden von drei jungen Mädchen aufzuklären. Dabei waren sie jedoch keinen einzigen Schritt vorangekommen.

      Die zwölfjährige Melanie Brunner, die elfjährige Daniela Forstner und die gleichaltrige Helena König waren innerhalb weniger Wochen auf dem Nachhauseweg verschwunden, ohne eine Spur oder einen Hinweis darauf zu hinterlassen, was mit ihnen geschehen war. Die Mädchen hatten sich nicht gekannt, waren sich, wie es schien, nie begegnet und hatten auch keine gemeinsamen Freunde oder Bekannten. Alles was sie miteinander verband, war ihr auffallend langes dunkelbraunes Haar. Außerdem sprach die zeitliche und räumliche Nähe ihres Verschwindens dafür, dass es einen Zusammenhang zwischen den Fällen geben musste. Aus diesem Grund wurde eine Sonderkommission unter Leitung von Kriminalhauptkommissar Frank Kramer gebildet.

      Offiziell waren die damaligen Ermittlungen im Sande verlaufen. Es war zwar kein weiteres Mädchen verschwunden, doch Melanie, Daniela und Helena waren bis heute nicht wieder aufgetaucht. Anja hegte allerdings den unbegründeten Verdacht, dass ihr Vater dem Entführer und mutmaßlichen Mörder der Mädchen durchaus auf die Schliche gekommen war. Doch da es sich dabei um seinen eigenen Bruder handelte, hatte er niemandem etwas gesagt. Er wollte Christian zunächst zur Rede stellen und auf Nummer sicher gehen, bevor er den Bruder öffentlich der Entführung und des Mordes beschuldigte.

      Von ihrer Mutter und Baumgartner wusste Anja, dass die beiden Brüder zum damaligen Zeitpunkt heftig gestritten hatten. Christian behauptete, Anjas Vater sei nicht damit einverstanden gewesen, als er von den Plänen seines Bruders erfahren hatte, nach Südafrika auszuwandern. Aus diesem Grund sei es damals zum Zerwürfnis zwischen ihnen gekommen. Doch Anja glaubte ihm nicht.

      Der zeitliche Ablauf passte ihrer Meinung nach einfach zu perfekt zu ihrer Version, was sich ereignet hatte. Zuerst tötete Christian seinen Bruder und damit die einzige Person, die außer ihm selbst wusste, dass er drei Mädchen entführt und höchstwahrscheinlich ermordet hatte. Unmittelbar nach der Beisetzung brach er seine Zelte in Deutschland ab und verschwand nach Südafrika, ohne sich von Anja und ihrer Mutter zu verabschieden. Und zeitgleich mit seinem Verschwinden endeten auch die Entführungen junger Mädchen mit langen dunkelbraunen Haaren in München.

      Jahrzehnte später tauchte er ebenso unvermittelt wieder in seiner alten Heimatstadt auf. Und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, unmittelbar bevor der Apokalypse-Killer sein erstes Opfer entführte, das er drei Monate lang gefangen hielt, hungern ließ und schließlich mit Natriumpentobarbital tötete.

      Anja verdächtigte ihren Onkel nicht nur der Entführung und Ermordung der drei Mädchen, von denen das Letzte mit Anja in eine Klasse gegangen war. Ihrer Meinung nach hatte er auch ihren Vater umgebracht und die Tat wie einen Suizid aussehen lassen. Damit hatte er alle mit dem Fall befassten Beamten, darunter den damaligen Todesermittler und den zuständigen Rechtsmediziner, getäuscht. Darüber hinaus hatte er dem Apokalypse-Killer bei seinen Morden geholfen und Anjas Ehemann getötet, um die Schuld auf ihn zu lenken, indem er ihn erdrosselte und in seinem Arbeitszimmer aufhängte. Zweifellos wollte er damit vor allem Anja schockieren, denn erneut war sie es, die den Leichnam eines geliebten Menschen fand. Und am Ende, mit dem vierten Opfer des Apokalypse-Killers, sollte sie schließlich die Leiche ihrer Cousine finden und damit zum dritten zu spät kommen, um einen Menschen, den sie liebte, vor dem Tod zu bewahren. Daran, so der Plan des skrupellosen Komplizen des Apokalypse-Killers, sollte Anja innerlich zerbrechen.

      Doch Anja gelang es, seine perfiden Pläne zu durchkreuzen, indem sie den Killer tötete und ihre Cousine rettete.

      Drei Monate später trat allerdings ein neuer Mörder auf den Plan, der Bibel-Killer. Vom ersten Mord an war Anja vollauf damit beschäftigt, den Verdacht von sich zu lenken und Beweise zu beseitigen, die sie belasteten. Gleichzeitig versuchte sie verzweifelt, die Wahrheit herauszufinden. Doch die ganze Zeit über wurde sie von dem Serienkiller geschickt manipuliert. Zunächst glaubte sie sogar selbst, sie hätte diese Morde unter Alkoholeinfluss begangen und könnte sich nicht mehr daran erinnern. Dann gelangte sie gezwungenermaßen zur Überzeugung, ihre Cousine Judith wäre die Mörderin. In Wahrheit steckte allerdings ihr Cousin Oliver dahinter, der auch den Unfalltod seiner Mutter in Südafrika herbeigeführt und eine Handvoll Morde an Straßenkindern verübt hatte. Doch dann hatte jemand aus München mit ihm Kontakt aufgenommen; ein mysteriöser Mann, der sich Jack nannte und über Olivers geheimen Aktivitäten genauestens Bescheid wusste. Er hatte Oliver gewissermaßen ein Angebot gemacht, das dieser nicht ablehnen konnte. Jack würde Oliver den Boden bereiten, damit dieser seine Mordserie fortsetzen konnte. Allerdings sollte das hier in München geschehen. Und die Mordopfer, die Jack überwiegend schon ausgesucht hatte, hatten alle eins gemeinsam: Sie hatten früher ein Mädchen namens Anja Kramer gekannt, das inzwischen Spangenberg hieß und Kriminalhauptkommissarin bei der Vermisstenstelle der Kripo München war.

      Wie es schien, hatte Jack noch ein Hühnchen mit Anja zu rupfen. Er benutzte zunächst den Apokalypse-Killer und nach dessen Scheitern den Bibel-Killer, um es ihr heimzuzahlen. Allerdings hatte Anja keine Ahnung, warum der Mann, der sich Jack nannte, es auf sie abgesehen hatte. Sie glaubte jedoch, dass es mit dem Tod ihres Vaters und seinen damaligen Ermittlungen zusammenhing.

      Das Polaroidfoto, das ihren Vater unmittelbar vor seinem Tod zeigte und das nur sein Mörder aufgenommen haben konnte, bewies nicht nur, dass es kein Selbstmord gewesen war. Es hatte Anja zudem deutlich gemacht, dass der Mörder damals noch im Haus gewesen war, als sie den Leichnam ihres Vaters entdeckt hatte. Denn auf der Rückseite hatte er Anjas damalige Worte


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