TODESJAGD. Eberhard Weidner
Zeit immer öfter, als wäre er ihr Ersatzvater, und das ging ihr allmählich gewaltig auf die Nerven. Andererseits meinte er es nur gut. Deshalb wollte sie ihn auch nicht vor den Kopf stoßen, was sie bei jedem anderen in einer derartigen Situation vermutlich längst getan hätte, da sie jede Art von Bevormundung hasste. »Trotzdem muss ich es versuchen. Gegebenenfalls schaffe ich es, sie davon zu überzeugen, dass ich niemandem etwas verrate und fest entschlossen bin, mich zu töten. Dann vertraut sie mir womöglich etwas an, das mir bei meinen Ermittlungen weiterhilft. Es ist natürlich nur ein Strohhalm, an den ich mich klammere, das ist mir klar. Aber mehr habe ich momentan nicht in der Hand.«
»Befrag die Ex-Freundin des Studenten«, schlug Baumgartner vor. »Unter Umständen hat sie unmittelbar vor seinem Verschwinden noch mit ihm gesprochen. Und was diesen Mitbewohner angeht, der kommt mir auch nicht ganz koscher vor. Du solltest ihm noch einmal auf den Zahn fühlen und dabei die Samthandschuhe ausziehen.«
Anja nickte. »All das habe ich mir ohnehin für morgen vorgenommen. Aber bis dahin werde ich mich weiterhin bemühen, alle Aufgaben zu erfüllen, die Nemesis mir stellt. Kann gut sein, dass ich damit nur meine Zeit verschwende, aber schlimmer als eine schlaflose Nacht kann es schließlich nicht werden.«
»Warum teilst du ihr nicht einfach mit, dass du keine Lust mehr hast und aussteigst«, schlug Baumgartner vor. »Immerhin hat sie dir geschrieben, sie würde die Dinge dann selbst in die Hand nehmen. Das war meiner Meinung nach eine eindeutige Drohung. Und wenn sie dich dann wirklich umbringen will, muss sie sich dazu in deine Nähe wagen. Warum lässt du sie also nicht einfach zu dir kommen, anstatt dich auf die Suche nach einem Phantom zu machen?«
»Die Idee hatte ich auch schon. Nur funktioniert sie leider nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil ich Nemesis einen ausgedachten Namen und eine falsche Adresse genannt habe. Wenn ich aussteige und sie ihre Drohung wahrmachen will, wird sie meine Angaben genauer überprüfen. Und dabei wird sie feststellen, dass die Person, mit der sie in den letzten knapp sechs Stunden Kontakt hatte, überhaupt nicht existiert.«
»Teile ihr doch einfach mit, dass du dich nicht getraut hättest, bei der Anmeldung deinen echten Namen zu verwenden. Schließlich wusstest du nicht, wer hinter diesem merkwürdigen Club steckt.«
»Und warum sollte ich ihr dann meine echten Daten mitteilen, wenn ich die Challenge ohnehin abbrechen will und nachdem sie mir gedroht hat.« Anja schüttelte den Kopf. »In dem Fall wird sie erst recht misstrauisch werden, die Zugbrücke hochziehen und den Kontakt komplett abbrechen. Dann habe ich gar nichts erreicht und in der Tat nur meine Zeit verschwendet.«
Baumgartner seufzte. »Ich sehe schon, dass ich hier auf verlorenem Posten kämpfe. Versprich mir wenigstens, dass du vorsichtig bist.«
»Natürlich«, sagte Anja und nickte nachdrücklich. »Das bin ich doch immer.«
Er sah sie mit skeptischem Blick und gerunzelter Stirn an. »Für die Scherze bin hier immer noch ich zuständig. Aber Spaß beiseite. Ruf mich an, wenn du Hilfe brauchst. Egal, zu welcher Uhrzeit. Du weißt, dass du immer auf mich zählen kannst und ich immer für dich da bin. Das bin ich Frank schuldig. Er würde es mir nie verzeihen und mich vermutlich als Geist heimsuchen, wenn ich es zulasse, dass seinem kleinen Sonnenschein etwas zustößt.«
»Ich weiß. Und ich bin dir für dein Angebot dankbar. Aber du hast schon so viel für mich getan. Allein die Überwachung meines …«
Er vollführte eine entschiedene Handbewegung, als wollte er ihre Argumente vom Tisch wischen, woraufhin Anja verstummte. »Das ist doch kein Thema. Außerdem hab ich sonst nichts zu tun. Und solange ich dir helfen kann, fühle ich mich nicht mehr ganz so nutzlos, sondern endlich wieder lebendig. Bis du vor ein paar Monaten an meiner Tür geklingelt hast, hatte ich mich schon viel zu lange in der Wohnung vergraben und Trübsal geblasen. Also muss ich dir im Grunde dankbar sein, dass du mich da herausgeholt hast.«
Anja wollte widersprechen, doch Baumgartner ließ es nicht zu. »Da kommt unser Essen. Lass uns über etwas anderes sprechen.«
Während sie aßen, redeten sie über eine Reihe wesentlich unverfänglicherer Themen. Dann erkundigte sich Baumgartner nach ihrer Mutter und ihrer Cousine Tanja.
