TODESJAGD. Eberhard Weidner

TODESJAGD - Eberhard Weidner


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      Es kann doch nicht so lange dauern, einen Todesengel zu zeichnen.

      Schreib mir bitte umgehend zurück!

      »Darauf kannst du lange warten, Arschloch«, sagte Anja und widmete sich einer anderen Vermisstenakte.

      Nach zehn weiteren Minuten traf die nächste Mail von Nemesis ein.

      Laura? Was ist los mit dir?

      Ich hoffe, ich hab dich mit meiner schroffen Art nicht vor den Kopf gestoßen. Aber es ist unbedingt notwendig, dass die Teilnehmer der »Suicide-Challenge« die ihnen gestellten Aufgaben erfüllen, ohne sie ständig zu hinterfragen. Anders funktioniert die Challenge nicht.

      Bitte melde dich.

      »Na schön«, sagte Anja und seufzte. »Dann will ich dir den Gefallen mal tun.«

      Sie formulierte eine Antwort und schickte sie weg.

      Tut mir leid, Nemesis, aber ich konnte nicht früher antworten. Ich habe geweint, denn ich bin traurig und verwirrt. Warum darf ich keine Fragen stellen? Ich dachte, du bist mein Ansprechpartner, den ich alles fragen kann. Ich möchte doch nur wissen, mit wem ich es zu tun habe. Schließlich weißt du ja auch, wer ich bin. Es würde mir ja schon reichen, wenn du mir schreibst, wie alt du bist, ob du männlich oder weiblich bist und welche Farbe deine Haare haben. Danach tue ich alles, was du mir sagst, ohne dämliche Fragen zu stellen. Versprochen!

      Nemesis’ Reaktion erfolgte prompt.

      Na schön, Laura. Dann werde ich dir eben mitteilen, was du wissen willst. Aber danach ist Schluss, und du musst tun, was ich dir geschrieben habe. Wir haben nicht mehr viel Zeit, bevor die vierte Aufgabe an der Reihe ist.

      Also. Ich bin weiblich und 20 Jahre alt. Meine Haarfarbe ist ein rötliches Kastanienbraun.

      Endlich zufrieden?

      Dann beeil dich jetzt bitte und erledige Aufgabe Nummer 3, bevor ich es bereue, gegen die Regeln verstoßen zu haben.

      Anja notierte sich die Angaben. Natürlich konnte Nemesis gelogen haben, aber dieses Risiko musste sie eingehen. Sie nahm sich ein Blatt Druckerpapier und zeichnete mit dem Folienstift die Umrisslinie eines engelsartigen Wesens mit riesigen Flügeln, Hörnern und einem Teufelsschwanz. Anschließend malte sie den Umriss schwarz aus. Sie machte ein Foto, schickte es erneut zuerst an Lauras Account und dann als Anhang einer Mail an Nemesis.

      Danke, dass du meine Fragen beantwortet hast, mein lieber Todesengel. Jetzt habe ich schon viel, viel mehr Vertrauen in dich. Ich bin gespannt, was als Nächstes auf mich zukommt.

      Anja seufzte. Die Selbstmord-Challenge und der Schriftwechsel mit Nemesis nahmen viel zu viel Zeit in Anspruch. Sie hielt es aber für notwendig, den Kontakt aufrechtzuerhalten, denn gegebenenfalls kam sie auf diesem Weg an die Hintermänner des Clubs heran.

      Sie bearbeitete zwei weitere Akten; in diesen Fällen hatte sich allerdings nichts Neues ergeben. Dann war es auch schon wieder Zeit für die nächste Aufgabe.

      Anja öffnete Nemesis’ Mail und las:

      Jetzt wird es allmählich Zeit für die erste richtige Herausforderung.

      Hier ist deine 4. Challenge: Geh auf das Dach eines hohen Gebäudes. Je höher, desto besser! Stell dich direkt an den Rand oder ans Geländer. Blicke mindestens zehn Minuten lang in den Abgrund. Mach ein Foto und maile es mir.

      Anja sah auf die Uhr. Es war Zeit, für heute Feierabend zu machen. Wegen dieser blöden Challenge kam sie ohnehin zu kaum etwas anderem. Außerdem war sie am Abend noch zum Essen verabredet.

      Sie schaltete ihren Computer aus und klappte den Laptop des vermissten Studenten zu. Bevor sie in die Tiefgarage zu ihrem Wagen ging, wollte sie noch rasch dafür sorgen, dass das Gerät zu David Mollberger bei Cybercrime gebracht wurde.

      Während sie ihre Lederjacke anzog, überlegte sie, auf welches hohe Gebäude sie steigen sollte, um dort die nächste Aufgabe hinter sich zu bringen.