Anja hatte erst vorgestern mit ihrer Mutter telefoniert. Dagmar Fröhlich, wie sie seit ihrer zweiten Eheschließung hieß, war siebenundfünfzig Jahre alt und wohnte mit ihrem Mann Josef und ihrem Stiefsohn Sebastian in einem Haus im Stadtteil Sendling-Westpark. Josef Fröhlich besaß eine Druckerei, in der seine Frau noch immer als Sekretärin arbeitete.
Nach dem Tod des Vaters und Ehemannes hatten Anja und ihre Mutter unzählige Auseinandersetzungen gehabt. Das hatte allerdings, wie Anja unumwunden zugegeben hätte, wäre sie danach gefragt worden, nicht nur an ihrer Mutter gelegen. Vor allem in den letzten drei Jahren vor Anjas achtzehnten Geburtstag war es besonders schlimm gewesen. Zwischen den beiden Frauen hatte damals ein regelrechter Krieg mit bis aufs Äußerste geführten heftigen Wortgefechten geherrscht. Dabei hatte es auf beiden Seiten zahlreiche Verletzungen gegeben. Nahezu jedes Thema war damals kontrovers beurteilt und diskutiert worden. Und dass Anja ihren Stiefbruder von Anfang an absolut nicht ausstehen konnte und mit ihren Gefühle nicht hinter dem Berg hielt, war nur einer der Tropfen gewesen, die das Fass oft zum Überlaufen gebracht hatten. Erst seit Anjas langersehntem Auszug, sobald sie volljährig geworden war, hatte sich ihr Verhältnis allmählich gebessert. Sie waren sich immer noch in vielen Dingen uneins. Doch beide Seiten bemühten sich, den mühsam errungenen, oftmals fragil wirkenden Waffenstillstand nicht zu brechen. Wenn sie miteinander sprachen – meistens am Telefon, denn Dagmar bestand darauf, dass ihre Tochter sie regelmäßig anrief, und weitaus seltener von Angesicht zu Angesicht – war sich jede der beiden Frauen des brüchigen Friedens bewusst. Aus diesem Grund bewegte sich jede von ihnen so vorsichtig an der unsichtbaren Demarkationslinie entlang, als liefen sie auf Eiern. Eins der Themen, die sie unterschiedlich beurteilten und daher meistens vermieden, war Anjas Beruf. Obwohl es durchaus Aspekte gab, die sie daran nicht mochte – dazu gehörte vor allem die gelegentliche Konfrontation mit den Leichen vermisster Personen –, liebte Anja ihre Arbeit. Sie konnte ihr viele positive Aspekte abgewinnen, denn oftmals gelang es ihr, Menschen aufzuspüren, die in einer Notlage waren. Dagmar hingegen sah im Beruf des Polizisten nur das Schlechte, was womöglich vor allem daran lag, dass sie früher mit einem verheiratet gewesen war.
Als Anja vor zwei Tagen mit ihrer Mutter telefoniert hatte, hatten sie auch über Tanja, die Tochter ihrer Tante Mia, gesprochen. Die beiden Cousinen waren zusammen aufgewachsen und standen sich mangels Geschwistern so nahe, als wären sie leibliche Schwestern. Vor einigen Monaten war bei Tanja Brustkrebs diagnostiziert worden. Sie war daraufhin ins Visier des Apokalypse-Killers geraten, der es auf todkranke Frauen abgesehen hatte, und von ihm entführt worden. Am Ende war es Anja jedoch gelungen, ihre Cousine zu retten. Tanja hatte inzwischen eine Chemotherapie hinter sich, und es sah ganz danach aus, als wäre der Krebs besiegt worden. Ob es tatsächlich so war, würde erst die Zukunft zeigen; doch alle waren optimistisch und freuten sich riesig darüber.
Während sie Baumgartner davon erzählte, machte Anja sich gedanklich eine Notiz, Tanja anzurufen, sobald die Selbstmord-Challenge abgeschlossen war. Sie wollte sich mit ihrer Cousine wieder einmal zum Essen verabreden, was längst überfällig war.
Beim Gedanken an die Challenge sah sie auf die Uhr und stellte fest, dass es kurz vor acht und somit höchste Zeit war, Nemesis einen erfundenen Bericht über die Songs zu schicken.
Baumgartner runzelte missbilligend die Stirn, als sie ihr Smartphone herausholte.
»Tut mir leid, aber ich muss Nemesis eine Mail schreiben«, erklärte Anja.
Er nickte. »Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen.« Er schien ihre Entscheidung, die Sache nicht abzubrechen, sondern auch die nächsten Aufgaben zu erledigen, inzwischen akzeptiert zu haben, denn er unternahm keinen weiteren Versuch, es ihr auszureden.
Anja schrieb eine Nachricht, die ihrem Bericht nach dem Ausflug auf das Hochhausdach ähnelte. Darin schilderte sie ihre angeblichen Gefühle beim Anhören der fünf Lieder, die sich alle mit Tod und teilweise sogar in aller Deutlichkeit mit Selbstmord