      5

      Nachdem sie in ihrem weißen MINI Cooper die Tiefgarage des Dienstgebäudes verlassen hatte, fuhr sie ohne Umwege zu dem Hochhaus im Stadtteil Moosach, dessen Adresse sie bei ihrer Anmeldung im Club der toten Gesichter angegeben hatte.

      Anfangs hatte sie für ihre nächste Challenge noch an eines der höchsten Gebäude der Stadt gedacht; schließlich hatte Nemesis geschrieben: je höher, desto besser. Doch bei vielen dieser Häuser waren die Dächer nicht oder nur schwer zugänglich. Beispielsweise beim Hochhaus Uptown, das ebenfalls in Moosach stand und mit 146 Metern das höchste Gebäude der Stadt war. Oder bei den Highlight Towers in Schwabing-Freimann, die mit 126 und 113 Metern die Plätze zwei und vier belegten.

      Abgesehen davon fand sie es passend, ausgerechnet das Dach des Wohnhauses aufzusuchen, in dem sie angeblich wohnte. Falls es den Leuten, die hinter dem Selbstmordclub steckten, aufgrund ihres Fotos gelang, das Gebäude zu identifizieren, würden sie wenigstens nicht stutzig werden. Schließlich war es für ein vierzehnjähriges Mädchen naheliegend und am einfachsten, das Dach des Hauses aufzusuchen, in dem es wohnte.

      Von früheren Besuchen bei ihrer ehemaligen Schulfreundin, die mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder in der 18. Etage gewohnt hatte, wusste sie noch genau, in welcher der Erdgeschosswohnungen sie den Hausmeister finden konnte. Der gedrungen wirkende, glatzköpfige Mann, der ihr die Tür öffnete, war nicht erfreut, dass sie ihn um diese Uhrzeit störte, denn er saß mit seiner Frau und seinen drei Kindern beim Abendessen. Doch mithilfe ihres Dienstausweises und einer kleinen Notlüge, vor allem aber dank eines diskret angebotenen Geldscheins, um ihn für seine Mühe zu entschädigen, gelang es ihr erstaunlich leicht und rasch, den Hausmeister zu besänftigen. Außerdem konnte sie ihn auf diese Weise auch dazu überreden, ihr den Schlüssel zu geben, der ihr Zutritt zum Dach des über 70 Meter hohen Gebäudes gewährte.

      Als sie das Treppenhaus verließ und aufs Dach trat, gönnte sie sich zunächst einen ausgiebigen Rundumblick, denn allzu oft sah sie die Stadt nicht aus dieser Perspektive. Die Aussicht von hier oben war eindrucksvoll. Es wehte zwar ein leichter Wind, der in Anjas ohnehin arg zerzaustem Haar wühlte und an ihrer Kleidung zerrte, doch er war nicht so kräftig, dass sie Gefahr lief, vom Dach geweht zu werden.

      Schließlich ging sie über den moosbedeckten, leicht rutschigen Kiesbelag, der den größten Teil des Daches bedeckte, zum Rand. Ein hüfthohes Geländer sollte vermutlich verhindern, dass jemand versehentlich vom Gebäude fiel. Unmittelbar davor blieb sie stehen und legte die rechte Hand darauf. Erst dann senkte sie den Blick und sah in die Tiefe. Wie bereits auf der Fahrt hierher ging ihr dabei wie ein besonders nervtötender Ohrwurm die Melodie von »Gloomy Sunday« durch den Kopf.

      Von hier oben wirkte das Gebäude sogar noch höher als zuvor von unten. Die Autos und Fußgänger sahen aus wie Bestandteile einer Modelleisenbahn.

      Anja wollte nur schnell das Beweisfoto für Nemesis machen und sofort wieder verschwinden. Doch dann zog sie der Anblick in seinen Bann, sodass sie nicht mehr in der Lage war, sich zu bewegen oder einen Muskel zu rühren.

      Sie erschauderte sosehr, dass sie am ganzen Körper erzitterte.

      Zunächst hatte der Abgrund vor ihr beängstigend und gefährlich auf sie gewirkt. Doch je länger sie in die Tiefe starrte, desto vertrauter und harmloser wurde der Anblick für sie. Beinahe erschien es ihr, als wollte der Abgrund sie zu sich locken. Es war ein ganz ähnliches Gefühl wie das, das sie bis vor ein paar Monaten immer gehabt hatte. Damals hatte sie nach ihren ständig wiederkehrenden Albträumen im Badezimmer ihrer Wohnung wie hypnotisiert auf die Schachtel mit den Schlaftabletten gestarrt, die ihr einen einfachen und schnellen Ausweg aus ihrer Misere versprochen hatten. Auch jetzt vermeinte sie wieder, den Lockruf des Abgrunds zu spüren, nur dass es diesmal nicht nur der sinnbildliche Abgrund jenseits des Todes, sondern die sehr reale und tödliche Tiefe rund um ein Hochhausdach war.

      Während


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